Monteure auf Jubiläumsflug
Mit der Discovery-Ausrüstungsmission zur ISS ist das 100. Space Shuttle ins All gestartet
Mit Fähren werden gewöhnlich Verkehrsmittel für einen regelmäßigen Verkehrsbetrieb bezeichnet. Für einen solchen regelmäßigen Betrieb waren ursprünglich auch die amerikanischen Raumfähren, die Space Shuttles, gedacht. Als die NASA zwischen 1969 - 1972 mit ihren Konzeptionen und Entwicklungen für den neuen Raumtransporter begann, hatte sie noch hochfliegende Pläne. Die Space Shuttles sollten die Preise für den Transport sämtlicher Nutzlasten ins All um mindestens 90 Prozent senken und einen wöchentlichen "Linienflugbetrieb" ins All aufnehmen. Allein in den 80er Jahren hätte das knapp 500 Shuttle-Flüge bedeutet. Ganz soviel sind es dann doch nicht geworden. Der eigentlich für den 5. Oktober vorgesehene und immer wieder verschobene Discovery-Start in Richtung ISS erfolgte jetzt gestern Nacht um 19.17 Ortszeit oder 23.17 MESZ ist gleichzeitig auch der 100. Flug eines Space Shuttles.
Es handelt sich beim Discovery-Flug STS-92 (STS = Space Transportation System) zwar um eine Mission von der eher komplizierteren Sorte, nichtsdestotrotz fliegt die einst symbolbeflissene NASA mit ihrem Jubiläumsflug zu einer völlig normalen und "profanen" Ausrüstungs- und Montagemission. Der ISS-Montageflug hätte eigentlich schon vor ein bis zwei Jahren ins All starten sollen, doch hatte sich der Flug wegen der Schwierigkeiten Russlands immer wieder verzögert. Wenige Stunden vor dem endgültigen auf Freitag Morgen festgesetzten Startermin kam es zu einer weiteren Verschiebung um mehrere Tage wegen technischer Probleme am Shuttle. Auch die Wettergötter waren dem 100. Shuttleflug nicht wohlgesonnen und sorgten für eine nochmalige Verschiebung.
In einem Videofilm vom letzten Atlantis-Flug im September waren Probleme mit einem Bolzen bei der Abtrennung des externen Treibstofftanks entdeckt worden. Das Bolzenproblem betraf zwar nicht direkt die Discovery, doch wollte die NASA vor einem neuen Start verständlicherweise erst die Ursache hierfür ermitteln. Auch ein Ventil am Treibstofftank soll nicht korrekt reagiert haben. Besagte Ventile verhindern Druckschwankungen in der Brennkammer und damit Schwankungen im Schub. Das Ventil wurde ausgetauscht und am Wochenende überprüft.
Die sieben Crewmitglieder, darunter ein Japaner, werden beim letzten Vorbereitungsflug vor dem Einzug der ersten ständigen Besatzung unter anderem eine Andockstation und ein Trägergerüst in der Internationalen Raumstation anbringen, wofür insgesamt vier "Raumspaziergänge" geplant sind. Einer der fünf Spezialisten, Leroy Chiao, bezeichnete die Mission als das bisher ehrgeizigste Bauvorhaben der NASA. Die Crew hat in der dreijährigen Vorbereitungsphase die gesamte Entwicklung der neuen Teile mitverfolgt.
Im Detail geht es bei der elftägigen Mission um die Montage der 9 Tonnen schweren Zenith-1 (Z-1) Trägerstruktur auf dem Knotenmodul "Unity", an die im Dezember vorübergehend erste Solarzellen für die Energieversorgung der amerikanischen Module angebracht werden sollen. Diese Solarzellen sollen mit der nächsten Shuttle-Mission STS-97 Anfang Dezember zur Station gebracht werden . Außerdem wird ein weiterer Verbindungsadapter an "Unity" montiert werden. Diese Verbindungsadapter dienen als Andockstellen für weitere Module oder Shuttles, darunter für das im Januar folgende amerikanische Labormodul "Destiny".
