Multipolare Weltordnung: Mit China und Brics in eine bessere Welt?

Philipp Fess

Archivbild (2015): US-Außenministerium

Bildet sich in Asien eine "Achse des Widerstands" gegen die USA? Was das für die freie Weltordnung bedeutet. Und was es mit der Einschätzung Chinas zu tun hat.

Es war keine Frage mehr, was mit den Gesichtern der Schweine geschehen war. Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es war schon unmöglich zu sagen, wer was war.

George Orwell, Animal Farm

China ist nicht gleich USA. Und Überwachungsstaat nicht gleich Überwachungsstaat. Oder doch?

Das Online-Medium netzpolitik.org hat kürzlich in einer eindrucksvollen Recherche offengelegt, wie die Geheimdienste der Five-Eyes, US-amerikanische IT-Konzerne und europäische Sicherheitsbehörden an der hochumstrittenen EU-Verordnung zur Chatkontrolle mitgestrickt haben – zusammen mit der zweifelhaften NGO Thorn, die unter anderem vom US-Schauspieler Ashton Kutcher gefördert wird.

Überwachung "für den guten Zweck"

Hinter dem, wie ein netzpolitik-User kommentierte, "moralisch unangreifbaren Framing" vom Kampf gegen Kindesmissbrauch, den die Verantwortlichen als Beweggrund anführen, versteckt sich Beobachtern wie dem EU-Abgeordneten Patrick Breyer (Europäische Piratenpartei) zufolge schlicht das Interesse des "überwachungsbehördlich-industriellen Komplex", eine "anlasslose Massenüberwachung" zu etablieren.

Dieselbe EU-Kommission, die sich solchen zweifelhaften Einflüssen aussetzt, hat vor Kurzem eine nach eigener Aussage historische Einigung bei der sogenannten eIDAS-Verordnung zur digitalen Brieftasche erzielt, die eine sichere Digitale Identität für alle Bürger verspricht (Mehr von Telepolis zum Thema hier).

Auch gegenüber diesem vermeintlichen Schlag gegen die privaten Zahlungsdienstleistungen von Google, Apple und Co. meldeten netzpolitik.org zufolge zahlreiche NGOs Bedenken an und warnten vor einer "panoptischen Vogelperspektive", die dem Staat nun offenstehe. Ganz zu schweigen von den nun offiziell aufgewerteten Daten, die die Privaten weiterhin sammeln.

Der Unterschied zur Volksrepublik China und Indien, wo Digitale Identität, biometrische Personenkennung und die (potenzielle) Steuerung von Zahlungsflüssen bereits bedenkliche Ausmaße annehmen, soll darin bestehen, dass es sich um eine Art Überwachung "für den guten Zweck" handelt.

So etwa auch in Kalifornien. Nach seiner Rückkehr von einem Staatsbesuch in China hofft Gouverneur Gavin Newsom – Young Global Leader des Weltwirtschaftsforums von 2005 und Befürworter eines "inklusiven Kapitalismus" nach der Maßgabe Lynn Forester de Rothschilds –, mit dem kürzlich beschlossenen Programm Cradle-to-Career (C2C) und dem Sammeln von "einer Milliarde Daten[knoten-]punkten" das Bildungssystem effizienter zu gestalten.

Eine technisierte Sozialpolitik, die dem wachsenden Markt des Impact Investment den Boden bereitet.

Die Argumente der Effizienzsteigerung und Kosteneinsparung werden bekanntlich auch bei der Transformation urbaner Lebensbereiche zu Smart Cities und dem Einsatz der sogenannten Künstlichen Intelligenz angeführt, in die sowohl Hoffnungen für ein neues Wirtschaftswachstum wie auch ein Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele gesetzt werden (siehe Telepolis-Beitrag KI: Der Anfang einer neuen Weltordnung nach dem Kapitalismus?).

Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass die National Security Commission on Artificial Intelligence der USA (NSCAI) – geführt vom ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt – im Jahre 2019 die (anlasslose) Massenüberwachung als "killer app" (= Durchbruchs-Anwendung) für deep learning bezeichnet hat. Und zwar im Kontext des globalen Wettbewerbs mit China.

