Mordanschlag in Solingen 1993: Wie war der Verfassungsschutz verstrickt?
Am heutigen 29. Mai jährt sich der Terroranschlag in der rheinischen Stadt. Die Rolle des Inlandsgeheimdienstes wirft bis heute Fragen auf
Anfang der 1990er-Jahre ereignete sich fast jeden Tag ein rassistischer Angriff auf Personen, die nicht "deutsch" genug aussahen, auf Flüchtlingsunterkünfte oder auf Wohnhäuser, in denen Migrant:innen wohnten.
Am 29. Mai 1993 wurde die aus der Türkei stammende Familie Genç in Solingen Opfer eines Brandanschlags. Zwei junge Frauen und drei Mädchen, darunter die neunjährige Hülya, starben, vierzehn weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.
Die Suche nach den Tätern führte zu drei Jugendlichen, die sehr jung waren. Nicht viel später erfuhr die Öffentlichkeit, dass sich die drei Jugendlichen einen ziemlich speziellen Ort teilten: Sie besuchten regelmäßig die Kampfsportschule "Hak Pao" in Solingen. Das wäre an sich nicht verdächtig.
Das Besondere an dieser Kampfsportschule war ihr Chef: Bernd Schmitt. Er war nicht nur Sport-"Lehrer", sondern auch aufgrund seiner rassistischen Gesinnung in Neonazikreisen sehr beliebt. So wurde er (und seine Truppe) unter anderem als Saalschutz für neonazistische Veranstaltungen "gebucht". Das machte die Kampfsportschule zu einem beliebten Treffpunkt für Neonazis.
Am Beispiel Solingen besonders ist, dass das, was gerne als haltlose Mutmaßung und Verschwörungsphantasie abgetan wird, ein gerichtsfester Fakt ist: In der Neonaziszene in und um Solingen herum war der Verfassungsschutz mit einem V-Mann an zentraler Stelle präsent: Der Chef der besagten Kampfsportschule Bernd Schmitt war nicht nur eine sichere Adresse für Neonazis, sondern auch V-Mann des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen (NRW):
Vermutlich seit 1990 agierte Schmitt klammheimlich als V-Mann des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Er war Spitzel der Abteilung VI des Düsseldorfer Innenministeriums, die 300 feste und viele freie Mitarbeiter zählt.
Der Spiegel, 22/1994
Auch das ist mittlerweile zu den Akten gelegt. Es gab keine politischen Konsequenzen aus dem Umstand, dass der Verfassungsschutz an zentraler Stelle involviert war und dennoch nichts von all dem mitbekommen haben will, was sich in und rund um die Kampfsportschule zusammengebraut hatte.
Der Verfassungsschutz macht(e) weiter wie bisher, die politischen Parteien, die für den Verfassungsschutz verantwortlich sind, schützen dessen Praxis, die nachweislich nichts verhindert, im besten Fall betreut – bis heute.
Inlandsgeheimdienst war in rechten Strukturen aktiv
Doch das ist nicht alles: Seit 2020 ist öffentlich, dass der Verfassungsschutz nicht nur an zentraler Stelle in neonazistischen Strukturen eingebettet war, sondern auch auf der Seite antifaschistischer und autonomer Strukturen "aktiv" war. Der V-Mann heißt Johannes Pietsch, hatte den Decknamen "Kirberg" und war in diesen linken Strukturen von 1990 bis zum Jahr 1999 aktiv.
Das Interview, das seine Geschichte, seine Rolle rund um den Mordanschlag in Solingen 1993 zum Gegenstand hat, ist selbstverständlich auch den politisch Verantwortlichen in NRW bekannt.
Die Aussagen des ehemaligen V-Manns belegen, dass der Verfassungsschutz alles andere als stümperhaft agiert und auch gar nicht auf dem rechten Auge blind ist. Ganz im Gegenteil. Der Verfassungsschutz war bestens informiert, sozusagen an den Schaltstellen neonazistischer Strukturen platziert – ohne etwas zu wissen, wenn es darauf ankommt, genau das zu verhindern.
Das Agieren des Verfassungsschutzes mit zwei Top-Quellen auf beiden Seiten hat offenbar also nichts mit Zufällen zu tun und schon gar nichts mit fehlenden Zugängen, also Quellen.
So auch in Solingen: Der V-Mann "Kirberg" verschaffte sich Zugang und Vertrauen zu Kreisen, in denen Aktionen geplant wurden, und gab die Planungen und die möglichen Beteiligten an seinen V-Mann-Führer weiter. All das geschah über fast zehn Jahre, ohne eine Panne, ohne bedauerliche Zufälle, die sich bei der Arbeit des Verfassungsschutzes auf neonazistischen Seite in Serie ereignen sollen.