Neben einem Kommunikationssystem zur Übermittlung wissenschaftlicher Daten werden außerdem Regelmomentenkreisel eingebaut, die für die Lagestabilisierung der Station verwendet werden. Die Besatzung wird auch für den Notfall üben. Auf dem Programm steht die Erprobung mehrerer Rettungsmanöver, darunter die Rettung eines bei Außenarbeiten von der Sicherheitsleine abgetrennten Astronauten. Geübt wird, wie ein Astronaut in einem solchen Fall von selbst wieder zur Station zurückkehren kann.
Mit den Shuttle-Flügen zur ISS nähert sich die NASA wieder ihrem ursprünglich mit den Raumfähren verfolgten Ziel. Das 1972 verabschiedete dreiteilige "Post Apollo Program" sah die Planung einer großen Raumstation, eines billigen Pendelfahrzeuges, dem Space Shuttle und eines Space Tug (Weltraumschlepper) vor, der im Weltraum verbleiben und Nutzlasten von niedrigen auf hohe Umlaufbahnen bringen sollte - aber nie gebaut wurde.
Ein halbes Jahrhundert war die Systemkonkurrenz der beiden Supermächte wesentlicher Motor der Raumfahrtentwicklung. Die Sowjetunion lag mit dem ersten Satelliten und dem ersten Menschen im Weltraum gegen die amerikanischen bemannten Mondlandungen in der Zahl der kosmischen Gipfelerstürmungen in Führung. Da war es wohl nicht nur eine Referenz, sondern auch Revanche, dass die erste Raumfähre "Columbia" auf den Tag genau 20 Jahre nach dem ersten bemannten Weltraumflug Juri Gagarins am 12. April 1981 zu ihrem ersten Start abhob.
Die wesentliche Neuheit der Space Shuttles war ihre Wiederverwendbarkeit und ihre Fähigkeit zur punktgenauen Landung auf Landebahnen. Die Shuttle-Flotte der NASA umfaßt vier Raumfähren. Neben der einst nur für Testzwecke genutzten Enterprise (1976) und dem Erstling Columbia (1979) wurden noch die Challenger (1983), Discovery (1983) und Atlantis (1985) in Dienst gestellt. Für die 1986 verunglückte Challenger kam 1991 die Endeavour hinzu.
Die gesamte Starteinheit besteht aus insgesamt vier Bestandteilen: 1. dem Orbiter genannten 37 m langen Raumschiff, das nach den Missionen wie ein normales Flugzeug landet, 2. dem riesigen 47 m langen und 8 m breiten zylinderförmigen externen Treibstofftank in der Mitte und 3. aus den beiden seitlichen Feststoffraketen. Die Feststoffraketen erbringen den größten Teil des Startschubes und werden 2 Minuten nach dem Start ausgebrannt abgetrennt. Mit Fallschirmen versehen gehen ihre Hüllen einige 100 Kilometer vor der Küste nieder, werden dort - auch nicht ganz billig, aber immer noch kostensparend - aus dem Wasser gefischt und wiederverwendet. Der Treibstofftank läuft nach dem Abtrennen in eine Erdumlaufbahn ein, verglüht aber nach einer halben Erdumrundung in der Erdatmosphäre - und ist somit die einzige Shuttle-Komponente, die nicht wiederverwendet wird.
Die sich aus der Wiederverwendbarkeit der Space Shuttles erhofften Kosteneinsparungen haben sich jedoch nie erfüllt. Im Gegenteil, Shuttle-Flüge sind heute teilweise sogar teurer als Starts mit althergebrachten Wegwerfraketen. Kursierten anfangs noch NASA-Kostenschätzungen von 10 - 40 Millionen Dollar pro Shuttle-Flug, so stehen heute 400 - 500 Mio. Dollar pro Flug zu Buche, andere Berechnungen kommen sogar auf 1 Mrd. Dollar.
Der wiederverwendbare Raumtransporter sollte die Wegwerfrakete ablösen, und mit ihren kühnen Kostenerwartungen äscherte die NASA noch im Shuttle-Konzeptstadium gleich hastig ihr gesamtes in der Monderstürmung bewährtes "Saturn 5"-Raketenprogramm ein. Das brachte die NASA sogar in einen Rückstand gegenüber Europa und zeitweise auch gegenüber der Sowjetunion. Die Sowjetunion startete im Gefolge mehr Erdsatelliten als die USA. Die Europäer sind heute mit ihren Ariane-Raketen Marktführer mit 60 Prozent aller ins All transportierten geostationären Satelliten. Einen weiteren ihrer schlimmsten Rückschläge erfuhr die amerikanische Raumfahrt durch die Challenger-Katastrophe 1986, die zu einer Vielzahl von Verzögerungen bei fast allen Raumfahrtprojekten führte - so auch bei einer bereits für 1995 geplanten ständig bewohnten US-Weltraumstation.
