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Moses, ein Kalb und zehn Gebote

The Ten Commandments

DeMille zeigt uns, was eine Sünde ist

Teil 1 [1]: Aber bitte mit Orgie: Cecil B. DeMille, Hollywood und die Bibel

Hollywood definiert sich heute als eine Industrie, die vorzugsweise abendfüllende Spielfilme herstellt. Das war nicht immer so. In den Gründerjahren wurde der amerikanische Film von wenig innovationsfreudigen Monopolisten beherrscht, die das junge Medium in seine erste große Krise führten, weil das Publikum keine Lust mehr auf das ewig Gleiche hatte. Die Krise wurde überwunden, weil es Rebellen gab, die sich an den Bedürfnissen ihrer Kunden orientierten und nicht an dem, was - kurzfristig gesehen - am wenigsten riskant und rechtlich durchsetzbar war. Für große Filmkunst garantierte das noch nicht.

Dass man in den Jahren der von Edison und der MPPC betriebenen, erst 1915 mit einer Verurteilung Edisons wegen Verstößen gegen die Anti-Trust-Gesetze endenden Blockadepolitik nicht unbedingt einen guten Film abliefern musste, um in den USA viel Geld zu verdienen, zeigt eine französische Produktion, die in Amerika unter dem Titel Queen Elizabeth (1912) lief. Geboten wird mit einer statischen Kamera abgefilmtes Theater, mit dem Bühnenstar Sarah Bernhardt in der Titelrolle. Wenn man das heute sieht, ist es so langweilig, dass einem die Füße dabei einschlafen. Damals ließen sich Rekorderlöse mit dem öden Werk erzielen, weil es eine längere Geschichte erzählte, statt wie bei Edison nach fünf oder zehn Minuten schon wieder vorbei zu sein.

Rebellen und Etablierte

Der Pelzhändler, der Queen Elizabeth nach Amerika importierte, war ein ungarischer Einwanderer und hieß Adolph Zukor. Mit dem Gewinn gründete Zukor eine eigene Produktionsfirma, die er Famous Players nannte. Sein Werbeslogan war "Famous Players in Famous Plays". Damit ist die Produktpalette ausreichend beschrieben: Bekannte Theaterschauspieler treten in bekannten Theaterstücken auf, die Kamera filmt das statisch ab, und weil man aus den Bildern schwer erschließen kann, was vor sich geht, braucht man noch viele Zwischentitel. Es spricht für den Geschmack des amerikanischen Publikums, dass Zukor schon bald vor der Insolvenz stand. Wie oft in solchen Fällen, kann man es auch gehässiger formulieren: Zukor produzierte an der Kundschaft vorbei, weil diese eine Leseschwäche hatte. Viele Kinogeher waren zudem Einwanderer, die nur gebrochen Englisch sprachen und mit gestelzten Theaterdialogen wenig anfangen konnten. Zukor rettete sich, indem er 1913 Mary Pickford unter Vertrag nahm. Die kanadische Schauspielerin wurde fast über Nacht zu einem der größten Kinostars der Stummfilmzeit und sicherte praktisch im Alleingang das Überleben der Famous Players.

Offizielles Foto zur Famous Players-Lasky Fusion. Von links nach rechts: Jesse L. Lasky, Adolph Zukor, Sam Goldfish (später Goldwyn), Cecil B. DeMille, Albert Kaufman (Schwager von Zukor)

Seine Filme vertrieb Zukor mit Hilfe einer Verleihorganisation, die sich ganz unbescheiden Paramount nannte (= an der Spitze stehend). Mitte 1914 wurde auch die Lasky Company mit der Paramount handelseinig. 1916 fusionierten die beiden Produktionsfirmen zur Famous Players-Lasky Corporation. Die wichtigsten Aktivposten der jeweiligen Partner waren Cecil B. DeMille und Mary Pickford. DeMille drehte damals einen Film nach dem anderen, war den ganzen Tag auf den Beinen und trug Schnürstiefel, weil diese gut für seine überlasteten Knöchel waren und bei Außenaufnahmen vor Schlangen schützten. Seine übrige Garderobe bestand aus einem offenen Hemd (er mochte keine Krawatten) und aus Reithosen, weil sie weit und bequem waren. Seinen kahlen Schädel schützte er mit einem Hut vor der Sonne, den er verkehrt herum aufsetzte, weil die Krempe beim Blick durch den Sucher der Kamera störte.

Anfangs aus praktischen Gründen so zusammengestellt, behielt er diese Ausrüstung den Rest seines Berufslebens über bei. So etablierte er sich selbst als eine Marke. Das war äußerst ungewöhnlich. Das Publikum ging ins Kino, um den neuen Film eines Stars zu sehen und wusste meistens gar nicht, wer ihn inszeniert hatte, oder dass er überhaupt inszeniert worden war und was das bedeutete (das änderte sich erst in den 1960ern). Die Industrie mit ihrer "Fenster-zur-Welt"-Ideologie hatte auch kein Interesse, Regisseure besonders herauszustellen und so auf den Konstruktcharakter ihrer Filme hinzuweisen. DeMille allerdings wurde immer bekannter. Bestimmt hatte es mit Eitelkeit zu tun, wenn er die Aufmerksamkeit auf sich zog. Wichtiger war etwas anderes. Indem er sich selbst den Starstatus verschaffte, der sonst den Schauspielern vorbehalten war, gewann er in einer auf den Wiedererkennungswert setzenden Industrie an Macht, und Macht bedeutete weniger Einmischung und mehr Kontrolle über die eigenen Filme. Alfred Hitchcock lernte viel von DeMille. Er erschuf eine Kunstfigur namens "Hitch", den sardonischen britischen Gentleman im Anzug.

