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Moskau-Terror zeigt, wie Russland und USA ihre gemeinsamen Feinde ignorieren

Anatol Lieven

Blumenmeer vor der Crocus City Hall in Moskau nach dem Terroranschlag. Bild: Screenshot Democracy Now

Moskau und Washington setzen falsche Prioritäten. Bei Bedrohungen gibt man sich Hirngespinsten hin. Dabei übersieht man Gefährdungen, die real sind. Gastbeitrag.

Der Terroranschlag des Islamischen Staates (IS) in Moskau ist die deutlichste Erinnerung daran, dass Russland und der Westen trotz des Krieges in der Ukraine immer noch einige der gleichen Feinde haben.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow fĂĽr Russland und Europa am Quincy Institute.

Was die Terroristen – für die ISIS-K, ein afghanischer Ableger des IS, die Verantwortung übernommen hat – in Moskau getan haben, führten sie auch in Paris und Manchester aus – und werden es in New York und Washington tun (und haben es am 11. September getan), wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen.

Angriffe von USA, Nato direkt auf Russland absurd

Dieser Schrecken ist auch eine Erinnerung an die fatalen Folgen des gegenseitigen Misstrauens. Offenbar haben die US-Geheimdienste die russische Regierung vor einem bevorstehenden Anschlag gewarnt [1] – und Präsident Putin hat das als "Provokation" der USA abgetan. Sollte der russische Geheimdienst die USA vor einem bevorstehenden Terroranschlag warnen, ist es nur allzu leicht vorstellbar, dass Washington in gleicher Weise reagiert.

Ferner sollte uns der Anschlag darüber nachdenken lassen, in welchem Maße Regierungen und Sicherheitseliten auf der ganzen Welt dazu neigen, die wahren Interessen und die Sicherheit ihrer Mitbürger – die zu verteidigen ihre erste Pflicht ist – aus den Augen zu verlieren. In ihrer obsessiven Konzentration auf die vermeintliche gegenseitige Bedrohung haben sowohl das russische als auch das US-amerikanische Establishment diese Pflicht vergessen.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat Washington sicherlich wichtige Interessen in Moskau gefährdet. Man bedrohte Russlands internationalen Status als Großmacht. Aber (zumindest bis zu Putins Einmarsch in die Ukraine und der Lieferung von Waffen und Geheimdienstinformationen durch die USA an die Ukraine) hat Washington nie einen einzigen russischen Bürger getötet.

Die Idee eines direkten Angriffs der USA und der Nato auf Russland (wie in der russischen Inlandspropaganda behauptet) ist immer absurd gewesen. Ein solcher Plan hat nie existiert.

Russland keine Bedrohung fĂĽr US-Territorium

Und überhaupt: Wenn Russland wirklich so verwundbar ist, wozu dient dann seine nukleare Abschreckung? In der Zwischenzeit haben islamistische Terroristen in diesem Zeitraum Hunderte von russischen Bürgern getötet: 1999, 2008 und 2010 in Wladikawkas [2], 2002 im Moskauer Dubrowka-Theater [3], 2004 in der Schule von Beslan [4] und jetzt wieder in Moskau.

Russland hat seinerseits (in viel geringerem Ausmaß) die internationalen Interessen der USA und Aspekte ihrer globalen Vormachtstellung gefährdet. Aber Russland stellte nie eine Bedrohung für das US-Territorium oder das Leben der US-Amerikaner dar. Russland ist dazu nicht fähig. Und man hat das (zumindest bis zum Ukraine-Krieg) auch nicht gewollt. Schließlich: Wozu ist die nukleare Abschreckung der USA überhaupt gut, wenn nicht zur Abschreckung einer solchen Bedrohung?

Die Vorstellung einer russischen Invasion in Nato-Länder entspringt halb aus dem paranoiden Hirngespinst des Kalten Krieg, halb aus der innenpolitischen Propagandalüge, mit der westliche Militärbudgets aufgestockt werden.

Im gleichen Zeitraum haben islamistische Terroristen am 11. September 2001 Tausende von normalen US-Bürgern getötet. In Boston haben sie es versucht. Sie verfolgen die feste Absicht, es noch einmal zu unternehmen, wenn sich die Chance ergibt. Sie haben zugleich Hunderte von Menschen in den mit den USA verbündeten Ländern in Europa umgebracht.

