"Momo" 2025: Zeitdiebe verkaufen jetzt transhumane Effizienz
Copyright Constantin Film Distribution/Rat Pack Filmproduktion/Ivan Sardi
Der Klassiker kommt als modernes Remake ins Kino. Statt grauer Herren mit Zigarren jagen nun smarte Tech-Manager nach der Zeit der Menschen. Filmkritik.
Das als Momo2.0 gehandelte Remake des Kinderfilm-Klassikers verbirgt hinter IT-Gadgets und bombastischem AI-Slop eine weiterhin eng am Michael-Ende-Buch hängende Story.
"Momo" von Michael Ende (1929-1995) ist heute ein Kinderbuch-Klassiker, der es bis zur Schul-Lektüre geschafft hat. Die Story bleibt in Momo 2.0 weitgehend erhalten: Das Waisenmädchen Momo (Alexa Goodall) lebt in einem großen Amphitheater. Nachbarn kümmern sich um sie, die dafür Zeit und Aufmerksamkeit ihren Mitmenschen widmet.
Momo hört zu, stellt Fragen und bringt die Leute dazu, ihr Handeln zu überdenken. Dann tauchen die grauen Herren der Zeitsparkasse auf, im Remake smarte Damen und Herren eines hippen Tech-Konzerns: Sie verteilen großzügig Fitness-Armbänder, mittels derer die Menschen ihre per Hektik und Effizienz eingesparte Zeit angeblich gutgeschrieben bekommen.
Update der Zeitdiebe
Waren Michael Endes Zeitdiebe noch Nikotinsüchtige mit Kapitalisten-Zigarren, sind die neuen IT-Vampire lungenkrank: Statt aus Zigarren saugen sie die abgezapfte Lebenszeit ihrer Opfer aus Asthma-Inhalatoren.
Das meiste bleibt an der Story gleich, die sich eng ans Kinderbuch von 1973 hielt (einen internationalen Bestseller mit in 50 Sprachen 13 Millionen verkauften Exemplaren): Eine Agentin erliegt dem empathischen Charme von Momo, plaudert das Geheimnis aus.
Momo soll nun eingefangen werden, doch Verführungsversuche (früher mit Spielzeug und Puppen, heute mit einer schwebenden KI-Diener-Kugel) scheitern. Momo versucht sich mit anderen Kindern gegen die Zeitkonzern-Verschwörung zu wehren, organisiert eine Demonstration, doch selbst ihr bester Freund wird von den grauen Agenten korrumpiert (damals mit einer Schlager-Star-Karriere, heute als Online-Influencer-Star).
Momo wird verfolgt, die berühmte Schildkröte Kassiopeia taucht auf und bringt Momo zu Meister Hora ('Hobbit' Martin Freeman), dem Verwalter der Zeit, der in den entfesselten Kampf eingreift ... Zeit ist Leben, Zeit ist Blut – Google und die Blutmetapher bei Michael Ende:
Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren.
Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen ...
Michael Ende, Momo
Wo bleibt unsere Zeit?
Was im Original noch bodenständig auf natürliche Blutsauger verwies, ist heute im virtuellen Raum unbedingt ein Thema. Digitalisierung und Netztechnologien sparen viel Zeit – aber wo bleibt die eigentlich?
Muße und entspannte Lebensführung findet man weder online noch offline in weiter Verbreitung. Viele von uns führen geradezu ein gehetztes Leben. Ein aktuelles MaroHeft fragt z.B. ebenfalls nach Zeitdiebstahl.
Geheimhaltung und globale Logistik der Netze deutete sich schon bei Michael Ende an:
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weitgestreckte und sorgfältig vorbereitete Pläne. Das Wichtigste war ihnen, daß (!) niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde... Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte.
Michael Ende, Momo
Der nächste Dreh
Hatte nicht Google-Chef Eric Schmid viele Jahre später ähnliche Kenntnisse über die Motive, Gedanken und Gefühle der Google-User beansprucht? Sammelt und verkauft Google nicht die Daten und die Aufmerksamkeit seiner User, wie Shoshana Zuboff unter dem Topos "Überwachungskapitalismus" analysiert?
Dass nur ein, zwei Jahrzehnte später Computernetze unser Leben dominieren würden, ahnten zu dieser Zeit die wenigsten. Wie kam der erste Momo-Film bei der damaligen Kritik der 1980er-Jahre an?
So schreibt das Lexikon des internationalen Films zur Erstverfilmung von "Momo" (zit. n. Wikipedia):
Ein Märchenfilm, der sich weniger auf grobe Effekte als auf glaubhafte Charaktere und atmosphärische Dichte verlässt – wenn auch Endes pseudomythologischer Tiefsinn manchmal fadenscheinig wirkt und die Inszenierung in die Nähe zum Kitsch gerät.
Diese Einschätzung des Filmlexikons muss wohl hinsichtlich der jetzt im Remake computergrafisch bis an den Rand von AI-Slop bombastisch aufgehübschten Effekte korrigiert werden.
Dass sich in der einst als "fadenscheinige Pseudomythologie" abgetanen Story von Michael Ende doch mehr kulturkritische Wahrheit verborgen hatte, dürfte dagegen spätestens mit aktuellen Analysen zur "Beschleunigungsgesellschaft" von Hartmut Rosa klar geworden sein.
Deutliche Zeitkritik
Michael Ende übte in seinem Buch deutliche Zeitkritik, sogar Kapitalismuskritik, doch nicht aus marxistischer, sondern eher aus anthroposophischer Perspektive (vgl. Werner Onken, der in "Momo" einen Märchen-Roman von der "Macht des Geldes über die Menschen" sieht).
Michael Ende schrieb, in Westdeutschland zunächst beschuldigt, Kindern mit seinen eskapistischen Geschichten den Blick für die Wirklichkeit zu verstellen, den Roman Momo im italienischen Exil.
Was hätte Michael Ende dazu gesagt?
Auch die in Rom mit Stars wie Mario Adorf und Armin Müller Stahl gedrehte Erstverfilmung hielt sich eng an den Roman. Buchautor Ende hatte die Verfilmung, im Gegensatz zur Verfilmung von "Die unendliche Geschichte", ausdrücklich gutgeheißen; Michael Ende hatte sogar selbst einen Auftritt im Film: als Passagier im Zug, dem Meister Hora als Rahmenhandlung rückblickend die Geschichte erzählt.
Ob ihm diese neue Version gefallen hätte?
Mit der ab 2018 als "Selbstmord-App" auch einige Zeit durch deutsche Medien geisternden Momo-Figur (Momo Challenge) haben natürlich weder Film noch Buch etwas zu tun.