Der Machtbewussteste in der neuen Firma war Adolph Zukor. Er wurde Präsident des Unternehmens (die Geschäftszentrale war weiterhin in New York), obwohl er am wenigsten eingebracht hatte. Der Posten des ersten Vizepräsidenten ging an Jesse Lasky. DeMille überwachte die Produktion an der Westküste wie bisher auch. Sam Goldfish, der mit allen Wassern gewaschene, aber auch zänkische und aufbrausende Leiter der Verkaufsabteilung, kam mit dem kühl kalkulierenden Zukor nicht zurecht, wurde Vorstandschef und hatte das Gefühl, mit einem Trostpreis abgefunden worden zu sein. So kam es, wie es kommen musste: nach längeren Streitigkeiten schied Goldfish aus dem Unternehmen aus, was noch dadurch befördert wurde, dass er inzwischen von Blanche, Laskys Schwester, geschieden war. Für seine Anteile erhielt er 700 000 Dollar. Er und der Theaterproduzent Edgar Selwyn gründeten eine neue Filmfirma, die sie Goldwyn nannten. Sam gefiel der Name so gut, dass er ihn auch für sich persönlich übernahm. Das hatte außerdem den Vorteil, dass es so aussah, als seien er und das Unternehmen identisch. In der Lasky-Zeit hatte er sich immer darüber geärgert, dass er der am wenigsten sichtbare der Partner war.

Es gab auch einen Namen, der Zukor gut gefiel: Paramount. An der Verleihfirma, die sich so nannte, störte ihn jedoch, dass er ihr einen Gewinnanteil abtreten musste und dass sie nicht von ihm selbst geleitet wurde. Das ließ sich ändern. Nach Geheimverhandlungen kaufte er im Dezember 1916 Hiram Abrams, dem Vorstandsvorsitzenden der Paramount, dessen Anteile ab. Damit hielt er die Kontrollmehrheit. Zukor setzte den Firmengründer W. W. Hodkinson als Präsidenten ab, feuerte Abrams und war nun unangefochtener Chef eines Produktions- und Verleihimperiums, das sich nach einigen Umbenennungen Paramount Pictures nennen würde. Die Paramount verlieh so viele Filme, dass sie problemlos den Jahresbedarf jedes Kinos abdecken konnte. Damit hatte sie eine marktbeherrschende Stellung, mit den üblichen monopolistischen Begleiterscheinungen. Die Paramount nahm so vorläufig den Platz von Edisons Motion Picture Patents Company ein, gegen die Leute wie DeMille, Lasky, Goldfish, Zukor oder auch Carl Laemmle von der Universal einst angetreten waren. Ein schließlich wegen Verstößen gegen die Monopolgesetze angestrengtes Verfahren zog sich lange hin. Als der Oberste Gerichtshof der USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Paramount entschied, läutete er damit das Ende des klassischen Studiosystems in Hollywood ein. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Gott der Liebe

Im Atelier war DeMille ein Diktator, der keine Unachtsamkeit durchgehen ließ. Langjährige Mitarbeiter haben glaubhaft versichert, dass das eine Rolle war, die er spielte, um alle in höchste Anspannung zu versetzen und sie zu besten Leistungen anzutreiben. Zugleich konnte er ganz lieb sein, aber auch das im Stil eines orientalischen Despoten. Als Gloria Swanson als Sklavin unter der Pranke des Löwen hervorgekrochen war (Male and Female), ließ er sein Tablett mit Halbedelsteinen, Handtäschchen und Anstecknadeln bringen. Gloria durfte sich zur Belohnung etwas Schönes aussuchen. DeMille wusste wahrscheinlich selber nicht genau, ob dieses Tablett mehr zu ihm als Privatmensch oder mehr zu seiner Regisseurs-Persona gehörte.

Male and Female

Zur Entspannung zog er sich auf sein Anwesen in der Nähe von Los Angeles zurück, mit Blockhaus und eingebauter Orgel (im Aztekenstil), das nur durch ein enges Tal zu erreichen war und das er "Paradise" nannte. Im Paradies bewirtete er ausgewählte Gäste (grundsätzlich ohne deren Ehepartner). Kaum jemand sprach darüber, was dort vor sich ging, weil er oder sie sonst nicht mehr eingeladen worden wäre. Es war wohl so, dass DeMille in der Abgeschiedenheit des Little Tujunga Canyon gelegentlich einige seiner bizarreren Phantasien ausagierte, dass er mit Gästen Szenen aus seinen Filmen nachstellte oder ausprobierte, was er erst noch inszenieren wollte. Ins Paradies zog er sich zurück, um mit seiner Hausautorin Jeanie Macpherson an Drehbüchern zu arbeiten. Mit Jeanie tauschte er nicht nur Ideen, sondern auch Körperflüssigkeiten aus.

Würde man sein Leben verfilmen, müsste man unbedingt einen - von Scott Eyman im DeMille-Archiv entdeckten - Liebesbrief einbauen, den er an seine Gattin Constance schrieb, als er im Dezember 1913 im Zug nach Westen saß, um der Begründer von Hollywood zu werden. Schon Freud hat sich seine Gedanken über die luststeigernde Wirkung des Zugfahrens gemacht (und die daraus resultierenden "nächtlichen Pollutionen"). DeMille war schlicht geil, als er seiner Frau brieflich berichtete, wie gern er wilden, exotischen, von den Fesseln der bürgerlichen Wohlanständigkeit befreiten Sex mit ihr haben und dass er ihr auch jederzeit beibringen würde, was dazu erforderlich sei. Das Problem war nur, dass Constance an Sex nicht interessiert war und sich aus dem gemeinsamen Ehebett zurückzog, als sie Cecil eine Tochter geschenkt und eine Fehlgeburt erlitten hatte (das Paar adoptierte drei weitere Kinder, darunter den unehelichen Sohn von Cecils Bruder Bill).

Es ist verlockend, diesen Brief so zu interpretieren, dass da jemand voll sexueller Erregung nach Westen fährt und dann als einer der großen Erotomanen Hollywoods Filme dreht, mit denen er sich eine Ersatzbefriedigung verschafft, weil seine Frau nicht mit ihm schlafen will. Doch so einfach ist die Sache nicht. DeMille blieb Constance - auf seine Weise - treu ergeben, hatte aber, mit Wissen seiner Frau, drei langjährige Geliebte (gleichzeitig), die zu seinem festen Mitarbeiterstab gehörten und ihm privat das gaben, woran seine Gattin kein Interesse hatte. Das scheint gut funktioniert zu haben. In Hollywood war es ein offenes Geheimnis, dass sich DeMille einen Harem hielt. Große Mühe, das private Arrangement zu verbergen, gab er sich nicht, ohne dass es ihm geschadet hätte (bei Filmpremieren erschien er gelegentlich mit mehreren der Damen). Das zeugt von der starken Position, die er in Hollywood hatte.

