Moralische Reflexe statt Reflexivität
- Moralische Reflexe statt Reflexivität
- Objektivierte Individualität
- Lockdown als Phänomen der Moral
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Was Cancel Culture, Identitätspolitik und Corona-Maßnahmen gemein ist
Die Fälle muten skurril an. Für die Übersetzung von Werken der schwarzen Poetin Amanda Gorman bedarf es heute Personen mit passender Hautfarbe oder immerhin adäquatem kulturellem Hintergrund – ein internationales Phänomen.
Eine neun Jahre alte "Jugendsünde" in Form eines (vermeintlich?) rassistischen Tweets verhindert die berufliche Karriere einer preisgekrönten Journalistin, ihren Entschuldigungen zum Trotz.
Ein renommierter Schauspieler fragt sich ernsthaft, ob er als Nicht-Behinderter, Behinderte, als Schlanker fette Personen, oder, nicht betroffen von Trauer, traurige Personen spielen darf; von der Möglichkeit des "Blackfacing" ganz zu schweigen (Sternstunde Philosophie: vgl. ab Minute 21:45). Dies angesichts des Risikos, die Gefühle oder die wahrhaftige Identität der betroffenen Personenkreise zu verletzen und die eigene Reputation aufs Spiel zu setzen.
Gemein ist diesen Fällen, dass hier über moralische Bedingungen des Handelns von Personen disponiert, die Frage verhandelt wird, unter welchen Bedingungen einem selbst und anderen Personen Achtung oder Missachtung zuzurechnen ist. Es geht um situationsunabhängige Urteile über Personen.1
Moralische Urteile sind gefährlich, weil ihnen reflexartig, ohne "mildernde Umstände" und in Bezugnahme auf fraglos gültige Werte der Anstrich von Endgültigkeit gegeben wird. Moral ist in seinen Urteilen reflexionsfeindlich, auch, um die Gültigkeit von Werten in ihrer Zweifellosigkeit hervorzuheben. Dies vor allem angesichts von Gefahren. Wer etwa in der Corona-Krise reflektierend den Wert des Lebens relativiert, setzt sich dem Risiko aus, sich selbst zu diskreditieren, nicht die auf diesen Wert Bezug nehmende Moral.
Mit Blick auf die Reflexionsaversion, die, anders als für Ethik, typisch ist für Moral, wird deutlich, warum in genannten Fällen Erklärungen, Entgegnungen, Argumente, selbst Entschuldigungen kaum Wirksamkeit zeigen. Steht fest, dass ein Übersetzer etwa der Kategorie aktuell missachtenswerter "alter weißer Männer" zuzurechnen ist, mag eine Verweis auf die Qualität seiner Arbeitsleistungen kaum zu überzeugen.
Einmal als Rassistin gebrandmarkt, ist kaum mehr wirksam, auf jugendliche Unbedarftheit hinzuweisen, darauf, dass auch "Identität" ein von Situationen und Personen abhängiges Konstrukt ist. Wo sind die Jugendlichen, die sich gerne von ihren Eltern auf Partys mit Gleichaltrigen beobachten ließen?
Gesellschaftliche Reflexivität
Unter gesellschaftlicher Reflexivität soll die Möglichkeit verstanden werden, Beobachtungen zu beobachten, also schon Unterschiedenes nochmals zu unterscheiden. Dadurch kann die Kontingenz von Beobachtungen oder Perspektiven sichtbar gemacht werden. Also festgestellt werden, dass ein Phänomen auf bestimmte Art gesehen werden kann, jedoch nicht notwendigerweise so.
Die moralisch unvoreingenommene Beobachtung von Verschwörungstheoretikern etwa erlaubt, Angela Merkel oder Donald Trump nicht lediglich als Politiker zu unterscheiden, sondern auch als echsenartige Wesen, die sich als Menschen tarnen.
Tatsächlich lässt sich der gesellschaftliche Fortschritt in den letzten zehntausenden Jahren als Zunahme gesellschaftlicher Reflexivität, als ein Zurückdrängen von moralischen, Reflexivität ablehnenden Ansprüchen verstehen. Im Wesentlichen ist dies durch die unterschiedliche Form der Kommunikation bedingt, durch die sich Gesellschaften reproduzierten, beziehungsweise reproduzieren.