Dazu Johannes Pietsch im Telepolis-Interview:
Solingen: "Beweismaterial aus dem Gebäude gebracht"
"Kampfsportschule unmittelbar nach dem Anschlag observiert"
Das Versagen des Verfassungsschutzes – eine Erfolgsstory?
Man könnte im Rückblick auf die über 25 Jahre zu folgendem Fazit gelangen: Das "Versagen" des Geheimdienstes ist sein Erfolg.
Wenn man nicht wüsste, dass sich diese "Arbeit" des Verfassungsschutzes, diese Art der Aufklärung vor einem Vierteljahrhundert zugetragen hat, würde man sofort an den "NSU-Skandal" denken. Doch genau das wäre extrem kurz gefasst.
Seit einem Vierteljahrhundert wird an dieser Praxis nichts geändert. Der Verfassungsschutz wird nicht dazu verpflichtet, seine V-Leute als Zeugen zur Verfügung zu stellen. Die politisch Verantwortlichen decken diese Form der Sabotage.
Seit einem Vierteljahrhundert begehen V-Leute (schwere) Straftaten und sind "safe" (wie es der V-Mann 'Kirberg' ausdrückt), wenn sie doch ins Visier polizeilicher Ermittlungen geraten.
Seit einem Vierteljahrhundert werden im Schutz des Geheimdienstes (mögliche) Beweismittel beseitigt, Ermittlungen sabotiert, was in der Summe zu dem Ergebnis führt, dass der Inlandsgeheimdienst "Verfassungsschutz" noch mehr Geld, noch mehr Personal, noch mehr politische Schützenhilfe bekommt, von jeder Regierung, in jedem Farbton.
Und als wollten die politisch Verantwortlichen unter Beweis stellen, dass das Eingestehen und Bedauern von "Pannen" nicht mehr ist als Juckpulver, hat die amtierende Bundesregierung noch etwas draufgelegt: Im Zuge der Nicht-Aufklärung der NSU-Morde wurden die Arbeitsbedingungen des Verfassungsschutzes deutlich verbessert. Musste dieser bislang verleugnen, verdecken und vertuschen, dass V-Leute an (schweren) Straftaten beteiligt sind bzw. diese ermöglicht haben, sind sie nun weitgehend straffrei gestellt:
Bisherige Skandale und illegale Praktiken werden praktisch legalisiert - und damit auch die obszönen Verflechtungen des Verfassungsschutzes in gewalttätige Nazi-Szenen wie den NSU.
Rolf Gössner, Blätter, Ausgabe Juli 2018
Seit 2019 wissen die Behörden, aber auch die politischen Parteien, die den Verfassungsschutz führen und leiten um diese systematische Vorgehensweise. Haben sie auf diese Veröffentlichung reagiert? Nein. Hat man etwas unternommen, um dem substanziellen Vorwurf nachzugehen, dass der Verfassungsschutz das Gegenteil von dem macht, was sein Arbeitsauftrag ist: Aufklärung von neonazistischen Strukturen, mit dem Ziel, Straftaten zu verhindern? Nein.
Ist irgendjemand zur Verantwortung gezogen worden, für die Tatsache, dass man Neonazis in führenden Positionen nicht nur betreut, sondern die Strukturen schützt, in denen sich neonazistische Kader bewegen? Nein.
Quellen und Hinweise
Der Brandanschlag in Solingen am 29. Mai 1993 und die halbe Wahrheit [3] Das wäre eine Bombe, Der SPIEGEL vom 30.5.1994, 22/1994
Mord unter staatlicher Aufsicht: Von Solingen zum NSU, Rolf Gössner
"Wir sind aus allen Wolken gefallen", Der rassistische Brandanschlag in Solingen 1993 und die Rolle des Verfassungsschutzes [4], Ak 671 vom 18. Mai 2021:
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[1] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Solingen_-_Mahnmal_Solinger_B%C3%BCrger_und_B%C3%BCrgerinnen_04_ies.jpg
[2] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en
[3] https://wolfwetzel.de/index.php/2020/05/22/der-brandanschlag-in-solingen-am-29-mai-1993-und-die-halbe-wahrheit/
[4] https://www.akweb.de/politik/die-rolle-des-verfassungsschutzes-beim-rassistischen-brandanschlag-in-solingen/
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