Der virile DeMille musste also nicht unbedingt Filme machen, um seine Libido zu befriedigen (übrigens schlief er aus Prinzip nicht mit seinen Stars - Gloria Swanson wäre nicht abgeneigt gewesen -, weil das die Dreharbeiten erschwert hätte). Bleibt noch die Frage, was von jemandem zu halten ist, der sich wie ein kleiner Sultan geriert, während er seine Filme bei jeder Gelegenheit mit Bibelsprüchen anreichert und dann sogar einen dreht, in dem die Zehn Gebote verherrlicht werden. War er ein Heuchler, ein scheinheiliger Mensch? Ich glaube nicht. Die Bibel war für DeMille wirklich das Buch der Bücher, und er versuchte auch, sich nach ihr zu richten. Er war viel weniger skrupellos als die anderen Potentaten Hollywoods. Wer den Atelier-Diktator als Inszenierung durchschaut hatte, erlebte einen freundlichen, loyalen Menschen, der zur Stelle war, wenn Freunde, Bekannte und verdiente Mitarbeiter finanzielle oder sonstige Hilfe brauchten.

DeMille leistete sich nur in manchen Belangen eine andere Interpretation der Bibel als die der institutionalisierten Kirchen. Die Botschaft von The Ten Commandments lautet: Wir brauchen einen Gott der Liebe (gern auch der körperlichen), nicht des Zorns. Deshalb fällt einer bigotten Mutter, die ihren Sohn in den Atheismus treibt, weil sie einen Gott lehrt, den man fürchten muss, die brüchige Wand einer Kathedrale auf den Kopf. Allerdings taten sich DeMille und seine Drehbuchautorin Jeanie Macpherson (eine der drei Langzeitgeliebten) zunächst sehr schwer damit, wie der Stoff zu dramatisieren war und was die Aussage sein sollte. Die zündende Idee, eine Abrechnung mit der Bigotterie, kam den beiden erst, als sich DeMille mit den Folgen eines Alkoholschmuggels herumschlagen und einen Sexskandal verhindern musste, der die Karriere von Gloria Swanson hätte zerstören können.

Sodom und Gomorra

Zwei der größten Hollywood-Skandale der 1920er gingen von der zum Paramount-Imperium gehörenden Famous Players-Lasky Corporation aus, dem Studio von Cecil B. DeMille. 1921 wurde der Starkomiker Roscoe "Fatty" Arbuckle wegen Vergewaltigung mit Todesfolge angeklagt, was wochenlang die Schlagzeilen bestimmte. Ebenfalls bei den Famous Players unter Vertrag stand der Regisseur William Desmond Taylor, der am 1. Februar 1922 tot aufgefunden wurde, mit einer Schusswunde im Rücken. Den Moralaposteln, die ohnehin der Meinung waren, dass Hollywood das Sodom und Gomorra der amerikanischen Westküste sei, lieferte das neue Munition.

Derart unter Beschuss geraten, sahen sich die Studiobosse zu einer PR-Maßnahme genötigt, die noch weitreichende Folgen haben würde - allerdings nicht gleich, sondern erst, als DeMille The Sign of the Cross drehte. Die neu gegründete Motion Picture Producers and Distributors Association sollte Hollywood den Anstrich einer kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit geben, wie man sie in der amerikanischen Provinz erwartete. Als Chef der Organisation wurde ein Mann gewonnen, der wusste, wie man Korruption hinter einer Nebelwand aus Scheinmoral und angeblicher Gottesfürchtigkeit verschwinden ließ. Will Hays, früher Anwalt eines berüchtigten Ölbarons, Würdenträger der Presbyterianer und Funktionär der Republikanischen Partei, hatte für Warren Harding illegale Wahlkampfspenden in Höhe von acht Millionen Dollar gewaschen und war nach Hardings Wahl zum Präsidenten mit dem Amt des Postministers bedacht worden. Hays war also bestens vernetzt, als er seinen neuen Job antrat, zu dem ein Penthouse in Manhattan, ein jährliches Salär von 150 000 Dollar und ein großzügiges Spesenkonto gehörten. So musste er nicht hungern und konnte sich ganz darauf konzentrieren, die Botschaft vom einfachen, bibeltreuen Leben zu verbreiten.

Auf der anderen Seite des Landes leistete sich Cecil B. DeMille eine Jacht, die Seaward. Beruflich kündigte er an, die Bibel verfilmen zu wollen, worauf er jeden Angestellten des Studios mit einem Exemplar des Buchs der Bücher beschenkte - verbunden mit der Empfehlung, täglich darin zu lesen. Er und seine Drehbuchautorin Jeanie Macpherson wussten nur noch nicht, wie sie die Sache angehen sollten, während die Presse bereits darüber lästerte, dass DeMille anschließend das Telefonbuch, die sieben Todsünden und die klassischen Dosensuppen verfilmen werde. Dann konfiszierten die Behörden die Seaward, weil der Kapitän der Jacht versucht hatte, knapp 80 Liter hochwertiger, in Mexiko gekaufter Alkoholika ins Land zu schmuggeln. Das war ein Verstoß gegen die Zollbestimmungen und - schlimmer - gegen das Prohibitionsgesetz. Der Kapitän musste eine hohe Geldstrafe bezahlen. DeMille ging straflos aus, weil er nichts gewusst hatte (oder weil der Kapitän den Mund halten konnte).

