Moskaus Außenpolitik: Blick nach China, Beziehungen zum Westen
In aktueller Krise sind Lehren aus Geschichte nötig. Und eine Abkehr vom totalitären Erbe der UdSSR sowie ein aufmerksamer Blick nach Beijing. (Teil 2 und Schluss)
Die Krise in der Ukraine wird enden, schrieben die russischen Historiker Alexander und Wladimir Lukin im ersten Teil dieses Artikels, und Russland werde seinen "historischen Weg" fortsetzen. Während des Konflikts seien radikale Ideologen aufgetaucht, aber sie würden nach der Krise wieder an den Rand gedrängt. Russlands Außenpolitik werde durch seine jahrhundertealte Kultur und moderne Wirtschaft bestimmt. Bedeutend dabei ist seine Position als geografisch eurasische Land, das heißt, es interagiert aktiv sowohl mit Europa als auch mit Asien.
Dennoch konstatieren die Autoren auch, dass Russland gegenüber führenden Nationen wie den USA, China und Indien wirtschaftlich und demografisch an Boden verloren hat. Künftige Außenpolitik sollte realistisch sein und auf die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger abzielen, ohne nostalgischen Illusionen nachzuhängen.
Ist eine solche Politik rein theoretisch möglich? Die Geschichte zeigt, dass es ähnliche Wendepunkte mehr als einmal gegeben hat, und zwar unter objektiv viel schlechteren Bedingungen.
Frankreich, Italien, Deutschland und Japan wurden durch den Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, konnten jedoch einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung erzielen und änderten ihre Innen- und Außenpolitik grundlegend, während sie gleichzeitig ihren Status als führende Staaten der Welt behaupten.
Lehren aus Südkorea und China
Später folgten Südkorea und China demselben Weg. Die Volksrepublik China ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Daten und Erfolge durchaus in der Lage, in die Riege der Supermächte aufzusteigen, auch wenn es dies, wie seine Führung offiziell erklärt, nicht anstrebt.
Heute beschreiten mehrere Länder – Indien, Brasilien, Malaysia, Indonesien – einen ähnlichen Weg. Es gibt dabei viele Unterschiede in der Erfahrung ihres historischen Erfolgs, aber es gibt auch einige Gemeinsamkeiten, ohne die ein Durchbruch in die moderne Welt unmöglich wäre. Versuchen wir, sie zu formulieren.
1. In keinem Fall wurde der wirtschaftliche Durchbruch unter Bedingungen der Isolation und Abschottung von der Außenwelt erreicht, insbesondere von den technologisch fortgeschrittensten Volkswirtschaften, zu denen heute die USA und ihre wichtigsten europäischen und asiatischen Verbündeten gehören. Selbst Stalins Industrialisierung wäre ohne umfangreiche ausländische Investitionen und die fortschrittlichen Technologien seiner Zeit nicht möglich gewesen.
Gleichzeitig zeigt die chinesische Erfahrung, dass es nicht notwendig ist, die eigene Souveränität zu opfern und sich westlichen politischen Allianzen anzuschließen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, in denen ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial in nicht-westlichen Staaten konzentriert ist, könnte dies sogar ein Hindernis sein.
Es ist jedoch notwendig, die Möglichkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit mit allen wichtigen Entwicklungszentren der Welt in den Bereichen Handel, Investitionen und Hochtechnologie zu gewährleisten. Dazu gibt es keine Alternative. Es Kommt nur darauf an, wie geschickt es gemacht wird.
2. Es wird notwendig sein, alle Ressourcen und die Aufmerksamkeit des Staates auf den wirtschaftlichen Aufstieg zu konzentrieren. Das bedeutet insbesondere, dass man auf lange Zeit kein Geld für militärische Auslandsinitiativen und andere Prestigeprojekte verschwenden darf, die etwa mit übertriebener Soft Power und der Finanzierung von Wohltaten im Ausland verbunden sind.
Ein gutes Beispiel für eine solche interne Selbstbeschränkung ist wiederum China. Die Führung unter Deng Xiaoping, die sich bereits den ersten Punkt unserer Thesen zu eigen gemacht und eine Politik der "Reform und Öffnung" angekündigt hatte, beschloss 1979 aus innen- und geopolitischen Gründen, der Führung des benachbarten Vietnam eine "militärische Lektion" zu erteilen.