Misstrauen, dass sich hinter jenem Wettbewerb mit dem erklärten Systemrivalen nur ein scheinbarer Gegensatz verbirgt, hat kürzlich der US-Präsident persönlich gesät.

USA werfen China "Schuldenfalle-Diplomatie" vor

Wie das auf Lateinamerika fokussierte Blog Amerika21 berichtet, erklärte Joe Biden bei einer Ansprache auf dem Gipfel der "Amerikanischen Partnerschaft für wirtschaftlichen Wohlstand" (APEP), zu dem Vertreter von elf lateinamerikanischen Ländern ins Weiße Haus geladen wurden, die Absicht der USA, Lateinamerika vor einer "Schuldenfalle-Diplomatie" Chinas zu schützen.

Wohingegen China mit seiner Entwicklungszusammenarbeit lediglich "strategischen Ziele" verfolge, böten die Investitionen der USA "transparente, hochwertige Infrastruktur- und Entwicklungsansätze". Wie der kolumbianische Präsident Gustavo Pedro auf X (vormals Twitter) bekannt gab, sind damit unter anderem auch die umstrittenen Schulden-gegen-Klimaschutz-Maßnahmen (debt-for-climate-swaps) gemeint, denen sich Telepolis in einer Serie mit dem Namen Klima-Kolonialismus" widmete.

Angesichts jenes ausgiebig dokumentierten Zusammenhangs zwischen den multilateralen Sonderinstitutionen der UN – Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) – mutet die Darstellung des US-Präsidenten merk- bis unglaubwürdig an. Trotzdem ist der Vorwurf wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.

Schließlich macht China kein Geheimnis daraus, mit seiner neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) seit Jahren an einem Gegengewicht zum "westlichen Wachstumsmodell" und der "wirtschaftlichen Globalisierung" unter Vorherrschaft der USA zu schmieden.

Seidenstraße: Wechselseitige Abhängigkeiten und Nahost-Krieg als Zäsur

Als Beispiel wird in Publikationen wie der Süddeutschen Zeitung gerne das ins Schulden-Chaos gestürzte Sri Lanka und dessen überambitioniertes Hafen-Projekt in Hambantota mit der Volksrepublik genannt, welches nie realisiert und schließlich von China als Schuld(en)pfand einbehalten bzw. übernommen wurde. Das scheint Bidens Anschuldigungen zu bestätigen.

Aber, zugegeben: Ganz so einfach ist es auch nicht. Selbst ein ausgewiesener Kritiker der "dreckigen Seidenstraße" wie der langjährige China-Korrespondent Philipp Mattheis beteuert, dass es sich im Falle des Hafens um Fehlkalkulationen gehandelt habe – und China mehrheitlich darauf bedacht sei, wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten zu schaffen, wenn auch übermäßig zu seinen Gunsten.

Eine entsprechende Befürchtung äußerte Mattheis etwa auch im Hinblick auf die Beteiligung des chinesischen Schifffahrtsunternehmens Cosco am Hamburger Hafen Ende 2022.

Eine brisante Randnotiz in Bezug auf die Neue Seidenstraße ist, dass der neu entfachte Krieg im Nahen Osten das Projekt einer westlichen "Anti-Seidenstraße" vorerst auf Eis gelegt haben soll, wie das Handelsblatt vergangenen Monat anmerkte. Aber darum soll es hier nicht gehen. Zurück zur Farm der Tiere.

Auch Brics-Mitglied Russland ist mit von der Technokratie-Partie

Die oben genannte Beispiele verstärken den Eindruck, dass nur die Vorzeichen dessen verändert werden, was die Welt auch in Zukunft bestimmen wird. Dabei geht es nicht um eine Systemfrage. Nicht um (scheinbare) Demokratien und ihre autoritären Gegenspieler.

Vielmehr scheint es um ἀρχία (archía) zu gehen, um Herrschaft. Um Macht. Das zeigt sich auch mit Blick auf einen zweiten US-Erzfeind und Brics-Partner: Russland.