Konfusion der Prioritäten

Konfusion bei den Prioritäten hat auch die US-Politik und die Analyse der US-Medien bezüglich des Nahen Ostens tiefgreifend beeinflusst. Russische Beobachter haben nicht nachvollziehen können, dass die USA und ihre Verbündeten nach den Katastrophen im Irak sowie in Libyen darauf aus sein konnten, den Baath-Staat in Syrien zu stürzen, und damit Chaos und einen wahrscheinlichen Sieg des IS herbeizuführen (wie die CIA Präsident Obama sogar gewarnt hatte).

Die Russen fragten sich, wie es möglich sein konnte, dass Außenministerin Hillary Clinton Anfang 2011 auf die weitere Unterstützung der brutalen Diktatur von Hosni Mubarak in Ägypten drängte – mit der Begründung, dass andernfalls islamistische Extremisten triumphieren könnten – und dann später im selben Jahr die russische Unterstützung für die brutale Diktatur von Bashar al Assad als "verachtenswert" bezeichnete, obwohl sie aus genau denselben Gründen erfolgte.

Die einzige Erklärung, die man finden konnte, war, dass ein Großteil des US-Establishments von einem pathologischen Hass auf Russland besessen ist – und damit hatten sie nicht ganz unrecht.

Vor und während des zweiten Tschetschenienkriegs, der 1999 begann und durch blinde Feindseligkeit gegenüber Russland motiviert war, versuchten viele westliche Kommentatoren, die wachsende Rolle der islamistischen Extremisten in Tschetschenien zu übersehen und ihre Aktionen nicht als Terrorismus zu bezeichnen. Heute, obwohl der IS öffentlich die Verantwortung für den Anschlag in Moskau übernommen hat, versucht Präsident Putin, die Schuld auf die Ukraine zu schieben [5].

Die kriminelle Ignoranz der russischen Behörden

Solange er dafür keine echten Beweise vorlegen kann, sollten die russischen Eliten diesen Vorwurf zurückweisen. Andernfalls würden sie es wieder einmal versäumen, ihre Mitbürger gegen die realen Bedrohungen zu verteidigen, denen sie ausgesetzt sind.

Ebenso ist zu hoffen, dass kein westlicher Analyst der ukrainischen Behauptung – für die es keinerlei Beweise gibt – Beachtung schenken wird, dass diese Katastrophe Russlands das Werk der russischen Behörden war.

SchlieĂźlich stellt sich auch die Frage der Verantwortung. Es ist absolut unverzeihlich, dass nach der Warnung der USA und dem Beispiel des schrecklichen Terroranschlags auf ein Moskauer Theater im Jahr 2002 die Konzerthalle unbewacht gelassen wurde.

Das ist eine kriminelle Ignoranz seitens der russischen Behörden. Man kann nur hoffen, dass hochrangige Beamte aus Schamgefühl zurücktreten oder streng bestraft werden.

Die Frage nach Verantwortung

Aber wenn die jüngste Geschichte ein Anhaltspunkt ist, werden wir vergeblich hoffen, so wie wir vergeblich gehofft haben, dass US-Politiker und Offizielle persönliche Verantwortung für die Katastrophen übernehmen, in die sie die Vereinigten Staaten der vergangenen Generation geführt haben.

Es ist zum Teil eine Frage von Gesetzen und Institutionen, die in der Lage sind, die Eliten zur Rechenschaft zu ziehen – Dinge, die es in Russland nie gab und die im Westen schnell zerfallen.

Viel wichtiger ist jedoch, dass es sich um eine Frage des inneren Gewissens und des Pflichtgefühls handelt. Wir glauben gerne, dass wir in dieser Hinsicht besser sind als die Russen. Da wäre ich mir nicht so sicher.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original [6]. Ăśbersetzung: David GoeĂźmann [7].

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9666630

Links in diesem Artikel:
[1] https://edition.cnn.com/2024/03/23/europe/us-had-warned-russia-isis-was-determined-to-attack-intl-hnk/index.html
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/2010_Vladikavkaz_bombing
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Moscow_theater_hostage_crisis
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Beslan_school_siege
[5] https://www.nbcnews.com/news/world/putin-moscow-attack-isis-war-ukraine-crocus-rcna144826
[6] https://responsiblestatecraft.org/moscow-attack-terrorism/
[7] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html