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"Misstrauen in Russland, Hybris im Westen"

Sieht den Westen "gerne auf Sendung – und selten auf Empfang": Antje Vollmer. Bild: Markus Nowak

Antje Vollmer über den Moskau-Besuch von Olaf Scholz, hysterische Medien und Wege zu einer notwendigen gesamteuropäischen Friedensordnung

Antje Vollmer ist Pfarrerin und Pädagogin. Sie ist zudem als Publizistin tätig und wurde als Bundespolitikerin bekannt. 1983 gehörte sie der ersten Grünen-Bundestagsfraktion an und war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

Frau Vollmer, glaubten Sie zu Beginn dieser Woche daran – wovor die US-Regierung gewarnt hat –, dass eine russische Invasion in der Ukraine bevorsteht und ein neuer Krieg in Europa beginnt? Wie sehen Sie nach dem Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Chancen für einen Dialog, der von beiden heute Nachmittag in Moskau ja versprochen wurde?
Antje Vollmer: Zum Beginn eines echten und neuen Dialogs gab es für keine Seite je eine wirkliche Alternative. Einen möglichen Einmarsch der Russen in die Ukraine habe ich nicht erwartet. Alle Kriterien rationaler Vernunft sprachen dagegen.
Die Russen hätten bei einem Einmarsch in die Ukraine viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Jeder weiß doch, dass sie eigentlich Verhandlungen erreichen wollen, die auch auf ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse Rücksicht nehmen. Solche Verhandlungen würden durch eine Intervention in weite Ferne rücken.
Wesentliche Vertreter der russischen Führung haben deswegen auch erklärt, dass es keinen Einmarsch geben wird und dass es sich um eine hysterische Berichterstattung westlicher Geheimdienste in propagandistischer Absicht handelt …
… was ja selbst von ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kritisiert worden ist.
Antje Vollmer: Er bewahrt, ebenso wie die ukrainische Bevölkerung, die Ruhe und rechnet offenbar nicht mit einem unmittelbar bevorstehenden Überfall durch die Russen. Das spricht doch dafür, dass die Ukrainer eine Einstellung haben, in der das Verhältnis zu den Russen nicht als eine Art "Erbfeindschaft" bewertet wird.
Trotzdem ist eine hochbrisante Situation, in der die Erregungen, auch durch die internationalen Medien, auf die Spitze getrieben werden, immer gefährlich. Da können auch provokative Aktionen einzelner Akteure das Pulverfass plötzlich entzünden. Insofern war die Gesamtatmosphäre zwischen Russland und dem Westen bis zuletzt besorgniserregend.
Inmitten dieser Situation war Bundeskanzler Olaf Scholz am gestrigen Montag in Kiew und hat heute mehrstündige Gespräche in Moskau geführt. Was kann er mittelfristig erreichen?
Antje Vollmer: Ich sehe erst mal etwas, das es nicht zum ersten Mal in der Geschichte gibt: Wenn es in Deutschland eine neue Regierung gibt – das war einst die sozialliberale Regierung oder die rot-grüne Regierung oder jetzt die Ampel – dann kommt diese unmittelbar unter verstärkten Druck von US-amerikanischer Seite, die per se an ihrer Bündnistreue zweifelt.
Es gab dieses Misstrauen aus Washington schon gegen die Regierung Brandt-Scheel, es gab dieses Misstrauen in massiver Weise bei der Regierung Schröder-Fischer mit der Kosovo-Krise und es gibt dieses Misstrauen auch jetzt wieder.
Das heißt, die US-Seite verlangt von der deutschen Seite jetzt größere Demonstrationen der Bündnisloyalität als man sie gegenüber konservativen Regierungen einfordern würde.
Die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach seiner Wiederwahl Anfang der Woche zeigt mir, dass die SPD für solchen Druck immer noch empfänglich ist.

