Modi-Faschismus: Indiens unfairste Wahlen seiner Geschichte
Pressezensur, Opposition hinter Gittern. Das als "größte Demokratie der Welt" gepriesene Indien folgt der Autokratie-Logik. Ein Blick hinter die Fassade.
Delhi. Die Lok Sabha (Unterhaus-) Wahlen in Indien haben begonnen und werden sich bis zum 1. Juni hinziehen. Es geht um viel im seit 2023 bevölkerungsreichsten Land der Erde, das technologisch jüngst durch seine Mondlandung (als erst vierte Nation) überraschte und mit seinem BIP inzwischen auf den fünften Platz hinter China, USA, Deutschland und Japan vorrückte.
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Die Ignoranz westlicher Medien gegenüber indischer Innenpolitik steht also in keinem Verhältnis zur Bedeutung der aufstrebenden Großmacht Indien.
Personenkult, Cricket und der Rama-Tempel in Ayodhya
Premierminister Modi etablierte seit seinen Wahlsiegen von 2014 und 2019 einen wachsenden Personenkult, so Ramachandra Guha, Geschichtsprofessor in Andhra Pradesh. Modi nutze dafür Hinduismus, Sport und Justiz, zelebriere sich in der heiligen Pilgerstätte Ayodhya, benannte das größte Cricket-Stadion der Welt nach sich und ließ sich von einem amtierenden Richter des Obersten Gerichtshofes als "Visionär" und "Genie" preisen (Guha S.86).
Modi ist Führer der das Land dominierenden BJP (Bharatiya Janata Party), einer Partei mit faschistischen Wurzeln und ultranationalistischem Programm. Der starke Mann in Delhi hat deutlich mehr Oppositionspolitiker inhaftiert als z.B. Wladimir Putin, was im Westen aber kaum jemanden zu stören scheint. Auch Orbán oder Erdoğan hätte man solche Eingriffe in die Wahlen kaum ohne lautstarke Kritik durchgehen lassen.
Während viele Journalist:innen Indien weiterhin stereotyp als "größte Demokratie der Welt" preisen, sehen Menschenrechtler wie Ramachandra Guha es längst auf dem Weg in die Autokratie. Doch die Lage ist vielleicht weitaus schlimmer: Vieles erinnert inzwischen an die Jakarta-Methode im Indonesian Genocide 1964/65. Drohen gewaltsame Unruhen und Massenmorde an Minderheiten und politischen Gegnern?
Minderheiten werden drangsaliert
Minderheiten, besonders die ca. 200 Millionen Muslime Indiens, werden durch Modis Politik, etwa das Verbot von Kuh-Schlachtungen, zunehmend diskriminiert und terrorisiert, weitgehend unbemerkt von westlichen Medien. Löbliche Ausnahme sind Reportagen des Deutschlandfunks (DLF)über die Verfolgung oft muslimischer Bauern durch heilige Kühe verteidigende Hindus (z.B. Petersmann 2016).
Der DLF verzichtet jedoch weitgehend auf politische Hintergründe, konzentriert sich lieber auf die skurrile Verehrung von Kühen und das Leid der Familien von Mordopfern.
Aufschlussreicher berichtete Hannah Ellis-Petersen für den Guardian aus Delhi, die Unterdrückung Modis gegen Oppositionelle scheine zuzunehmen und die Wahlen 2024 könnten die unfairsten in der Geschichte Indiens werden.
Hauptgegner von Modi sind die Oppositionsparteien Aam Aadmi Party (AAP) und die Kongresspartei, die traditionell das Gandhi-Lager vertritt.
Eine Koalition aus 28 Oppositionsparteien, darunter Kongresspartei und AAP, schloss sich 2023 unter dem Akronym INDIA (Indian National Developement Inclusive Alliance) zusammen, um Modi und seiner immer mehr dominierenden BJP bei den Wahlen die Stirn zu bieten.
Doch Modi, der seine überwältigende Parlamentsmehrheit weiter ausbauen will, scheint dagegen auf Law-fare zu setzen, auf den Missbrauch der Justiz für seine Machtpolitik.
