Moderne Zeiten, alte Probleme: Der Gendatenschutz
Die rechtlichen und privaten Folgen der Genomforschung sind noch ungeklärt
Bei Genforschung denkt man oft an die Gefahren der Genmanipulation. Doch schon die reine Erforschung des Genoms hat ihre Tücken
Das Interesse an der genetischen Struktur des Menschen und deren Auswirkungen ist groß. Die moderne Pharmakologie baut zunehmend auf eine öffentliche Datenbasis, die DNA-Sequenzen und ihre Variationen in ihre Überlegungen einbezieht. Überraschend ist allerdings die Erkenntnis, dass nur etwa 0,1 Prozent von den 3,2 Milliarden DNA-Sequenzen bei Nicht-Verwandten verschieden sind. Der gerichtsmedizinische Beweis begründet sich auf 13 bis 15 Stellen des Genoms. Ferner enthalten die Einzelnukleotidpolymorphismen (SNPs, single nucleotide polymorphisms) alle Informationen über die Individuen. Das bedeutet: Wer die genetischen Daten kennt, kann über leicht zugängliche Hilfsmittel die betroffene Person identifizieren. Somit sind Genotyp, Phänotyp und andere Daten relativ einfach verfügbar.
Der Tausch von Daten oder die Verrauschung bieten keinen Schutz, und auch das Zusammenfassen in Gruppen kann die Zuordnung nicht auflösen. Denn entweder sind die Informationen lesbar, oder die Daten verlieren ihre Bedeutung, weil sie nicht mehr eingeordnet werden können. Das ist das Ergebnis der Arbeit von Lin, Owen und Altman, wie es vom Department of Genetics der Stanford Universität gerade in Science publiziert wird.
Bis keine verwertbare Verschlüsselung eingesetzt werden kann, bleibt nach Ansicht der Autoren nur die Möglichkeit, auf eine "Pharmacogenetics and Pharmacogenomics Knowledge Base" zuzugreifen. Diese Datenbank speichert alle Informationen und überwacht den Zugriff auf die Daten, indem jede Anfrage begründet werden muss und gegebenenfalls ein Audit, eine Art Prüfung, nach sich zieht.
"Üblicherweise glauben die Menschen, dass ihre Analysen anonym verarbeitet werden. In Wirklichkeit identifiziert der DNA-Kode die Analyse und gibt ihre Quelle preis", erklärt Zehn Lin. "Jede Person hat zwar etwa 5 Millionen Antworten, das statistische Modell belegt jedoch, dass nur etwa 100 Stellen relevant sind, um eine Person exakt zu identifizieren."
Island und Estland sind abschreckende Beispiele
Die Erkenntnis kommt ziemlich überraschend. Weder in Island noch in Estland wurde daran gedacht. Hier sind die Genetiker längst mit den Analysen beschäftigt.
Island, das bedeutet 280.000 Bürger, die sich gentechnologisch untersuchen ließen, und deCODE sowie Hoffmann-La Roche für 12 Jahre das Recht auf die Auswertung dieser Daten einräumten. Da bereits viele Familien auf die verschiedensten Arten untersucht waren, erzeugte die Einbeziehung gentechnologischer Verfahren keine prinzipiellen Widerstände. Die Bevölkerung ist überschaubar, ihr Lebensstandard hoch und die Frage nach dem Nutzen für den Einzelnen steht nicht im Vordergrund. (Ruth Chadwick: The Icelandic database - do modern times need modern sagas?)
In Estland sind die Verhältnisse schwieriger. Von 1,4 Millionen Einwohnern sind etwa 65 Prozent Esten und 28 Prozent Russen. Wenn die Vorversuche an 10.000 Personen erfolgreich verlaufen, müssen innerhalb von fünf Jahren die Tests bei den übrigen Personen angeschlossen werden. Im Unterschied zu Island werden die Daten in Estland nicht anonymisiert. Folglich kann jeder Teilnehmer, wenn er seine Einverständniserklärung zurückzieht, wieder ausscheiden und seine Daten vernichten lassen. "Wichtige Lehren aus dem isländischen Vorhaben wurden gezogen, weil in Estland jeder Bürger mitbekommt, was mit seinen Daten geschieht", sagte Bartha Maria Knoppers von der Universität Montreal, die zugleich Vorsitzende vom Human Genome Organization's International Ethics Committee ist. Ferner bleibt die Analytik im Land, weil der Staat keine Ausfuhr des Blutes der Probanden erlaubt. Insofern hofft das Land auf einen wichtigen Schub in der Biotechnologie. (Lone Frank: Estonia Prepares for National DNA Database)
Wo stehen wir in Deutschland?