Stammesgesellschaften, als früheste gesellschaftliche Formationen, standen nur die Form der flüchtigen mündlichen Kommunikation zur Verfügung. Die schlichte Repetition von mündlicher Kommunikation in Form von solcherart bewährten Traditionen, Riten und Bräuchen gab diesen Gesellschaften Kontinuität und Stabilität.
Bewährte tradierte Erwartungen reflexiv oder gar kritisch zu hinterfragen, deren Kontingenz herauszustellen war deshalb kaum möglich. Nach heutigen Begriffen wurde die Reflexion von Traditionen wohl mit strenger moralischer Missachtung bestraft. Es gab kein kommunikatives Sicherheitsnetz, das die Risiken der Abweichungen vom Erwarteten aufgefangen hätte. Eine Abweichung von einer bewährten Tradition wäre mit der unmittelbaren Auflösung dieser Tradition gleichzusetzen gewesen.
Die Flüchtigkeit und Ausschließlichkeit mündlicher Kommunikation erlaubte kaum Möglichkeiten abseits von Notwendigkeiten auszuloten. Stammesgesellschaften, im radikalen Gegensatz zur modernen Gesellschaft, konnten sich deshalb über eine Vielzahl von zehntausenden von Jahren nur in nahezu unveränderter Form reproduzieren.2
Erst die Erfindung des "kommunikativen Sicherheitsnetzes" der Schriftlichkeit und später vor allem die Entwicklung des Buchdrucks ermöglichte eine positive Konnotation von Reflexivität. Diese wurde geradezu charakteristisch für die Gesellschaft. In der sich auch durch schriftliche Kommunikation reproduzierenden modernen Gesellschaft wurde nämlich relativ ungefährlich möglich, schon Unterschiedenes ohne Verlust von Komplexität erneut zu unterscheiden. Ohne Risiko also, wie es in Stammesgesellschaften bestanden hätte, dass Traditionen, bereits Bewährtes verloren geht, würde es infrage gestellt, würde vom erprobt Erwarteten abgewichen.
Das Gegenteil wurde zum Normalfall. Durch die Buchkultur reichert sich die moderne Gesellschaft reflexiv mit Komplexität an. Multiperspektivität, die kritische Bezugnahme auf Themen, die Erzeugung von alternativen Sichtweisen wird – schriftlich bewahrt – relativ risikolos möglich. Veränderung, Fortschritt, Innovation, Kreativität konnten zu positiv konnotierten Begriffen werden.
Die reflektierende Erzeugung von kontingenten Sichtweisen ist in der modernen Gesellschaft sogar funktional abgesichert. Jeglicher gesellschaftliche Sachverhalt, jegliches Ereignis kann unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beobachtet werden, etwa nach Maßgabe von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Religion, Massenmedien.
Auch in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung – etwa als "marktwirtschaftlich" oder "demokratisch" – kommt zum Ausdruck, dass sich die moderne Gesellschaft als eine reflektierende versteht. So ermöglichen Märkte die Beobachtung der Kontingenz etwa von Leistungen, Qualitäten und Preisen. Demokratien ermöglichen, im Blick auf den Kontrast von Regierung und Opposition, die Beobachtung der Kontingenz der Ausübung von Macht, beziehungsweise von politischen Programmen.
Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Reflexivität, die der modernen Gesellschaft zukommt, erstaunt, dass derzeit ein gesellschaftlicher Trend zur reflexionsfeindlichen Wiederbelebung von moralischen Ansprüchen Plausibilität gewinnt. Dies zeigt sich in anfangs erwähnten Auswüchsen einer Identitätspolitik und Cancel Culture.
Aber auch mit Blick auf aktuelle Corona-Maßnahmen. Diese sind als reflexionsfeindlich, als moralisch dominiert zu verstehen. Derzeit ist kaum möglich, die seit mehr als einem Jahr gesellschaftlich dominante epidemiologische Perspektive (grundsätzlich) infrage zu stellen. Wer kritisch die Kontingenz aktueller Corona-Politik herausstellt, etwa aus der Perspektive des Erziehungssystems oder des Wissenschaftssystems, gerät schnell in Gefahr, sich moralischer Missachtung auszusetzen.
Welche gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre haben dieser Tendenz gefördert?