Gravierender war das, was sich im Februar 1923 über Gloria Swanson zusammenbraute. Sie war mit einem Herrn namens Herbert Somborn verheiratet, lebte seit einem Dreivierteljahr von ihm getrennt und hatte nur auf Anraten des Studios nicht die Scheidung eingereicht; so kurz nach dem (bis heute) unaufgeklärten Taylor-Mord und dem Sensationsprozess um Fatty Arbuckle hatte man dort große Angst vor einem weiteren Skandal. Moralisch fühlte Gloria sich im Recht, Affären mit Kollegen wie dem DeMille-Stammschauspieler Thomas Meighan oder Rod La Rocque zu haben, mal abwechselnd und mal auch gleichzeitig. Vor dem Gesetz war sie eine Ehebrecherin. Als sie auf Europareise ging, wurde sie von dem Drehbuchautor, Regisseur und Darsteller Marshall Neilan begleitet. Das nahm ihr Gatte zum Anlass, sie zu erpressen. Die Rede war von mindestens 150 000 Dollar. Andernfalls drohte Somborns Anwalt mit einem Prozess, bei dem er ein gutes Dutzend Zeugen vorladen werde (darunter DeMille, Lasky und Zukor, die Granden der Famous Players).

Während Somborns Forderungen immer exorbitanter wurden, nahm DeMille die Verhandlungen auf. Im März 1923 einigte man sich auf eine Einmalzahlung von 35 000 Dollar. Swanson gab der Erpressung nicht zuletzt deshalb nach, weil Will Hays ein Telegramm geschickt hatte, in dem es hieß, dass ihre Karriere vorüber wäre, falls der Skandal ruchbar werden sollte. Unklar ist, ob Hays das Telegramm aus eigenem Antrieb schickte, ob er es überhaupt schickte, oder ob es in seinem Namen geschickt wurde, ohne dass er etwas davon wusste. DeMilles Rolle ist undurchsichtig. Für die, die ihn gut kannten, steht außer Frage, dass seine Loyalität in erster Linie dem Studio galt, das er mit aufgebaut hatte. Am Ende bekam Somborn von seiner Frau die 35 000 Dollar. Diese musste sich das Geld beim Studio leihen.

Swanson revanchierte sich, indem sie zwei Zusatzklauseln zu ihrem Vertrag akzeptierte. Von nun an drehte sie einen Film mehr pro Jahr, bis die Schuld abbezahlt war. Da sie pro Woche und nicht pro Film entlohnt wurde, war das praktisch eine Gagenkürzung. Der Beinahe-Skandal ist ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie hinter den Kulissen Studiopolitik gemacht wurde. Swansons Arbeitgeber ließ sich außerdem (Klausel 2) das Recht zusichern, sie umgehend und ohne Abfindung zu feuern, falls sie "bei ehebrecherischem Verhalten oder unmoralischen Beziehungen mit anderen Männern als ihrem Gatten" ertappt und darüber in der Presse berichtet wurde. Unmoralische Beziehungen mit dem Ehemann waren scheinbar erlaubt. Man fragt sich unwillkürlich, ob dieser Passus DeMille geschuldet ist, dem Freund unbürgerlicher Sexualpraktiken.

Weit ist die Prärie

Die Aufregungen um den gescheiterten Alkoholschmuggel, Gloria Swansons Liebesleben und ihren erpresserischen Gatten befruchteten die Arbeit an den Zehn Geboten. Das Thema des Films würde nun die Scheinheiligkeit sein - die der anderen und ein klein wenig wohl auch die eigene. Jeanie warf alle bisherigen Pläne über Bord und schlug vor, eine Geschichte in zwei Teilen zu erzählen: Teil 1 sollte eine Verfilmung des Buchs Exodus sein, Teil 2 in einer amerikanischen Großstadt der Gegenwart spielen. So ließ sich die Aktualität der Zehn Gebote demonstrieren, und DeMille hatte den Freiraum, den er brauchte, denn man durfte mehr zeigen, wenn es im biblischen Gewand und als Warnung vor der Sünde daherkam. Der Anfang in Ägypten musste schon deshalb sein, weil Howard Carter 1922 die Grabkammer des Tutenchamun gefunden hatte und DeMille hoffte, von der dadurch ausgebrochenen Ägyptomanie profitieren zu können. Obwohl stolz auf die Genauigkeit der historischen Recherche, die er vor jedem Film anstellen ließ und auch selbst betrieb (er hatte eine erlesene, stetig wachsende Bibliothek), siegte im Zweifel oft der Instinkt des Showman über die Authentizität. Deshalb war er nur schwer davon abzubringen, Tutenchamun zum Zeitgenossen von Moses zu machen.

Bei der Stadt des Pharao verzichtete DeMille auf optische Spezialeffekte, weil ihn diese bei der Wahl der Kamerapositionen eingeschränkt hätten. Am 21. Mai 1923 erreichten vier offene LKW mit insgesamt 21 Sphinxen aus Beton, jeweils mehr als acht Meter hoch und fünf Tonnen schwer, die Guadalupe-Nipomo-Dünen an der kalifornischen Küste, etwa 250 Kilometer nördlich von Los Angeles (nicht weit von Santa Maria). Dort wurde unter der Aufsicht von Paul Iribe, einem der Gründer der Art-Deco-Bewegung, gerade eine 250 Meter lange Stadtmauer mit ägyptischen Basreliefs und einem 36 Meter hohen Eingangstor gebaut, flankiert von zwei zwölf Meter hohen Pharaonenstatuen. In den Dünen wurde eine Zeltstadt für 2500 Personen und 3000 Tiere errichtet. DeMilles Zelt war mit echten Perserteppichen ausgelegt, er selbst spielte den Heerführer aus alter Zeit und ging mit militärischer Präzision an die Realisierung seines bisher ehrgeizigsten Projekts. Keiner in Hollywood konnte (und kann) Massenszenen so gut ins Bild setzen wie Cecil B. DeMille. Wie schwierig das ist, und wie grandios man daran scheitern kann, mussten selbst große Regisseure wie Howard Hawks erfahren (Land of the Pharaohs).

Die Soldaten des Pharao wurden von in Monterey stationierten Kavalleristen gedoubelt, was für niemanden am Set ganz ungefährlich war, weil die erfahrenen Reiter erst lernen mussten, mit ägyptischen Streitwagen umzugehen; dass sich die Musiker des Palm Court Orchestra, die sonst im Ritz Carlton in New York spielten und für die von DeMille gewünschte Atmosphäre sorgen sollten, beim Ausbrechen der Pferde lieber niederreiten ließen, als die Anweisungen des Regisseurs zu missachten, weil sie mehr Angst vor DeMille als vor den Streitwagen hatten, ist allerdings eine PR-Erfindung. Das Rote Meer teilte Moses am Strand bei Guadalupe, diesmal mit Spezialeffekten. Das Orchester spielte dazu den 2. Satz aus Dvořáks 9. Symphonie ("Aus der neuen Welt"), um die Israeliten in die richtige Stimmung zu versetzen.

