Mobilisierung der Aufmerksamkeit

Seite 4: Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien

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Massenmedien vertreiben, wie jedes Medium, Informationen, deren erstes Merkmal die Neuheit oder irgendeine Überschreitung des Gewohnten und Normalen ist. Medien mobilisieren die Aufmerksamkeit, versuchen sie permanent zu binden und im Alarmzustand zu halten, aber sie haben auch in einer Welt aus Gesellschaften, Gruppen und Individuen, die sich immer weiter ausdifferenzieren, die Funktion, durch die Darbietung und aufmerksamkeitsgerechten Stilisierung von Themen eine gemeinsame Hintergrundwirklichkeit zu schaffen: eine bekannte Wirklichkeit, die in der Kommunikation und Interaktion mit anderen stillschweigend vorausgesetzt werden kann.

Aber diese Wirklichkeit ist durch Mechanismen der Informationsgewinnung und -darstellung ständig im Fluß und sie gewährt keineswegs ein konsistentes Weltbild, denn der Konflikt, die Abweichung oder das Ungewisse sind deren aufmerksamkeitserheischenden Ingredenzien. Aufmerksamkeit verlangt nicht Wahrheit, sondern Ereignisse oder Themen, die sich kraft ihres Sensationswertes durchsetzen. Deren Bewertung mitsamt der Kohärenz des Themas mit anderen Bereichen der Wirklichkeit ist lediglich ein spezifisches Thema - die keineswegs konsenserheischende und dem Konsens verpflichtete Meinung. Daher fördern Medien durch die Schaffung von Information, d.h. durch das fortwährende Bestätigen des "Bekanntseins des Bekanntseins", die Beschleunigung der Kommunikation, die Intensivierung der Erwartung an eine Montage der Attraktionen und die Fragmentarisierung der Welt, deren einziger Zusammenhalt im medialen Format und Zeitrhythmus liegt, kurz: im Bemühen, Kommunikation an Kommunikation bruchlos, aber durch eine Kette von Diskontinuitäten anzuschließen.

Doch auch die Zeit der wirklichen Massenmedien hat durch die immer weiter voranschreitende Ausdifferenzierung des Aufmerksamkeitsmarktes und der auf ein bestimmtes Zielpublikum zugeschnittenen Medien bereits ihren Höhepunkt durchschritten. Der Zerfall des (nationalen) Broadcasting zum (globalen) Microcasting läßt auch eine gemeinsame Öffentlichkeit erodieren, die sowieso kaum mehr geopolitisch verankert ist. Gelegentlich freilich tauchen Themen plötzlich auf, die wieder eine Öffentlichkeit und eine gemeinsame Realität schaffen - manchmal weltweit, manchmal nur beschränkt auf bestimmte Regionen: der Golfkrieg, Bosnien, Ruanda, die Bohrinsel von Shell, die französischen Nukleartests, die Rinderseuche, die Krise der Arbeit und des Wohlfahrtsstaates, das Internet ... Medien konstruieren nicht mehr Wirklichkeit, sie werden gewissermaßen von ihr überrollt, weil solche Ereignisse gleichzeitig immer auf das mediale Aufmerksamkeitssystem zugeschnitten sind und dieses so erregen, wie bestimmte Formen oder Ereignisse das individuelle Aufmerksamkeitssystem. Auf der anderen Seite entfalten solche Themen eine solche Intensität, daß sie bald wieder verschwunden und von neuen ersetzt werden, auch wenn diese nicht die gleiche "Qualität" besitzen. Aus diesem Grund mag man kaum an die gegenwärtig modische Theorie der Meme glauben, zumindest nicht, was Themen innerhalb von Medien angeht. ihre Ablagerung im Gedächtnis führt gerade nicht zur Reproduktion, sondern zur Vernachlässigung. Nicht Konstanz ist primär, sondern die Mutation. Beibehalten wird das Schema, nicht eine konkrete Gestalt, die sich allmählich wandelt.