Als jedoch die rückständige chinesische Armee, der es an moderner Kampferfahrung mangelte, in Vietnam schwer geschlagen wurde und hohe Verluste hinnehmen musste, zog die chinesische Führung sofort zwei grundlegende Konsequenzen.
Erstens begann sie mit der beschleunigten Modernisierung der Armee, die heute eine der modernsten und am besten ausgerüsteten der Welt ist. Zweitens wurde eine Politik der vollständigen und langfristigen Nichteinmischung in fremde militärische Konflikte beschlossen.
Bis heute hat Peking zwar seine grundsätzliche Haltung zu für das Land wichtigen Fragen diplomatisch zum Ausdruck gebracht, aber nie Truppen in bewaffnete Konflikte im Ausland entsandt.
Das Ergebnis ist keinesfalls eine Schwächung Chinas oder eine Verringerung seines Gewichts in der Welt. Vielmehr hat sich allmählich eine Soft Power herausgebildet. Soft Power basiert auf aufrichtiger Bewunderung und der Bereitschaft, die Erfahrungen eines Landes im Ausland freiwillig zu nutzen.
Es liegt auf der Hand, dass der erste Schritt zur Entstehung dieser Softpower darin besteht, im eigenen Land etwas zu schaffen, das einer solchen Bewunderung und Nachahmung würdig ist, und es erst dann nach außen zu propagieren.
Die Zukunft der Diplomatie
Wie kann die Diplomatie zur Umsetzung dieser Prinzipien beitragen? Erstens wird es notwendig sein, die Beziehungen zum Westen, die praktisch zum Erliegen gekommen sind, zumindest teilweise wiederzubeleben.
Das gilt vor allem für das alte Europa – Deutschland, Frankreich, Italien. Dazu können mehrere Faktoren beitragen. Erstens haben diese Länder große Bedenken hinsichtlich des Risikos, dass ihre Außenpolitik vollständig Washington untergeordnet wird, was ihre Hoffnungen auf eine Führungsrolle in einem vereinten Europa und eine aktive Rolle in der Welt untergraben könnte.
Zweitens wird das Interesse am Dialog mit Russland durch die realistischen Vorteile einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland unterstützt. Europa wird höchstwahrscheinlich deutlich ärmer aus der Krise hervorgehen, mit aktiv unzufriedenen Bevölkerungsgruppen. Eine zumindest teilweise Wiederherstellung der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland könnte hier helfen.
Die Ukraine, die daran gewöhnt ist, kostenlos umfangreiche Hilfe zu erhalten, wird die europäischen Staats- und Regierungschefs weiterhin offen beschimpfen und kritisieren, dass sie ihren Problemen nicht genug Aufmerksamkeit schenken würden. Kiew, das behauptet, der informelle "geistige" Führer des neuen, proamerikanischen Europas zu sein, wird für das alte Europa ein ernsthaftes Problem darstellen. Die Versuchung, dosierten Druck auf Kiew auszuüben, der zulasten einer Annäherung an Moskau geht, könnte hier politisch durchaus attraktiv werden.
Auf der Grundlage dieser sich teilweise überlappenden Interessen Moskaus und des alten Europas wäre es durchaus angebracht, zu versuchen, die für Russland notwendige Kooperation in gewissem Umfang wiederherzustellen.
Ein solcher Kurs könnte vorläufig als "neues Rapallo" bezeichnet werden. Immerhin erklärte sich 1922 die Weimarer Regierung, die im Gefolge der Revolution von 1918 mit ihren eigenen ultralinken Aktivisten zu kämpfen hatte und sie notgedrungen an die Wand gedrängt hatte, zur Zusammenarbeit mit den in Russland siegreichen Bolschewiki bereit.
Auch die Regierung Lenin, die große Schwierigkeiten hatte, mit der Unzufriedenheit des Volkes umzugehen, wandte sich notgedrungen der Zusammenarbeit mit der "Bourgeoisie" zu.
Eine endgültige und öffentliche Abkehr vom totalitären Erbe der UdSSR, auch in rechtlicher Hinsicht, würde nicht nur viele Ängste in Osteuropa zerstreuen, sondern Russland auch in eine viel günstigere Position gegenüber einer Reihe von Forderungen bringen.