The Ten Commandments

Dvořáks Largo war eigentlich von Longfellows Hiawatha (Winnetous Lektüre im Roman von Karl May) inspiriert und sollte die endlosen Weiten der Prärie hörbar machen, aber egal. Die Komparsen, die da aus Ägypten auszogen, waren auch keine echten Israeliten, sondern großteils orthodoxe Juden aus Los Angeles, und immerhin war die Kavallerie mit dabei. Jedenfalls müssen Dreharbeiten mit Cecil B. DeMille ein unvergessliches Erlebnis gewesen sein. Als die Außenaufnahmen beendet waren, blieb die Frage, wie man verhindern konnte, dass jemand in den Kulissen rasch einen eigenen Film drehte und diesen noch vor The Ten Commandments in die Kinos brachte. Die Lösung des Problems: Man legte einen langen Graben an, schob mit Bulldozern das alte Ägypten dort hinein und schüttete den Graben wieder zu. Die Sphinxen und die Stadtmauer liegen da bis heute. Wer ein Filmarchäologe werden will, sollte hinfahren und nachsehen, was sich finden lässt. Und wer wissen will, wie es der Regisseur der Zehn Gebote mit selbigen hielt, oder wenigstens mit der Nummer 6, lese die Berichte über die feierliche Galapremiere in New York. Da erschien DeMille nicht mit einer seiner Langzeitgeliebten oder mit zweien, sondern gleich mit allen dreien (Jeanie Macpherson, Julia Faye, Gladys Rosson).

Gott der Lust

DeMille ging immer mit viel Verve zur Sache, wenn er die Sünde auf die Leinwand brachte - schließlich musste man wissen, wovor man sich zu hüten hatte. Deshalb ist auch der Tanz um das goldene Kalb in den Ten Commandments von 1956 sehr sehenswert. Aber in der ersten Version ist er deutlich besser, weil es noch keinen Production Code gab. Das goldene Kalb, auf das Charlton Heston 1956 die Steintafel mit den Zehn Geboten schleudert, ist genau das: ein goldenes Kalb. Debra Paget wird zu seinen Füßen festgebunden, als solle sie dem Hedonismus geopfert werden. Das ist ein Überrest der Bondage-Szenen, die DeMille mit Hingabe inszenierte, wenn man ihn ließ. Debra Paget als Lilia aber hat gar keine Freude an dem, was ihr da widerfährt. Das wäre in den 1950ern auch nicht erlaubt gewesen. Kaum sind die Fesseln durchgeschnitten, rettet sie sich in die Arme des braven Joshua. Nur in den Pressephotos wurde angedeutet, dass sie dem Götzen gegenüber mehr verspüren könnte als Angst und Abscheu.

The Ten Commandments (1956)

Die Orgie von 1923 übertrifft alles, was DeMille bisher geleistet hatte, um die Sünde anzuprangern (die Meßlatte lag da schon sehr hoch). Das ist nicht nur Chaos und Durcheinander, sondern eine sorgfältig inszenierte Choreographie. Alle Mitwirkenden wissen genau, was sie zu tun haben, und deshalb ist das, was sich da abspielt, während Moses seine Gesetzestafeln vom Berg Sinai holt, so wüst. Offensichtlich konnte man damals in einer Hollywood-Großproduktion zeigen, wie zwei Männer eine in einer Art Lustschaukel schwingende Frau vom Kopf und von den Füßen her angehen (Lecken inklusive). Aber Körper, die orgiastisch ineinander verschlungen und dabei nackt sind, waren auch 1923 verboten. Also weist uns wenigstens eine Titelkarte darauf hin, dass sich die Israeliten erst mal auszogen, bevor sie sich korrumpieren ließen. Den Rest, hofft DeMille, erledigt die Phantasie des Publikums. (Fleischfarbene Trikots suggerieren soviel Nacktheit, wie eben möglich war.)

The Ten Commandments

Das Kalb, sagt Miriam (verkörpert von Estelle Taylor), ist der "goldene Gott der Lust". Wie hat man sich den vorzustellen? Bei DeMille sieht er aus wie ein überdimensionaler, in einem Winkel von 45 Grad nach oben ragender - pardon - Penis. Miriam muss nicht gefesselt werden, um diesem Gott die Referenz zu erweisen. Sie kniet vor dem Kalb und poliert es mit ihren langen Haaren blitzblank. Man glaubt das kaum, wenn man es nicht gesehen hat. Vermutlich stand DeMille am Megaphon und forderte, wie früher bei den Badeszenen von Gloria Swanson, "more rapture". Hingerissen waren auch die Kinogeher. Der Film war einer der ganz großen Publikumserfolge der 1920er, ein Event, das seinesgleichen suchte, und es gab Hymnen der Begeisterung. "It has outDeMilled DeMille", schrieb Thomas Ince an seinen Regisseurskollegen, und Will Hays verkündete, es sei mehr als nur ein Film, sondern vielmhr "eine Institution". In zahlreichen Kirchen wurden Leinwände aufgespannt, um das Werk mitten in Gottes Haus zu zeigen. Im Egyptian Theatre in Los Angeles, wo die Zehn Gebote ihre Westküstenpremiere erlebten, stand das Goldene Peniskalb wochenlang auf dem Dach.

The Ten Commandments

In der Bibel (Buch Numeri 12, 1-15) wird die widerspenstige Miriam von Gott mit Aussatz gestraft, weil sie gegen Moses aufbegehrt und zersetzende Dinge sagt. Bei DeMille kriegt sie die Lepra, weil sie das goldene Kalb verehrt. Interessanterweise sind nur ihre Hände betroffen. Bei DeMille muss man immer mit einem doppelten Boden rechnen, und die Bibel ist nie nur die Bibel. Als belesener Mensch dürfte er gewusst haben, dass die alten Puritaner des 18. Jahrhunderts keineswegs so lustfeindlich waren, wie man meinen könnte, wenn man nur Hawthornes The Scarlet Letter kennt. Sie schrieben sehr erotische Gedichte, und die leprösen Hände sind da solche, mit denen man sich, nun ja, beschmutzt hat. Ich will das hier nicht weiter ausführen, weil sonst noch einer denkt, dass ich auch ein Erotomane bin. Lassen wir die Bilder für sich selber sprechen.

