Monochrome Leere
Spider von Kultregisseur David Cronenberg ist ein beklemmender Film über einen Menschen, der auf seine verdrängten Erinnerungen stößt
Spider, der neuste Film von Kultregisseur David Cronenberg, erzählt die Geschichte von Dennis 'Spider' Cleg: Nach einem langen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, erhält er eine zweite Chance. Er wird entlassen und darf in seine alte Heimat zurückkehren, das Londoner East End. Doch der Anblick seines alten Viertels, dessen Geräusche und Gerüche, erwecken in ihm viele verdrängte Erinnerungen.
Cronenbergs neuer Film ist über weite Strecken ein Stummfilm, mit einer Begleitmusik aus Howard Shores minimaler Komposition und Spiders inneren Brabbeln, das manchmal von Innen nach Außen dringt und sich dann vermischt mit der dumpfen, meist sehr heruntergedimmten Kakophonie der Großstadt, die Spider ziellos durchwandert. Die Kamera begleitet ihn hierbei in einer ähnlich intimen Weise wie neulich erst in "Elephant" (So, das war's dann wohl. Heute sterben wir) zu sehen: Sie nimmt die Innenperspektive ein und erlaubt es dem Zuschauer Spider auf einer Reise zu folgen, die sein Hirn antritt, als es Orten, Atmosphären, Zeichen und Menschen ausgesetzt wird, die er aus seiner Kindheit kennt.
Die Spezialeffekte bei diesem Psychotrip beschränken sich erstaunlicherweise ausschließlich auf das Make-up - aufgetragen von Stefan Dupuis, der als SFX-Experte Cronenberg bereits in Filmen wie "The Fly" (1986) zur Seite stand. Er verwandelte Spider-Darsteller Ralph Fiennes in einen heruntergekommenen Menschen, mit schmutzigen Dreckrand rund um den Kragen, schlechter roter sowie poröser Haut, einer Nikotinlinie am Inneren seiner Lippe, Teer in seinen Mundwinkeln, Nikotin-überzogenen Fingern und Zähnen, einer rötlichen Falte in seinen Augenliedern und mit einer chaotischen Haarpracht. Ja, vieles konzentriert sich hier auf die Oberflächen, was, auf den Protagonisten bezogen, häufig pantomimisch anmutet und dann in den teils auch humorvollen Szenen ein wenig an Kitano erinnert.
Klaustrophobie ist die krankhafte Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen, doch kommt dieses damit verbundene Gefühl hier paradoxerweise auf Grund anders gelagerter Bedingungen auf: Der Auslöser sind freie Flächen oder Straßen, die Spider durchschreitet. Der Handlungsort, es soll das London der 1980er Jahre sein, ist reduziert auf das Wesentlichste. Es fehlen Autos, Passanten, das ganze Straßenleben eben - wäre der Film digital entstanden, hätte man vermutlich davon gesprochen, dass all das nachträglich einfach gelöscht worden ist. So herrscht Leere vor. Monochrome Leere. Diesen Film hätte man auch in Schwarzweiß drehen können, doch ist er in einigen wenigen Farben gehalten: Mischungen aus dem Braun- und Ocker-Spektrum dominieren die Kulissen.
Nicht gesellschaftsfähig
Spider lässt sich entlang dieser Oberflächen treiben, taucht tiefer ein in seine verdrängte Kindheit und zerbricht letzten Endes daran. Er hat das Trauma um seine ermordete Mutter und kurz darauf ebenfalls ums Leben gekommene Ersatzmutter noch nicht verarbeitet. Vielmehr hat er ein Netz aus Wirklichkeitsprothesen, Unwahrheiten und Illusionen um sich gesponnen. Er hat sich mit diesem Netz eine Schutzhaut geschaffen, die ihn nicht nur vor beängstigenden Konfrontationen (etwa mit der Liebhaberin seines Vaters) und vor unliebsamen Tatsachen (etwa den genaueren Umständen der beiden Todesfälle in seiner Familie) schützt. Diese Schutzhaut erlaubt es ihm darüber hinaus in einer parallelen Realität heimisch zu werden, der übrigens bereits seit seiner Kindheit bewohnt - als er den Spitznamen "Spider" bekam.
Cronenberg zeichnet damit das Krankheitsbild eines Menschen, der sich aus Schutzbedürftigkeit in einen Teufelskreislauf aus Illusion und Isolation flüchtet. Wie der Regisseur selbst über seinen Protagonisten sagt:
Es ist das Gefühl des alten 20. Jahrhunderts, das so alt noch nicht ist: Es geht um die Schwierigkeit, sich in einer Gesellschaft selbst als menschliches Individuum zu erschaffen. In gewisser Weise ist Spider sehr menschlich und nahezu universell. Obwohl er ein extremes Leben führt, liegen seine Erfahrungen doch noch im ganz normalen menschlichen Spektrum.
Spider ist jedoch nicht nur zeitlos. Er steht darüber hinaus für etwas sehr Zeitgenössisches: den gegenwärtigen Trend, psychisch Kranke zu früh aus der Klinik zu entlassen. Der Drehbuchautor Patrick McGarth erklärt:
Es ist ein sehr aktuelles Problem, dass Geisteskranke aus psychiatrischen Obhut entlassen werden, bevor sie dazu auch weit genug sind. Spider ist wie einer dieser zahllosen Männer, die wir alle jeden Tag leise und irgendwie bedrohlich vor sich hinmurmelnd durch die Städte streunen sehen.
Cronenberg Redux
Der kanadische Regisseur, der mit Filmen wie "Shivers" (1975), "Videodrome" (1983) und "Crash" (1996) sein eigenes Genre erschuf, hat es mit "Spider" offenbar geschafft, sich noch einmal neu zu erfinden. Der Film ist im Vergleich zu seinen Vorgängern wesentlich weniger grell, hip und spektakulär. Ebenso wenig zeichnet ihn das futuristisch-visionäre Moment aus. Überbordende Verfremdungen wurden zugunsten von Realismus eingetauscht: Die einzig fremden Wesen, die die Gesellschaft bevölkern, sind die Menschen selbst. Cronenberg, der damit auf die meisten seiner Trademarks verzichtet hat, legt einen Film vor, der sehr ernst ist und geradezu klassisch anmutet.
In seiner Wirkung steht er seinen großen Würfen nicht nach: "Spider" hält dem Zuschauer einen Spiegel vor, der ein beklemmendes Gefühl wachruft und zu denken gibt. Das schafft "Spider" vielleicht mit noch größerer Wucht. Doch ist er dafür weniger unterhaltsam und wird wohl anders als Cronenbergs Debütfilm "Shivers", keine kommerziellen Standards setzen. Aber unter diesem Gesichtspunkt hat Cronenberg seine Filme ohnehin noch nie gemacht.