In einer Rede im Januar 2015 sagte der Akademiker Jewgeni Primakow:
Kann man von einer Neuorientierung Russlands nach Osten sprechen? Ich antworte: Nein, kann man nicht. Russland will seine Beziehungen zu den USA und Europa normalisieren, aber es wäre unklug, die rasch wachsende Bedeutung Chinas und anderer Länder der asiatisch-pazifischen Wirtschaftskooperation zu ignorieren.
Der Politiker, der als einer der Ersten die Idee einer trilateralen Zusammenarbeit zwischen Russland, China und Indien vorgeschlagen hatte, schlug keine einseitige Neuausrichtung auf Asien vor, sondern eine beschleunigte Entwicklung der Beziehungen zu dieser Region, welcher bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei.
Dies bedeute aber nicht zwangsläufig einen Bruch mit dem Westen. Auf die Frage, ob Russland "die Tür für gemeinsame Aktionen mit den USA und ihren Nato-Verbündeten offenhalten sollte, wenn diese Aktionen gegen wirkliche Bedrohungen der Menschheit – Terrorismus, Drogenhandel, Schüren von Konfliktsituationen etc. – gerichtet sind", antwortete er:
Zweifellos sollte sie das. Ohne dies, ganz zu schweigen vom Interesse der Russen an der Beseitigung gefährlicher internationaler Phänomene, werden wir unser Land als Großmacht verlieren. In diesem Fall wird Russland nicht in der Lage sein, einen der ersten Plätze unter denjenigen Staaten einzunehmen, die bereit sind, die Unterstützung Russlands zu geniesen und gleichzeitig ihre eigenen Interessen zu berücksichtigen.
Ein anderes Thema sind die Beziehungen zu unseren Partnern in der GUS, mit denen in letzter Zeit ebenfalls ernsthafte Probleme aufgetreten sind. Ohne auf die einzelnen Fälle einzugehen, können wir sagen, dass zwei Faktoren zu diesen Problemen geführt haben.
Erstens, die Verlagerung der Aufmerksamkeit Moskaus auf die akuteste Krise und die Konzentration seiner Hauptressourcen auf diese. Unsere Partner, die es gewohnt waren, mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung von uns erhalten, begannen, diese anderswo zu suchen – einige in der EU, andere in der Türkei und in China.
Zweitens hat sich der Versuch, unsere engsten GUS-Partner auf der Grundlage eines rigiden Antiamerikanismus und des Kampfes gegen den Westen zu vereinen, als nicht durchführbar erwiesen. Die Erklärung dafür ist einfach: Die meisten von ihnen sehen im Westen keinen existenziellen Gegner und suchen die Zusammenarbeit mit allen wirtschaftlich entwickelten Ländern der Welt.
Es bedarf einer ernsthaften Klärung von Russlands Herangehensweise nicht nur in Eurasien, sondern in der gesamten nichtwestlichen Welt. In letzter Zeit hat der Begriff "Weltmehrheit", den unsere Diplomaten häufig für die nichtwestliche Welt verwenden, keine klare Bedeutung mehr.
Das bisherige Verstädnis dieses Begriffs impliziert, dass Russland Teil dieser Mehrheit ist, aber so einfach ist es nicht. Die "Weltmehrheit" bildet sich in der Tat allmählich heraus; die Führer der nichtwestlichen Welt konsultieren sich in zunehmendem Maße untereinander, diskutieren ihre Probleme und unterbreiten gemeinsame Vorschläge, was auf eine wachsende Konvergenz ihrer Ansichten hindeutet.
Dennoch stimmen ihre Positionen in einer Reihe von Fragen nicht in allen Punkten mit denen Russlands überein. Wie die Analyse der Positionen der Führer der nichtwestlichen Welt – China, Indien, Brasilien und afrikanische Staaten – zeigt, sind sie mit der Dominanz des Westens in der Welt und seinen anhaltenden neokolonialistischen Instinkten unzufrieden.
Wenn Russland mit ihnen auf dieser Plattform zusammenarbeitete, konnte es als Teil dieser Mehrheit betrachtet werden. Aber auch die nichtwestliche Welt insgesamt erwies sich als unvorbereitet auf eine Konfrontation mit dem Westen; sie zieht vor, Probleme friedlich, mit diplomatischen Mitteln zu lösen.