Das goldene Kalb hat eine Schnauze mit zwei großen Nüstern und offenem Mund. Die Schnauze ist lang und vorstehend genug, damit Miriam auch diesen Teil des Kalbs verehren kann, nachdem sie zuvor den Leib der Götzenstatue poliert hat. Einer von mehreren Höhepunkten der Orgie ist erreicht, als sie einen Pokal an die Schnauze des Gottes der Lust hält und mit der Flüssigkeit füllt, die da herauskommt. Sie trinkt aus dem Pokal, den Rest spritzt sie in die verzückte Menge. Weil all das nur über die Leinwand flimmert, damit der Zuschauer weiß, wovor er sich zu hüten hat, kommt Moses vom Berg Sinai herabgestiegen und kündigt Gottes Zorn an. Das ist jetzt der Gott des Alten Testaments, nicht der der Lust. Gott lässt sich nicht lange bitten und schickt, als Auftakt eines 3000 Menschen tötenden Strafgewitters, einen Blitz vom Himmel, der den Felsen mit dem goldenen Kalb sprengt.

The Ten Commandments

DeMille unterstützte Gottes Zorn mit Dynamit und zwölf Flugzeugmotoren, die einen so gewaltigen Wind erzeugten, dass der Moses-Darsteller Theodore Roberts von seinem Postament geweht wurde, sich Estelle Taylor überschlug und das goldene Kalb zerbrach, weshalb der in weiser Vorausschau angefertigte Ersatzphallus geholt werden musste, ehe es weitergehen konnte. Trotz des Tohuwabohus (natürlich begleitete das Orchester den Untergang mit orgiastischer Musik) behielt DeMille sein Auge für das suggestive Detail. Auf dem, was vom Felsen mit dem Kalb noch übrig ist, liegt ein Tigerfell: als Memento einer sündigen Zeit, die nun - was für ein Glück! - zu Ende ist. Auf diesem Fell hat sich kurz zuvor der auf der Besetzungsliste als "Dathan der Unzufriedene" geführte Lawson Butt mit Estelle Taylor vergnügt (Butt ist ein viel geilerer Dathan als der in die Jahre gekommene Edward G. Robinson, sein Nachfolger in der Version von 1956). Vielleicht war er gar nicht so unzufrieden, denn immerhin durfte er mit seiner Hand Estelles Busen streicheln, ehe er von Gott in den Abgrund gestürzt wurde. Was wohl Estelles zukünftiger Gatte davon hielt, der Boxweltmeister Jack Dempsey?

Gott der Scheinheiligen

Auch die Presse überschlug sich, vor Begeisterung. Hier, stellvertretend für viele andere, der Kritiker James R. Quirk im Photoplay Magazine (Februar 1924):

Das beste Lichtspiel aller Zeiten. Das größte Leinwandspektakel der Geschichte. Die größte Predigt über die Tafeln, welche die Grundlage aller je verkündeten Gesetze sind. Starke Worte, fürwahr, aber niedergeschrieben zwei Wochen nach Sehen des Werks, nach ernsthafter Miteinbeziehung von Griffiths Intolerance und Birth of a Nation. Es wird Bestand haben, solange das Filmmaterial Bestand hat, auf dem es festgehalten ist. Es wischt alle Vorwürfe vom Tisch, dass die Leinwand eine unmoralische Wirkung hat.

Genau. Auch ich bin dieser Meinung. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Publikum voller Abscheu das Kino verlassen hätte, wenn Moses und sein zorniger Gott der Orgie nicht im richtigen Moment - also, nachdem selbiges Publikum ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den damaligen Ausschweifungen vertraut zu machen - ein Ende bereitet hätte. Vom Strafgericht am Berg Sinai wird auf ein amerikanisches Familienidyll überblendet. Eine treu sorgende Mutter hat ihren beiden Söhnen aus der Bibel vorgelesen, um diesen zu verdeutlichen, was man zu gewärtigen hat, wenn man gegen die Zehn Gebote verstößt. DeMille teilt uns auf diese Weise mit, was er in den vergangenen zehn Jahren als Filmregisseur gelernt hat. Man darf die Sünde zeigen, auch mit Details, die der eine oder die andere im Kinosaal vielleicht noch gar nicht kannte. Wenn man am Schluss sagt, dass die Sünde etwas Schlechtes ist, ist alles gut.

The Ten Commandments

Für die schmutzige Phantasie der Gaffer kann der Gerechte nichts. Da war zum Beispiel der Frauenschwarm John Gilbert, der Leatrice Joy während der Dreharbeiten zu Manslaughter mit seiner Eifersucht quälte und nicht glauben wollte, dass sich seine Angetraute vor der Kamera der spätrömischen Dekadenz hingab, ohne diese auch privat auszuprobieren, unter Anleitung ihres Regisseurs (wie schon gesagt: DeMille hätte das nie gemacht, weil es schädlich für den Film sein konnte - Julia Faye, die Schauspielerin unter seinen drei Geliebten, übernahm nur kleine Nebenrollen und war leicht zu ersetzen). Bei The Ten Commandments konnte sich Leatrice ganz auf ihren Partner Rod La Rocque konzentrieren, weil Gilbert das gemeinsame Haus bereits verlassen hatte. Leatrice Joy und Rod La Rocque - wer sich da nicht für die glorreiche Stummfilmzeit begeistern kann, ist der ewigen Verdammnis schutzlos ausgeliefert.