Wie Deutschland an Einfluss eingebüßt hat

Aber spielt Deutschland überhaupt noch eine Rolle? Zuletzt haben Moskau und Washington über die Köpfe der Europäer hinweg gesprochen.
Antje Vollmer: Man kann sich das mit Recht fragen. Vor allem, wenn ich zurückdenke, welche unglaubliche Einflussmöglichkeit auf die ehemalige Sowjetunion und sogar auf das China der Jahrtausendwende Deutschland noch unter der rot-grünen Regierung einst hatte. Ohne diesen Einfluss hätte es damals das Nein zum Irak-Krieg so nicht gegeben.
Damals wurden jede Menge bilateraler Gremien geschaffen, etwa der Petersburger Dialog, das Deutsch-russische Rohstoff-Forum, der Nato-Russland-Rat, Städtepartnerschaften etc. Es gab sogar einen Einfluss auf Regierungshandeln, weil wir überall gerne gesehen waren als Berater für verschiedene Gesetzgebungsprozesse der noch unsicheren neuen Rechtsstaaten mit Reformabsicht. Es gab nicht nur sehr intensive Wirtschaftsbeziehungen, es gab einen Einfluss auf die Systementwicklung.
Von dieser Ausgangsposition des Jahres 2005 und ihren besonderen Möglichkeiten haben wir uns in der ganzen Ära Merkel sehr weit entfernt. Wir haben uns einem transatlantischen Über-Ich angenähert und haben die Chancen, die eine vermittelnde Position zum Osten innehatte, vertan.
Ich glaube nicht, dass das nach so vielen Jahren der Irritation und der Kränkung so leicht wieder rückgängig zu machen ist. Letztlich wartet Putin immer noch auf eine deutsche Antwort auf seine Rede im Jahr 2001 im Bundestag oder auf seine Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007.
Er wartet ja nicht nur auf diese Antworten, sondern auch auf Reaktionen auf seine jüngsten Vorschläge bezüglich Sicherheitsgarantien an die Nato und die USA. Nun sprechen sich viele deutsche und europäische Akteure für mehr Dialog aus, gehen auf Ideen aus Moskau aber kaum ein. Wie passt das zusammen?
Antje Vollmer: Wenn man einen Neuanfang will, und das werden wir nach diesem Besuch von Olaf Scholz in Moskau vielleicht etwas deutlicher sehen, dann müssen wir, glaube ich, zunächst einmal selbstkritisch anerkennen, dass dieser Dialog bisher nicht stattgefunden hat.
Alle diese Gremien zum Dialog – auch das Normandie-Format, das Weimarer Dreieck, der Nato-Russland-Rat –, die haben alle die letzten drei bis elf Jahre nicht getagt. Das bedeutet, dass die Russen sehr dialogentwöhnt sind. Und wir sind es umgekehrt auch. Wir sind gerne auf Sendung – und selten auf Empfang.
Also ist die Frage: Wie kann man überhaupt einen Neuanfang hinbekommen? Persönlich hätte ich mir gewünscht, dass Scholz und Macron gemeinsam nach Moskau fahren. Das hätte die europäische Verantwortung für eine politische Lösung betont.
Sie haben im Januar eine Erklärung zur Lage um die Ukraine mitunterzeichnet, die eindringlich für eine nachhaltige politische Lösung geworben hat. Seither ist die Situation weiter eskaliert. Sind sich deutsche Politiker der geopolitischen Tragweite dieses Konfliktes bewusst?
Antje Vollmer: Eigentlich habe ich schon im Jahr 2014 – damals gemeinsam mit dem früheren Kanzlerberater Horst Teltschik und dem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle, also überparteilich – einen Aufruf lanciert, der damals sehr prominent unterschrieben wurde, unter anderem von Roman Herzog, H J Vogel, Erhard Eppler, Burkhard Hirsch, Norbert Blüm sowie vielen Künstlern, Intellektuellen und Kirchenvertretern. Das Problem des Friedens im Osten Europas ist ja schon lange akut, auch um Zusammenhang mit den Ereignissen und Versäumnissen, die um die Maidan- Ereignisse herum stattgefunden haben.
Das Kernproblem unserer Zukunft ist: Wollen wir wirklich zulassen – und das deutet sich ja gerade an –, dass es geopolitisch zu einem neuen, verschärften Kalten Krieg mit fester Blockformation kommt? Dieses Mal nicht mehr zwischen dem Westen und der Sowjetunion, sondern zwischen dem Westen, der Nato auf der einen Seite und möglicherweise einer Blockformation aus Russland und China auf der anderen Seite? Russland geriete in eine solche Konstellation aber nur deswegen, weil der Westen ihm keinen angemessenen Platz in Europa angeboten hat.