Finanzterrorismus und Erpressung durch "Korruptionsbekämpfer"
Der AAP-Spitzenpolitiker Arvind Kejriwal, einer der prominentesten Oppositionsführer des Landes, sitzt im Tihar-Gefängnis in Delhi, wo er zuvor zum lokalen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Schon knapp ein Jahr inhaftiert sind auch sein Ex-Vize Manish Sisodia und der Ex-Gesundheitsminister Satyendar Jain. Gerade erst am 2. April kam ein weiterer AAP-Minister, Sanjay Singh, nach sechs Monaten Haft auf Kaution frei – er musste dafür bis zum Obersten Gerichtshof klagen.
Die AAP sieht in der Verhaftungswelle wegen angeblicher Geldwäsche eine Justiz-Intrige von Modis BJP, um die konkurrierende AAP vor den Wahlen zu zerschlagen, so Hannah Ellis-Petersen im Guardian. Modi habe jede Beeinflussung der Justiz natürlich abgestritten, doch seine BJP habe weitere unfaire Methoden auf Lager.
Die Gegner Modis wurden auch dadurch geschwächt, dass immer mehr führende Oppositionspolitiker zur BJP überliefen. Nachdem sie von Modis Behörden überprüft worden waren, sollen seit 2014 laut einer aktuellen Untersuchung des Indian Express schon 23 prominente Politiker zu Modis BPJ übergetreten sein.
Gegen 25 Politiker wurde wegen Korruption ermittelt, nur in 23 Fällen wurde eine Begnadigung ausgesprochen – zufällig genau bei den Überläufern zu Modi. Die Kongresspartei bezeichne diese Methode als "BJP-Waschmaschine", zitiert der Guardian die Opposition.
Angesichts des Reichtums der BJP im Vergleich zu anderen Parteien stecke "eine starke Kombination aus Angst und Geld" hinter den Fahnenwechseln. Werden andere Parteien von Justiz- und Finanzbehörden diszipliniert, gewinnt Modi beim einfachen Volk Zulauf durch raffiniertes Nutzen der Hindu-Religion.
Modi als Vertreter Ramas – Religion als Machtpolitik
Die Stadt Ayodhya in Nordindien wird von Hindu-Nationalisten als Geburtsstätte des Gottes Rama gesehen, aber 1528 wurde dort vom ersten indischen Großmogul eine bedeutende Moschee errichtet, angeblich genau an der Geburtsstelle Ramas unter Zerstörung eines Hindu-Tempels.
Schon seit den 1980er-Jahren wurde aus BJP-Kreisen der Abriss dieser Moschee und die Errichtung eines Rama-Geburts-Tempels in Ayodhya gefordert, 1992 zerstörten Hindu-Fanatiker die Moschee. Im Januar 2024 weihte Modi höchstpersönlich den neuen Rama-Tempel ein, "flankiert von einer Phalanx singender Priester" (Guha S.90) – ein kluger Schachzug für den anstehenden Wahlkampf.
Die Pilgerstätte Ayodhya symbolisiert für Hindutva-Anhänger ein neues, segensreiches Zeitalter und steht zugleich für ein bestialisches Massaker an Muslimen 2002. Im Februar 2002 kam es im Bundesstaat Gujarat unter damals noch lokaler Bundesstaats-Regentschaft von Modi zu einem Brand in einem Zug mit Ayodhya-Pilgern.
60 Hindus starben, bezichtigt wurden ohne jeden Beweis die Muslime. Gujarat erlebte die schlimmsten Pogrome seit der Unabhängigkeit Indiens, die tagelang anhielten, ohne dass Sicherheitskräfte eingriffen.
Terror und Finanzkrieg
Es gab mindestens 2.000 überwiegend muslimische Tote, zahllose Vergewaltigungen, Zerstörung von etwa 270 Moscheen und islamischen Heiligtümern, Plünderung tausender muslimischer Geschäfte und Vertreibung von schätzungsweise 150.000 Menschen.
Modi verharmloste die Gewaltwelle als "gerechtfertigten Volkszorn". Aber das organisierte Vorgehen der gewalttätigen Gruppen und die Untätigkeit der Polizei "deuteten für viele Beobachter auf eine vorherige Planung der Attacken" hin (so Gottschlich 2018) – was auch an die Jakarta-Methode denken lässt, die auf Hass und Pogrome setzt, um faschistische Regime zu befördern.