Auch die vielfach gefeierten wissenschaftlichen Spacelab-Missionen, darunter die mit dem ersten Westdeutschen im All, Ulf Merbold, nehmen sich zumindest in ihren Dimensionen vergleichsweise bescheiden aus. Während die UdSSR/Russland mit den Salut-Stationen und der Mir seit den 70er Jahren auf mehrere größere ständig bemannte Raumstationen verweisen kann, konnten die Space Shuttles zwischen 1983 - 1998 mit dem Spacelab bei immerhin insgesamt 24 Missionen lediglich eine kleine Tonne von 7 m x 4,5 m einladen, deren Flugdauer im Schnitt ein bis zwei Wochen betrug. Längere Aufenthalte im All sind mit den Space Shuttles nicht möglich, da ihnen Solarausleger für die Energieversorgung fehlen, und die eingebauten Brennstoffzellen und Batterien für maximal zwei Wochen reichen.
Die bisher längste Zeit im Weltall verbrachte ein amerikanischer Astronaut nicht in einer amerikanischen Raumstation, sondern 1996 mit der Astronautin Shannon Lucid in der russischen "Mir" mit 188 Tagen - nachdem Monate zuvor der Deutsche Thomas Reiter ebenfalls in der "Mir" mit 180 Tagen vorgelegt hatte. Den internationalen Raumflugrekord eines Menschen hält Russland mit über einem Jahr.
Insgesamt 11 Shuttle-Flüge zur "Mir" ab 1995 verhalfen der amerikanischen Raumfahrt zu wichtigen Erfahrungen im Umgang mit Raumstationen, die sie an eigenem Gerät in dem Ausmaß bisher nicht sammeln konnte. Russischen Erwägungen, den Betrieb der "Mir" nach dem vorläufigen Ende ihrer wissenschaftlichen Nutzung weiter fortzusetzen, stand die NASA dann kritisch gegenüber, weil sie die russischen Raketenkapazitäten für den weiteren Ausbau der Internationalen Raumstation benötigt. Auch hier macht sich die Schwäche der amerikanischen Raumtransporttechnik bemerkbar. Da jeder Shuttle-Flug zur ISS Kosten von umgerechnet mindestens einer halben Milliarde Mark verschlingt, sind die Amerikaner beim Aufbau der neuen Raumstation auf die vergleichsweise billigen bemannten russischen Sojus-Raumschiffe und die unbemannten Versorgungstransporter Progress angewiesen.
Als Erfolg der Space Shuttles mögen vielleicht zahlreiche Satellitenstarts wie z.B. der Venussonde Magellan (1989), der Jupitersonde Galileo (1989) oder der beiden Weltraumteleskope Hubble (1990) und Chandra (1999), sowie die spektakuläre Reparatur des Hubble-Teleskops Ende 1999 nach wiederum zahlreichen Shuttle-Startpannen gewertet werden. Für Aufsehen sorgte auch die kosmische Premiere eines ferngesteuerte Roboters bei der D2-Mission im April 1993.
Doch gerade für den Start von Satelliten und Sonden sind die Space Shuttles relativ unrentabel bis völlig überteuert: Satelliten müssen nicht mit bemannten Raumschiffen ins All gestartet werden. Hier kann auch auf Raketen zurückgegriffen werden - da sie für diesen Zweck erstens billiger sind und die Einschußgenauigkeit für Satelliten per Raketenstart außerdem viel präsziser ist. Der personelle und technische Aufwand für Lebenserhaltungssysteme, Kabinen und Sicherheitsmechanismen bei bemannten Flügen steht in keinem rationalen Verhältnis zur Mehrzahl der Einsatzzwecke. Die gesamte tonnenschwere Wiedereintrittstechnik der Shuttles wie Tragflächen, Fahrwerke, Cockpit wird bei Satellitenstarts völlig nutzlos und unnötig ins All befördert, was Satellitenprojekte dementsprechend exorbitant verteuert.