The Ten Commandments

Leatrice spielt die junge Mary und steht vor der Wahl, ob sie verhungern oder sich prostituieren soll. Bevor sie diese Entscheidung trifft, oder möglicherweise auch danach (verhungern tut sie jedenfalls nicht), wird sie von den Brüdern John und Dan McTavish aufgenommen. Man kann da an die Weihnachtsbotschaft denken und an den Stall von Bethlehem. Mrs. McTavish jedoch, die Mutter, liest nur im Alten Testament. Darum stellt sie den Brüdern alsbald ein Ultimatum: die da oder ich. Die da, sagt Dan (La Rocque) und verlässt mit Mary das Haus, um fortan - halb aus Neigung und halb aus Trotz - die Zehn Gebote zu brechen, eines nach dem anderen. Seltsamerweise beginnt dieses Leben in Sünde damit, dass er Mary heiratet. So ist das oft bei DeMille: die Eheschließung markiert nicht, wie im Hollywood-Film üblich, den Sieg der Moral, sondern den Anfang der Unmoral. Bruder John (Richard Dix), der brave Zimmermann, bleibt daheim bei Mutti.

The Ten Commandments

Auch John liebt Mary, und zwar reiner und echter als der böse Dan, aber Mary wird noch eine Weile brauchen, um das herauszufinden. Als es soweit ist, hat Dan bereits erfahren, dass derjenige, der gegen die Zehn Gebote verstößt, von diesen zerbrochen wird wie von der Mutter vorausgesagt. Wer mag, kann darin einen Sieg des Guten sehen. Die Reaktion auf den Film zeigt, dass dieses Angebot dankend angenommen wurde. Allerdings hat DeMille, der alte Trickser, einen Widerhaken eingebaut. Bevor John und Mary miteinander glücklich werden können, wird die bigotte Mutter, die Vertreterin einer alttestamentarischen Moral, von der Wand einer im Rohbau befindlichen Kirche erschlagen. Das Gotteshaus stürzt ein, weil der Beton mit Sand gestreckt wurde oder, im übertragenen Sinn, weil es aus lauter Scheinheiligkeit besteht. (Den Doktor, der feststellt, dass Mrs. McTavish nicht mehr zu retten ist, verkörpert übrigens Charles Ogle, das erste Frankenstein-Monster der Filmgeschichte - in der Edison-Produktion von 1910.)

The Ten Commandments

Ende Juli 1923 sorgte DeMille für einen Menschenauflauf in San Francisco, weil er bei der gerade im Bau befindlichen Peter-und-Pauls-Kirche drehte. Leatrice Joy wurde von großem Jubel begleitet, als sie in einem offenen, gefährlich schwankenden Lastenaufzug nach oben fuhr. Am Ende des Baugerüsts, auf einer Plattform in 70 Metern Höhe, wurde sie von DeMille und mehreren Kameras erwartet. King Vidor erinnerte sich an die Szene, als er mit Gary Cooper Ayn Rands Roman The Fountainhead verfilmte. Überhaupt hat man beim Sehen von DeMille-Filmen viele Deja-vu-Erlebnisse.

Popcultura religiosa

Die Femme fatale im modernen, wunderbar trashigen Teil der Ten Commandments ist die Eurasierin Sally Lung (Nita Naldi), entflohen aus einer Leprakolonie irgendwo zwischen Kalkutta und San Francisco. Ihr verfällt natürlich Danny, und als er erfährt, dass sie ihn angesteckt hat (mit Lepra oder doch mit der Syphilis?), schießt er sie tot. Die sterbende Sally reißt die Befestigungsringe eines Vorhangs ab. Das wiederholte dann Marion Crane (Janet Leigh) in Psycho. Hitchcocks Duschszene kann man auch mit Gloria Swansons Badezimmer-Auftritten bei DeMille in Bezug setzen. Das ist sehr aufschlussreich.

The Ten Commandments

Weil die schöne Mary den zum Mörder gewordenen und von der Polizei gesuchten Danny in ihrem Bett versteckt hat (dieser Film ist einfach grandios), fürchtet sie, nun auch an der Lepra erkrankt zu sein. Im Dunkel der Nacht glaubt sie, dass ihre Hände bereits gezeichnet sind. Doch bei Tageslicht besehen, und nun endlich in der einfachen Zimmermannswohnung des braven John angekommen, der ihr aus der Bibel vorliest, erweist sich das als Irrtum. Mary kann jetzt Gott danken und John heiraten, wogegen selbst der Papst nichts einzuwenden haben dürfte, weil Danny die Ehescheidung überflüssig macht, indem er mit seinem Motorboot an einem Felsen zerschellt. Bei einem Film, der so mit religiöser Symbolik um sich wirft wie dieser, darf man da an Petrus denken. (Matthäus, Kapitel 16: "Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.")

The Ten Commandments

The Ten Commandments bietet jede Menge Religionskitsch von der Art, wie ihn der Mittlere Westen liebt. Weil DeMille aber DeMille ist, kommt das mit viel Ironie daher. John liest am Schluss aus dem Neuen Testament vor, weil es dort um Liebe und Vergebung geht und nicht um Zorn und Strafe wie in dem Teil der Bibel, aus dem seine Mutter so gern zitierte. Aber bei Matthäus, Markus und Lukas heilt Jesus einen leprakranken Mann. Bei DeMille ist es eine Frau. So schreibt er kurzerhand das Evangelium um, damit es besser zur Geschichte passt (in der zweiten Version der Zehn Gebote korrigiert er das Versäumnis der Bibel, fast nichts über die ersten 30 Jahre in Moses’ Leben zu berichten). Gott wird bei DeMille häufig durch ein Licht symbolisiert. Doch die Lichtsetzung in seinen Filmen überwacht DeMille. Der göttliche Lichtstrahl ist auch der Strahl, in dessen Licht wir auf der Leinwand die Filmwelt sehen, die DeMille geschaffen hat.

The Ten Commandments

Wer also ist Gott, und wo befindet er sich? Irgendwo im Spannungsfeld aus Selbstironie, Selbstüberhebung, Blasphemie und religiöser Durchdrungenheit jedenfalls darf man Cecil B. DeMille vermuten. Wahrscheinlich kam er damit durch, weil er wirklich sehr religiös war (aber in einem eher pantheistischen Sinn, das zeigen seine Filme), weil er die Rhetorik der bibeltreuen Fundamentalisten souverän beherrschte und weil er sehr geschickt den Naiven gab, der die Bibel ganz wörtlich nimmt. Das befriedigte die konservativen Christen genauso wie seine Kritiker, die reichlich Gelegenheit erhielten, ihn als den Propheten einer unintellektuellen und niveaulosen Popkultur zu schmähen.