In Deutschland steht die gesetzliche Regelung der Genanalyse noch aus. Doch bereits das geltende Recht macht die folgenden Einschränkungen: Zur Durchführung bedarf es der "Zustimmung des Betroffenen nach Aufklärung". Die Aufklärung muss insbesondere die Reichweite der Ausforschung und die möglichen psychischen Folgen einschließen. Ferner kann die Einwilligung von jeder Person jederzeit und ohne Grund zurückgenommen werden. (Erwin Deutsch: Medizinrecht, Springer Verlag).
Der Hinweis auf die "psychischen Folgen" ist von immenser Bedeutung. Was passiert, wenn durch einen Gentest herausgefunden wird, dass eine bestimmte Erkrankung vorliegt? Hierbei sind die Reaktion jedes Einzelnen unterschiedlich und können je nach Art der Krankheit verschieden sein. So mag die Vorstufe eines Diabetes noch hingenommen werden, eine potentielle Erkrankung an Morbus Huntington hingegen nicht mehr. Ob bei einer 22-jährigen mit BRCA1 die komplette Amputation beider Brüste angezeigt ist? Auch diese Frage kann nicht ohne spezielle ärztliche Beratung geklärt werden. Beim heutigen Wissensstand gibt es weit mehr Ergebnisse, die das Verhalten des Einzelnen beeinflussen können. Ganz abgesehen davon, dass häufig die unterschiedliche Bewertung durch verschiedene Wissenschaftler den Betroffenen über den wirklichen oder vermeintlichen Effekt im Unklaren lassen.
Doch die Genanalyse hat noch eine zweite Zielrichtung. Ob Krankenkasse oder Lebensversicherung: Für beide ist der genetische Fingerabdruck von aktuellem Interesse. Bei den Lebensversicherungen gehört der Nachweis des negativen HIV-Tests längst zur Selbstverständlichkeit. Sollte sich in absehbarer Zeit herausstellen, dass Diabetes, Morbus Alzheimer, Adipositas oder sonst eine Erkrankung durch einen Gentest wahrscheinlich gemacht werden kann, wird solch ein Test ebenso selbstverständlich sein wie der HIV-Test. Lebensversicherungen grenzen damit die potentiell Kranken aus, Krankenversicherungen erhöhen den Beitrag für solche, die irgendwann später an einer entscheidenden Erkrankung leiden. Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Genanalyse ausgeschlossen wird, ist diese Aussage lediglich von aktueller, nicht aber bleibender Bedeutung.
Die "Privacy Rule" macht den Unterschied
"Warum sich darüber aufregen? Versicherungen und manche Menschen sind eben daran interessiert", meint Zhen Lin sarkastisch. Er hat zusammen mit A.B.Owen und R.B.Altman nur einen Firewall geschaffen, der nichts mehr tut, als den Zugriff auf die Daten zu überwachen. Alle bisherigen Verfahren, die Identität im Datenmaterial zu verschweigen, löschen nach Ansicht der Autoren zugleich die notwendigen Informationen und machen die Datenbasis unbrauchbar. Andererseits könnten die Daten aus Island und aus Estland von jedem Genetiker und Interessierten gelesen werden.
In den USA hat die "Privacy Rule" vom April 2003 in der Vervollständigung des Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA) von 1996 ziemliche Unruhe ausgelöst (J.Kaiser: Privacy rule creates bottleneck for U.S.Biomedical Researchers). Jeder Zugriff auf die Proben und Daten eines Patienten muss jeweils erneut für eine Studie abgefragt werden. Die amerikanischen Forscher sind über solche Regelungen bestürzt und halten eine Vielzahl umfangreicher Untersuchungen für unmöglich: Warum reicht eine einmalige Erklärung nicht mehr aus? Stattdessen muss für jede neue Studie der Zugriff auf die Daten oder Proben eines Patienten von diesem Patienten jeweils erlaubt werden. Nicht der Wissenschaftler, sondern der Kranke entscheidet aktuell über seine Daten.
Wahrscheinlich hat das Gesetz erstmals den amerikanischen Wissenschaftler mit der Privatsphäre eines Kranken konfrontiert. Das Individuum mit seinen Rechten steht im Vordergrund und nicht mehr das Forschungsziel eines Professors.