Mit der Zeit sind die einst hypermodernen Space Shuttles auch in die Jahre gekommen und können in einem halben Jahr bereits ihr zwanzigjähriges Jubiläum feiern. Doch die Geräte sollen noch lange, und zwar für mindestens weitere zwanzig Jahre halten, und so modernisiert die NASA ihre "Arbeitspferde" jetzt für die Zukunft. Alle Shuttles sind für mindestens 100 Flüge ausgelegt, und diese Flugmenge ist erst zu ungefähr einem Viertel erreicht. Spitzenreiter ist die soeben gestartete Discovery, die sich jetzt in ihrem 28. Einsatz befindet.
Als erste Raumfähre erhielt die Atlantis ein neues, gläsernes Cockpit, in dem die Piloten die wichtigsten Daten erstmals auf - man staune - modernsten Flachbildschirmen in auffälligen Farben sehen können. Hinzu kommt ein neues Navigationssystem. Das Gleiche geschieht derzeit mit der Columbia, und bis zum Jahr 2002 werden dann alle Fähren das neue Cockpit erhalten, das die Steuerung und Sicherheit der Shuttles wesentlich verbessern soll.
Danach sollen dann die Antriebe überholt und auf den neuesten Stand gebracht werden, sowie Supercomputer und hochempfindliche Sensoren Probleme und Gefahren noch früher erkennen und voraussehen können. Hiervon erhofft sich die NASA eine Halbierung des heute immer noch sehr hohen Flugrisikos. Die Wahrscheinlichkeit für den Totalverlust eines Shuttle gibt die NASA derzeit mit 1 : 248 an - auf 248 Starts kommt also statistisch ein schweres Unglück. Die Sicherheit von Flugzeugpassagieren ist statistisch 20 000 Prozent höher, sie gehen erst bei 50 000 Flügen das Risiko eines tödlichen Unfalls ein. Es handelt sich also bei Shuttle- wie bei sämtlichen bemannten Raketenstarts auch heute immer noch um wahre Himmelfahrtskommandos.
Mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordene ständige Verschiebungen der Shuttle-Starts sind hierfür und für die generelle Sicherheitsanfälligkeit der Space Shuttles anschauliches Zeugnis. Die Chronik der Sicherheitsvorfälle reicht von austretendem Wasserstoffgas mit gefährlicher Beinahe-Notlandung über Kabelschäden mit Kurzschlussgefahr bis zu diversen Dichtungsschäden - insofern sind die störungsbedingten Startverschiebungen auch zum jetzigen 100. Jubiläumsflug nur symptomatisch.
Die Space Shuttles sollen noch ca. zwanzig bis dreißig Jahre eingesetzt werden. Doch Entwicklungszeiten sind in der Raumfahrttechnik bekanntlich lang bemessen. Die heutigen Raumfähren wurden bereits zwischen 1969 - 1972 ins Auge gefaßt, als das amerikanische Mondlandungsprogramm noch in vollem Gang war. Parallel zur Modernisierung der Space Shuttles experimentiert die NASA schon seit Jahren an einem Shuttle-Nachfolger, dem neuen Raumgleiter X-33/Venturestar, dessen erster Teststart für das Jahr 2003 vorgesehen ist.
Die Bilanz macht deutlich: Selbst eine der führenden Weltraumnationen wird in ihren Plänen und Prognosen durch kosmische, technische und ökonomische Realitäten zuweilen arg korrigiert. Und so verwundert es sicher nicht, dass die NASA aus dem jetzigen Jubiläumsstart des Discovery-Shuttles keinen Staatsakt macht, sondern ihn nur im kleinen Kreise der Mitarbeiter feiert. Die Space Shuttles haben keine der in sie bezüglich Sicherheit, Kosten und Flughäufigkeit gesetzten Erwartungen voll erfüllt und werden wohl als ein zwar innovativer, aber nichtsdestotrotz relativ unausgereifter Meilenstein der Raumtransporttechnik in die Raumfahrtgeschichte eingehen.