Die wesentliche Schranke für eine globale Vereinheitlichung der Infosphäre bildet noch die Sprache, die oft nur aus ökonomischen Gründen lokale Informationsinseln bewahrt. Es bilden sich immer mehr Nischenthemen heraus, die exakt der gleichen Logik der medialen Aufbereitung folgen und so nur noch gruppenspezifische, am Ende vielleicht nur auf einzelne bezogene Informationen bereitstellen. Massenmedien sind wie industrielle Massenproduktion und Massenverkehrsmittel, vielleicht auch wie große Kollektive in der Form von Staaten und Nationen an ihr Ende angelangt. Die entstehende Individualisierung und Tribalisierung, vorweisend auf vernetzte und interaktive Medien, ist freilich keine totale, denn sie findet in einem Rahmen statt, der technisch etwa durch die Infrastruktur oder weltweit verbreitete Programme, organisatorisch durch multinationale Konzerne umrissen wird. Der große Mangel an Luhmanns Buch ist die völlige Ausklammerung der Frage, was aus dem Zerfall der Massenmedien mit ihrer technischen Verhinderung der Interaktion entsteht. Auch die Soziologie scheint, wenn sie denn eine konsistente Theorie im Zeitalter der Medien auszuarbeiten sucht, wie die Philosophie ihre Welt erst dann zu erfassen, wenn sie bereits untergegangen ist.

Die Präferenz der Medien für Information, also für Neuigkeit und Überraschung, sediert sich in einer Erwartungshaltung der Konsumenten, eben dies nicht nur von den Medien geboten zu bekommen, sondern auch im Alltag zu finden. Stabilität, Bindung und Dauer sind damit unverträglich. Ebenso wie die Medien durch ihre gesteigerte Irritationsbereitschaft und die Notwendigkeit, permanent Irritationen zu erzeugen, von einer Information zur nächsten jagen, zappen die Zuschauer durch die Programme und durch die Lebenswelt oder durch Beziehungen. Insofern erscheint es verkürzt, wenn Luhmann sagt, daß die Steigerung der Irritabilität auf dem Hintergrund einer abgesunkenen Wirklichkeit, die erst die Erfahrung des Neuen ermöglicht, einzig von den Massenmedien jeden Tag erwartet würde. "Nur so", sagt Luhmann, "ist es möglich, die moderne Gesellschaft in ihrem Kommunikationsvollzug endogen unruhig einzurichten wie ein Gehirn und sie damit an einer allzu starken Bindung an etablierte Strukturen zu hindern." Schließlich verändern sich auch die Gehirne und ihre Erwartung an aufmerksamkeitsmobilisierende Irritationen durch Kopplung an die Medien. Räumt man dies ein, so wird der Ansatz der Luhmannschen Systemtheorie schief, jeweils von der Autonomie eines autopoietischen Systems auszugehen, das seine Umwelt selbst konstruiert.

Am Ende räsonniert Luhmann darüber, wie es möglich sei, "Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden." Wie also kann man, wenn man weiß, daß Realität konstruiert wird und abhängig vom Beobachter ist, etwas noch als wirkliches akzeptieren? Das ist sicher ein Problem des Konstruktivismus, der sich an der Ontologie - oder im Fall der Massenmedien: an der Wahrheit - abarbeitet. Für einen Pragmatisten würde sich dieses Problem nicht stellen. Gleichwohl mag die immer stärkere Abhängigkeit des Weltbildes von den Informationsfluten und Ungewißheiten der Medien gleichzeitig die Erwartung an Spektakel steigern - und eines der überzeugendsten Spektakel ist das einer authentisch erfahrenen Wirklichkeit - und zur Abschließung führen, also seine Meinung nicht mehr der Diskussion auszusetzen und durch nichts mehr irritieren zu lassen: eine Wiedergeburt des Fundamentalismus, aber aus der Warte zynischer Abgeklärtheit im Durchgang durch alle Paradoxien. Man schließt sich gewissermaßen in der eigenen Meinung ein, weil alles, wie die Massenmedien uns nach Luhmann lehren, sowieso nur eine Projektion und "Realität ohnehin nicht mehr konsenspflichtig ist."

Niklas Luhman: Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag 1996. 219 Seiten. DM 24,80.-