Denn wer etwa annimmt, dass sich die Russische Föderation als Gegner der ukrainischen Regierung auch deren Umbau zu einem bargeldlosen, KI-gesteuerten, technokratischen Utopia entgegenstellt, den belehrte spätestens der stellvertretende Finanzminister Alexej Moiseew vor Kurzem eines Besseren, als er beteuerte, der Digitale Rubel müsse (!) langfristig das Bargeld ersetzen – womit er sich auf die Linie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) stellte, die US-Army und Geheimdienste 2019 als Teil ihrer "finanziellen Kriegsführung" betrachteten.

Die "Partnerschaft zwischen Monopolkapitalismus und Sozialismus"

Eine der bemerkenswertesten und kontroversesten Beweisführungen, dass sich die "bequeme" Dichotomie zwischen Kapitalismus und Kommunismus nicht aufrechterhalten lässt, hat der libertäre US-Historiker Antony C. Sutton (1925-2002) in "Wall Street and the Bolschewik Revolution" (1974) angetreten.

Darin beschreibt Sutton, wie "einige" Banken aus den Vereinigten Staaten, aber auch aus Europa (darunter etwa J.P Morgan, die heutige citibank oder auch die deutsche Warburg-Bank) "viele" russische Revolutionäre unterstützt haben, vor allem Wladimir Lenin und Leo Trotski.

Sutton beschreibt diese Unterstützung als eine "Partnerschaft zwischen dem internationalen Monopolkapitalismus und dem internationalen revolutionären Sozialismus zu deren beiderseitigem Nutzen".

Telepolis hat eine ähnlich irritierende Partnerschaft im Falle der Fabian Society bereits eingehender untersucht (siehe "Revolution von oben: Die Fabian Society und die Ideen hinter der großen Transformation"). Sutton schreibt dazu:

Die letzten menschlichen Kosten dieser Allianz (zwischen Großkapital und Sozialisten) sind auf den Schultern des einfachen Russen und des einfachen Amerikaners gelandet. Das Unternehmertum wurde in Verruf gebracht, und die Welt wurde durch diese monopolistischen Manöver in der Welt der Politik und Revolution in Richtung einer ineffizienten sozialistischen Planung getrieben.

Dies ist auch eine Geschichte, die den Verrat an der russischen Revolution widerspiegelt. Die Zaren und ihr korruptes politisches System wurden vertrieben, nur um durch die neuen Machthaber eines anderen korrupten politischen Systems ersetzt zu werden.

Antony Sutton, Wall Street and the Bolshevik Revolution

Animal Farm, die Fabel des überzeugten Sozialisten George Orwell, galt diesem nicht umsonst als Parabel für die russische Revolution. Und zugleich weist sie weit über diese hinaus.

In Suttons Folgewerk "Wall Street and the Rise of Hitler" (1976) beschreibt der Historiker die oben angesprochene Scheindichotomie als Teil eines Kreislaufs um das Phänomen des "corporate socialism", welcher nur durchbrochen werden könne, würden sich jene "einfachen" Bürger zusammenschließen und unter Verzicht auf eine äußere Autorität selbst verwalten.

Regelmäßige Krisen und Kriege werden genutzt, um die Unterstützung für weitere Ausplünderungs- und Belohnungszyklen zu erhöhen, die die Schlinge um unsere individuellen Freiheiten enger ziehen. Und natürlich haben wir Horden von akademischen Schwammköpfen, amoralischen Geschäftsleuten und einfach nur Mitläufern, die als unproduktive Profiteure der Plünderung fungieren.

Wenn der Kreislauf von Ausbeutung und unmoralischer Belohnung gestoppt wird, brechen die elitären Strukturen zusammen. Aber erst wenn eine Mehrheit den moralischen Mut und die innere Stärke findet, das Spiel mit dem Etwas-für-Nichts abzulehnen und es durch freiwillige Vereinigungen, freiwillige Kommunen oder lokale Herrschaft und dezentralisierte Gesellschaften zu ersetzen, wird das Töten und Ausplündern aufhören.

Antony Sutton, Wall Street and the Rise of Hitler

Unter manchen (alten) Linken genießt dieses Konzept, das manchmal als "Anarchosyndikalismus" bezeichnet wird, noch heute hohes Ansehen. Sie haben entschieden, dass es zielführender ist als die Hoffnung, dass andere für einen die Revolution übernehmen.