Doch neben Gewalt setzt die BJP bislang hauptsächlich auf Law-fare und Finanzterror.
Indiens größte Oppositionspartei, die Kongresspartei, beklagt sich derzeit, dass die zentrale Steuerbehörde auf ihren Bankkonten Millionenbeträge eingefroren habe. Mitten im Wahlkampf ein gravierender Eingriff in die Demokratie.
Auf einer Pressekonferenz beschuldigten führende Vertreter der Kongresspartei die BJP-Regierung, so der Guardian, die Opposition vor den Wahlen durch "Steuerterrorismus" ausschalten zu wollen. Auf der einen Seite Straßenterror gegen Minderheiten und Law-fare gegen die Opposition, auf der anderen religiös unterlegter Personenkult – wie passt das zusammen?
Hindutva – Safran-Faschismus und Überlegenheitskult
Schon die neo-hinduistischen Reformbewegungen strebten danach, eine vermeintlich glorreiche "arische" Zivilisation wieder aufleben zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte degeneriert sei. Schuld daran wäre die Fremdherrschaft durch die muslimischen Mogulkaiser und dann durch die christlichen Briten gewesen.
Ashok Kumbamu spricht in seinem Beitrag zu einem wissenschaftlichen Sammelband über Autokratien, Neoliberalismus und Faschismus von einer "victimhood propaganda" und stellt die Bewegung in die Tradition der deutschen Nazi-Partei – auch Hitler sah die Deutschen als Opfer der Alliierten, Juden, Kommunisten.
Vinayak Damodar Savarkar war der vielleicht wichtigste ideologische Vordenker des modernen Hindu-Nationalismus und sein 1923 wie Hitlers "Mein Kampf" in Haft verfasstes Buch "Hindutva: Who is a Hindu?" wurde Grundsatzprogramm des politischen "Hindutums" (Hindutva).
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Hindutva und Nazitum
Bereits 1925 wurde, vermutlich auf Anregung Savarkars, die hindu-nationalistische Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, "Nationaler Freiwilligen-Bund") gegründet, die von Gottschlich für die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung mit der in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft verglichen wird
Der langjährige RSS-Führer Mahadev Sadashivrao Golwalkar ließ sich, so Kumbamu, von Nazi-Deutschland inspirieren. 1939 – als in Hitler-Deutschland Juden bereits drangsaliert, vertrieben oder ermordet wurden – pochte Golwalkar in seinem Buch " We, or Our Nationhood Defined" auf die Reinheit von Kultur und Rasse und wollte von Hitler lernen.
Er machte die Hindutva zu einer Bewegung der Politik des Hasses, zum Kern eines hindu-fanatischen Safran-Faschismus. Derweil machte man sich 1943 in Hitlers Großdeutschland noch Sorgen über negrid-rassische Beimischungen in den Arier-Rassen Indiens (Glasenapp 1943, Neuauflage Stuttgart 1955, S.9).
Mord an Gandhi und Aufstieg der BJP
Mahatma Gandhi, seit Jahrzehnten führender Kopf des Kampfes für Indiens Unabhängigkeit von London, weigerte sich hingegen, die indische Nation mit einer einzigen Religion oder einer einzigen Sprache gleichzusetzen. Nach der Ermordung Gandhis durch einen RSS-Attentäter 1948 wurde der RSS kurzzeitig verboten, blieb aber bestimmende Kraft des rechten Hindu-Nationalisten-Flügels.
Die 1951 gegründete hindu-nationalistische und RSS-nahe Partei Bharatiya Jana Sangh (BJS, "Indische Volksvereinigung"), direkte Vorgängerorganisation der heutigen BJP, blieb weitgehend wirkungslos. Die Verantwortung für die Ermordung Mahatma Gandhis wog schwer und konnte erst mit der Gründung der BJP 1980 vertuscht werden.