In vielen dieser Länder ist das Problem des Separatismus akut, sodass sie für die territoriale Integrität der bestehenden Staaten und für die Beibehaltung der entscheidenden Rolle der UNO und ihres Sicherheitsrates bei der Lösung globaler Konflikte eintreten.
Zudem werden die Russen in Europa selbst unter den Bedingungen der heutigen allgemeinen Verbitterung als Europäer betrachtet, wenn auch auf eine etwas andere Art und Weise. Aber in Asien betrachtet kaum jemand die Russen als Asiaten.
Die Änderung des außenpolitischen Kurses auf der Grundlage der oben skizzierten Prinzipien bedeutet natürlich nicht, dass der Kurs der Hinwendung zu Asien aufgegeben wird. Aber die wachsende Zusammenarbeit mit China muss durch aktivere Beziehungen zu anderen Staaten der Region ergänzt werden.
Die Abkehr von der einseitigen Abhängigkeit vom Westen sollte nicht zu einer ebenso starken Abhängigkeit von einem anderen Pol der Weltwirtschaft führen.
Ja, Russland kann noch kein vollwertiges globales Machtzentrum sein, aber sein Vorteil ist seine Transitposition, die Tatsache, dass es Asien und Europa verbindet und Europa nach Asien und Asien nach Europa bringt. Die eine Seite zu vernachlässigen oder einfach auf die andere Seite zu wechseln, verheißt nichts Gutes für das Land.
Auf der anderen Seite wird die optimale Positionierung im klassischen Dreieck China–USA–Russland für Russland auf absehbare Zeit von großer Bedeutung sein.
Die Suche nach dieser optimalen Positionierung wird durch die Erfahrungen, die China in den letzten 40 Jahren gesammelt hat, erheblich erleichtert. Seit der historischen Wende durch Henry Kissinger und Zhou Enlai ist China zu einem Land mit einem völlig anderen Gewicht in der Welt geworden.
Natürlich hat die kluge Innenpolitik unter Deng Xiaoping dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Aber diese Innenpolitik wäre ohne eine entsprechende Außenpolitik nicht möglich gewesen.
Vor 40 Jahren war China bekanntlich das schwächste Glied im obengenannten Dreieck. Heute hat es diesen unangenehmen Platz verlassen. Aber für diejenigen, die sehen und hören können, ist die Lehre aus Chinas zweifellos erfolgreicher außenpolitischer Erfahrung absolut offensichtlich, auch wenn sie praktisch und diplomatisch äußerst schwierig umzusetzen ist.
Diese Lektion ist ganz klar: Während der meisten der letzten 40 Jahre war Peking in der Lage, bessere Beziehungen zu den beiden anderen Ecken des Dreiecks (Moskau und Washington) zu unterhalten als diese beiden Akteure untereinander.
Leider sind objektive und unpathetische Analysen akuter internationaler Probleme heute nicht mehr in Mode. Aber wir glauben, dass es absolut notwendig ist, einen Kurs der Kräftebündelung, der inneren Entwicklung und der entsprechenden Ausrichtung und des Stils der Außenpolitik zu suchen.
Wir wissen, dass Veränderungen oft durch eine schwere Krise ausgelöst werden. Die Situation in China und in einer Reihe anderer Staaten, die ernsthafte Reformen eingeleitet und erfolgreich durchgeführt haben, war zu Beginn ihrer Gründung äußerst schwierig.
Der bereits erwähnte Architekt des chinesischen Aufschwungs, Deng Xiaoping, übernahm ein Land, das durch die ideologisch-politischen Experimente seiner KPCh-Kollegen fast zerstört worden war. Im Jahr 1978 war er übrigens bereits 74 Jahre alt, und die meisten seiner Mitarbeiter waren über 70 Jahre alt. Die Hauptsache ist nicht, Steine zu verstreuen, sondern sie geduldig und beharrlich einzusammeln.
Alexander Wladimirowitsch Lukin - Doktor der historischen Wissenschaften, Professor; Wladimir Petrowitsch Lukin - Doktor der historischen Wissenschaften, Professor.
Nach der Bestandsaufnahme im ersten Teil widmen sich die Autoren im zweiten Teil den Rückschlüssen und den Perspektiven Russlands in der aktuellen Weltlage. Der Artikel erschien zuerst auf Russisch in der Nesawissimaja gaseta, die deutsche Publikation erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Übersetzung und Bearbeitung: Harald Neuber
Lektorat: Christoph Jehle