Wie gut DeMille das machte, demonstriert Katherine Orrison mit ihrem Audiokommentar zur DVD (im 3er-Set der Paramount enthalten). Diese enthusiasmierte Dame hat zwei Bücher über DeMille veröffentlicht (ein drittes wird im Kommentar angedroht) und war so von seinem Image geblendet, dass sie den Film nicht mehr erkennen konnte. Das Kino, sagt sie, ist eine Zeitmaschine. DeMille haben wir es zu danken, dass wir nun sehen können, wie das damals, als Moses von Gott die Zehn Gebote empfing, gewesen ist. Die Selbstinzenierung namens "DeMille" hätte das genauso sagen können. DeMille der Regisseur wusste genau, dass die Kinematographie radikal der Gegenwart verpflichtet ist, nicht der Vergangenheit. Ein Film entsteht in jedem Augenblick, in dem wir uns ihn anschauen, ganz neu, und DeMille hätte das bestimmt nicht anders haben wollen. Orrisons These führte er höchstpersönlich ad absurdum, indem er die Rückkehr der Israeliten ins Gelobte Land nicht einmal, sondern zweimal inszenierte. Wie also, falls das Kino eine Zeitmaschine ist, müssen wir uns Moses vorstellen: wie den Knattermimen Theodore Roberts in der Version von 1923, oder doch wie Charlton Heston, den zukünftigen Präsidenten der National Rifle Association?

The Ten Commandments

Manche von DeMilles Figuren - biblisch oder im modernen Gewand - glauben an einen Gott, der auf seiner Wolke thront. Er selbst interessiert sich mehr für das Irdische und das Gegenwärtige. Die Zehn Gebote werden Moses per Vulkanausbruch übermittelt, kommen also aus dem Inneren der Erde und nicht vom Himmel, auch wenn sie dort erscheinen: in Form von Leuchtreklamen wie am Broadway. Gott ist ein Showman. Wie es sich gehört, führte DeMille die von ihm geschaffene Medien-Persona "DeMille" mit seinem letzten Werk ihrer Apotheose zu. Das wirkt bis heute nach. Zu Beginn der zweiten Ten Commandments tritt er vor den Vorhang, hinter dem sich das Heiligtum des Kinokults befindet, die Leinwand, um einleitende Worte zu uns zu sprechen. Ich würde keine Gewähr dafür übernehmen, dass er da selbst noch genau wusste, wo DeMille aufhörte und wo der seit Jahrzehnten gespielte "DeMille" anfing.

The Ten Commandments (1956)

Dasselbe gilt für einen der längsten Trailer der Filmgeschichte (1956), in dem DeMille über die Bibel, Moses in der Kunstgeschichte sowie dies und das doziert, um dann die Moses-Story zur tollen Abenteuergeschichte zu erklären und zur Parabel auf den Kalten Krieg, mit Ramses als Stalin und mit Informationen über das Liebesleben des biblischen Heerführers Joshua (er hatte was mit Debra Paget), die es nicht im Buch der Bücher gibt, sondern exklusiv bei ihm, bei Cecil B. DeMille. Hitchcock parodiert dieses Kleinod der Popcultura religiosa mit seinem Trailer zu The Birds, wo Hitch Wissenswertes über Mensch und Vogel vorträgt wie DeMille über Gott und die Welt, Gott und den Menschen, Mann und Frau.

Trailer zu "The Ten Commandments" und "The Birds"

Die erste Version der Ten Commandments spielte locker das Dreifache der Produktionskosten von 1,5 Millionen Dollar ein, brachte Adolph Zukor aber trotzdem in Rage, weil DeMille doppelt soviel ausgegeben hatte wie geplant. In den ersten Jahren hatte DeMille mehr oder weniger die vereinbarten Budgets eingehalten, seit einiger Zeit überschritt er sie deutlich. Bei den Zehn Geboten brach ein Konflikt offen aus, der schon eine Weile am Köcheln war. Es fällt nicht allzu schwer, Partei für DeMille zu ergreifen, ohne den es die Firma Famous Players-Lasky nicht gegeben hätte und der sich nun sogar mit Zukor über eine Klausel in seinem Vertrag herumstreiten musste, die ihm eine vom Studio zur Verfügung gestellte Kopie eines jeden seiner Filme garantierte (ein großer Teil seines Werkes ist heute noch erhalten, weil er sich frühzeitig um eine Archivierung bemühte). Zukor tat schließlich das, was Studiobosse oft taten, um unbequem gewordene Stars in ihre Schranken zu verweisen: er heuerte jemanden an, der dem Star signalisieren sollte, dass er ersetzbar war (in diesem Fall D. W. Griffith, den Regisseur der Monumentalfilme Birth of a Nation und Intolerance).

DeMille verstand die Botschaft wohl. In der zweiten Januarwoche des Jahres 1925 meldeten die Fachblätter, dass er die Famous Players verlassen werde. Zukor hatte sich auch über DeMilles Mitarbeiterstab geärgert, der loyal zum Chef stand und erst danach die Wünsche des Studios erfüllte. DeMille nahm alle mit, gründete eine Firma und übersiedelte in die Thomas Ince Studios in Culver City, gleich bei den Ateliers der Metro-Goldwyn-Mayer (Sam Goldfish alias Goldwyn, DeMilles alter Partner und streitlustig wie eh und je, war dort schon hinausgedrängt worden, ehe sich das Unternehmen nach mehreren Fusionen diesen Namen gab). Einen Geldgeber fand er, als er Jeremiah Milbank, einem konservativen und sehr religiösen Geschäftsmann mit einer Immobilien- und Anlagefirma, von seinem nächsten Projekt vorschwärmte: es sollte The King of Kings heißen und die Geschichte von Jesus Christus erzählen. Aber ohne Heilige, die immer nur ergriffen zum Himmel schauen.

Folglich in Teil 3 [2]: Im Zeichen des Kreuzes: Ein schwuler Imperator, eine Wanne voller Eselsmilch und die Legionäre der Anständigkeit


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