Bei neuem Kalten Krieg: Wer würde zum Westen halten?

Im hiesigen politisch-medialen Diskurs kommt ein mögliches Bündnis zwischen Moskau und Beijing kaum vor. Der Rest von Asien, Afrika und Lateinamerika gar nicht. Sind all diese Regionen und Staaten irrelevant?
Antje Vollmer: Die Frage nach diesen Staaten hängt letztlich mit der Frage zusammen, ob der Westen eine eigene Vision zur Überwindung dieser neuen Blockbildung hat. Denn wenn es zu dieser Blockbildung käme und wir die Weltkarte ansehen, dann hätte die Nato durch die neu hinzugekommenen Staaten Ost- und Mitteleuropas zwar große Geländegewinne auf dem euroasiatischen Kontinent gemacht.
Aber wenn die übrige Welt entscheiden soll, in welcher Formation sie sich besser aufgehoben fühlt, dann habe ich große Zweifel, dass Afrika, dass die leidtragenden Staaten der katastrophalen westlichen Nahostpolitik, dass Asien oder Lateinamerika wirklich mit vollen Segeln auf die Seite des Westens wechseln würden.
Wenn ich mir also diese Perspektive überlege, dann finde ich alles, über das wir uns derzeit aufregen von tagespolitischer Kurzsichtigkeit geprägt. Irgendwann muss es aber eine Vision von einer anderen Formation und Friedensordnung für die Welt geben.
Man kann dabei den großen Antagonismus zwischen den USA und China nicht ausblenden. Aber man bräuchte schon so etwas wie eine Wiederbelebung der Möglichkeit von Blockfreiheit oder auch einen vermittelnden Akteur, also dialogfähige Mittlerstaaten zwischen den antagonistischen Polen.
Wäre das nicht eine gute Rolle für Europa? Die ergibt sich aus der Geschichte unserer Kriege, aus unserer geografischen Lage. Wir sind mit all unserer Verwundbarkeit auf Frieden angewiesen. Deswegen ist meine Frage: Wer arbeitet eigentlich noch an einer Friedensvision? Und zwar anstelle von Abschreckungs- und Sanktionsmodellen, die doch meist präpotent sind.
Vieles von dem, was gerade in den Medien geschieht, ist stark von Emotion und Erregung geprägt und spiegelt den Geist unendlicher westlicher Überlegenheitsphantasien. Wer aber baut nach all der Selbstberauschung wieder die Brücken, über die beide Seiten danach zusammenkommen können, um endlich über die realpolitischen Möglichkeiten zu reden?
Eine solche Friedensvision ist schon einmal, vor gut drei Jahrzehnten, von Michael Gorbatschow formuliert worden, der von dem "gemeinsamen Haus Europa" gesprochen hat. Wenn wir uns dieses europäische Haus heute ansehen, Frau Vollmer: Kann es noch renoviert werden oder muss es abgerissen und neuerrichtet werden?
Antje Vollmer: Ich bin im Augenblick für knallharte Nüchternheit. Und zu dieser Nüchternheit gehört auch, dass wir uns bewusst machen, in welchem Maße wir heute mit den alten, schönen Visionen derzeit in Russland auf Misstrauen und im Westen auf Hybris stoßen.
Leider können wir da nicht einfach den KSZE-Prozess neu beleben. Ich plädiere dafür, dass der Westen seine Erfolge, aber auch seine dramatischen Misserfolge analysiert und dabei ein kleines bisschen von seinem hohen Ross herabsteigt.
Am Ende könnte dann stehen: Wir haben alle Enttäuschungen überwunden, wir haben aber auch alle Omnipotenzphantasien hinter uns gelassen und versuchen nun in einer durch diese Erfahrung klüger gewordenen Welt vernünftige Friedenskompromisse zu schließen.
In diesem Zusammenhang stehen die Verhandlungen über Abrüstung und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur ganz oben auf der Agenda. Dafür muss man dann allerdings auch die US-Regierung gewinnen. Und das wäre ein echtes diplomatisches Meisterstück.

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