Danach entwickelte sich ein schleichender Faschismus vor allem in den nördlichen Bundesstaaten, wo heute Modis Hauptwählerbasis liegt. Modi machte die Hindutva zur Staatsräson und stellt sich damit hinter eine Bewegung, die manche mit dem deutschen Nazitum vergleichen:
In Safran gekleidete Bürgerwehr- oder paramilitärische Gruppen (ähnlich Hitlers Sturmabteilung, den "Braunhemden"...), die mit Hindutva-Organisationen verbunden sind, haben zugenommen und an Stärke gewonnen. Ihr oberstes Ziel ist die Errichtung eines Hindu Rashtra (Hindu-Nation). Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie eine Kultur der Gewalt und der Angst geschaffen, indem sie ihre vermeintlichen Feinde angriffen und töteten: Muslime, Christen, Dalits (die sog. Unberührbaren), Kommunisten, Rationalisten, Säkularisten und sogar Bürger- oder Menschenrechtsaktivisten (...). Daher bezeichne ich die faschistische Haltung der Hindutva als Safran-Faschismus ...
Ashok Kumbamu 2020, S. 162
Kumbamu sieht in Modi einen Apologeten sowohl der faschistoiden Hindutva wie des ausbeuterischen Neoliberalismus, der Indiens BIP zwar gesteigert habe, aber auf Kosten unbeschreiblichen Elends der Massen.
Sozial-ökologische Katastrophe und Jakarta-Methode
Auch der eingangs zitierte Ramachandra Guha sieht heute eine soziale Katastrophe in der immer weiter klaffenden Schere von obszönem Reichtum und Massenarmut, neben einem von rücksichtslosen Konzernen verursachten ökologischen Desaster.
Indiens Luft gilt in vielen Städten als kaum noch atembar, Boden und Wasser werden in unvorstellbarem Ausmaß geplündert und verseucht. Die digital optimierte Ausbeutung von Mensch und Natur ist Ziel des Neoliberalismus, in Indien wie im Westen, wo Indien nur punktuell Beachtung findet. Von den bedeutenden maoistischen Aufständen in Ost- und Mittelindien 2009 (Rothermund S.120) hat man kaum je gehört, und viele kennen von der reichen indischen Kultur kaum mehr als Yoga und das Kamasutra.
1984 grämte sich der berühmte Theologe Hans Küng mit seinem Ko-Autor Stietencron noch über eine vermeintliche Ausbreitung indischer Kultur im Westen, wo man Yoga und Meditation aber "nur als Fitnesstraining und als äußere Technik zur Abwehr von Stress" nehmen würde (S.24).
Mit Yoga im aktuellen Achtsamkeitshype neoliberaler Selbstoptimierer schließt sich der Kreis des Übermenschenkults. Dessen Hindu-Version sieht Ashok Kumbamu als Reaktion des Safran-Faschismus auf das sozial-ökologische Versagen von Modis Neoliberalismus in Indien.
Seine Warnungen vor dem neoliberalen Safran-Faschismus sind leider ernstzunehmen. Schlimmer noch: Bislang gibt es einiges, was an die Jakarta-Methode erinnert, die stets Hass und Pogrome schürte, um faschistische Regime zu befördern – wie etwa jenes von Suharto in Indonesien. Hoffen wir, dass Indien dem propagandistischen Sog der Gewalt widerstehen kann.
Quellen zum Weiterlesen
Ellis-Petersen, Hannah: ‘BJP versus democracy’: India’s opposition alliance cries foul as election nears, Guardian, 9.4.2024
Glasenapp, H.v.: Die Religionen Indiens, Kröner Verlag Stuttgart 1955 (Or.1943).
Gottschlich, Pierre: Hindu-Nationalismus. Indien auf dem Weg in einen Hindu-Staat?, BPB 23.11.2018
Guha, Ramachandra: Modis neues Indien: Von der Demokratie zum Hindu-Reich, Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2024, S.83-95.
Kumbamu, Ashok: Saffron Fascism: The Conflux of Hindutva Ultra-Nationalism, Neoliberal Extractivism, and the Rise of Authoritarian Populism in Modi's India, in: Berch Berberoglu (Editor), The Global Rise of Authoritarianism in the 21st Century: Crisis of Neoliberal Globalization and the Nationalist Response, Routledge, NY & London 2020, pp.161-179.
Küng, Hans und H.v. Stietencron: Christentum und Weltreligionen II – Hinduismus, Pieper 1984, 2. Aufl. GTB München 1991.
Petersmann, Sandra: Indien. Die heilige Kuh und der mordende Mob, DLF 04.08.2016.
Rothermund, Dietmar: Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, C.H.Beck, München 2010.
Wire (India): Date Of Polling April 19 - June 1