Multipolare Weltordnung: Warum mehr Konkurrenten die Welt nicht friedlicher machen
Immer mehr Staaten streben nach Reichtum und Macht. Damit drohen neue Verteilungskämpfe. Und das soll eine gute Nachricht sein? (Teil 2 und Schluss)
Mit der im April 2022 vorgestellten "Globalen Sicherheitsinitiative" präsentierte die Volksrepublik China ihre Vorstellung einer neuen, friedlicheren Weltordnung:
Hierzu gehören Souveränität und territoriale Integrität aller Länder zu respektieren, sich nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, die vom Volk selbstständig gewählten Entwicklungswege und Gesellschaftssysteme anderer Länder zu respektieren, die Zielsetzung und Prinzipien der UN-Charta einzuhalten, Kalter-Kriegs-Mentalität, Unilateralismus, Blockpolitik und -konfrontation abzulehnen, die berechtigten Sicherheitsinteressen von allen Seiten ernstzunehmen, am Prinzip der unteilbaren Sicherheit festzuhalten, einen ausgewogenen, effektiven und nachhaltigen Sicherheitsrahmen aufzubauen und die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu gewährleisten.
Und schließlich eine Forderung, die man nicht deutlich genug unterstreichen kann: Man solle darauf bestehen, Differenzen und Streitigkeiten durch Dialoge und Verhandlungen auf eine friedliche Weise beizulegen und alle Bemühungen zur friedlichen Lösung der Krise zu unterstützen.
Friede, Freude und Eierkuchen aus dem falschen Mund
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang des Jahres kam das bei den führenden Industrienationen der G7 (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Kanada und Deutschland) nicht besonders gut an.
Seltsam, enthält die Sicherheitsinitiative doch alle Elemente der auch im Westen gepflegten Ideologie: "Territoriale Integrität respektieren", die UN-Charta, "Sicherheitsrahmen" und Sicherheitsinteressen ernst nehmen, friedliche Lösungen von Krisen usw.
Auch China verwendet das verlogene Bild von einer Sicherheit aller Staaten auf der Welt, die, wenn nur alle guten Willens seien, ohne Waffengewalt Realität werden könnte.
Was diese Sicherheit immerzu gefährdet, bleibt im Dunkeln. Dass Staaten mit ihrer kapitalistischen Ökonomie ständig miteinander im Clinch liegen, um das Beste für sich zu erzwingen, mit wirtschaftlicher Erpressung und nicht selten mit militärischer Gewalt, kommt sehr absichtsvoll nicht vor. In dieser Hinsicht ist die Sicherheit eines jeden Staates permanent und prinzipiell bedroht.
Es geht um die Sicherheit der Grenzen, der Handelswege, des Gewinns der heimischen Kapitale zuhause und in der Welt, der Abschöpfung und des Transports von Rohstoffen, der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte usw. Diese Sicherheitsbedürfnisse stoßen allerdings auf die der übrigen Staaten – die ihrerseits ihre Sicherheit verteidigen.
Sicherheitspolitik ist daher nichts anderes als das ständige Bemühen der Regierungen, für ihr Land den besten Schutz ihrer Interessen gegen Widerstände anderer Nationen durchzusetzen.
Eine solche Darstellung zerstörte natürlich das so harmonisierende Bild einer Sicherheit, die allen diente. Der Konkurrenzkampf der Nationen wird zu einer Frage der Einstellung umgedichtet: Wenn man nur den richtigen Rahmen hätte und alle sich respektierten, dann klappte das nicht nur mit dem Nachbarn, sondern überall auf dem Globus.
Die Praktiker, die herrschenden Politiker aller Staaten, wissen das selbstverständlich besser. Ein chinesischer Top-Diplomat wie Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz zählt gewiss dazu.
Wenn aber das Wort von Frieden, Freude und Eierkuchen aus dem falschen Munde kommt, gerät die Gegenseite in Wallung:
Wang Yi hat auf plumpe Art versucht, die USA zu beleidigen, während er die Europäer umwarb. Es war so offensichtlich, dass nur komplett naive Leute darauf reinfallen können.
polterte Reinhard Bütikofer, Europapolitiker von Bündnis 90/Die Grünen und laut ZDF "China-Kenner" – wohlgemerkt nicht "China-Versteher". Das ist er tatsächlich nicht, weder im, Gott bewahre, "Putin-Versteher"-Sinn noch in der wörtlichen, sachlichen Bedeutung.
Das chinesische Plädoyer gegen "Block-Konfrontation wie in Zeiten des Kalten Krieges" diente natürlich nur dazu, einen Keil in die westliche Allianz zu treiben, ein Skandal.
Und bei aller offen gezeigten Feindschaft in München, dem "Ort der Selbstbestätigung des Westens" (ZDF, ebenda), gegenüber Peking: Die hiesigen Herrschaften haben die Ausführungen ihres Kollegen durchschaut. Der wollte ja nur mit dem Gerede von allseitiger Sicherheit sein Interesse am Niedergang des Hegemons und seiner Vasallen in schöne Worte fassen!
Gerade so allerdings, wie es auch die westlichen Diplomaten stets tun, wenn sie ihre Interessen als Dienst an der Sicherheit aller Staaten behaupten – in schönen Worten.
Brics: Kampfansage an die Hegemonie des Westens
China wäre es also ganz recht, wenn es sich als ein gewichtiger Pol von in Zukunft mehreren Polen gegenüber dem derzeitigen Hegemon USA etablieren würde. Natürlich nur, um der Erde Frieden zu schenken – und nicht, um eine ernst zu nehmende Weltmacht zu werden. Ein Pol halt, der gegen die anderen Pole besteht, mit allen ökonomischen und militärischen Mitteln. Friedlicher ist daran nichts.
Der Staat setzt sich an die Spitze einer Reihe von Nationen, die ebenfalls die US-amerikanische Übermacht schwächen wollen: die informelle Staatengruppe von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, abgekürzt Brics.
Beim jüngsten Gipfeltreffen der Gruppe in Johannesburg war dieses Ansinnen auch das beherrschende Thema. "Das einzige Bindeglied zwischen all diesen Ländern ist der gemeinsame Wunsch, die Dominanz des Westens in Frage zu stellen. Vor allem die Dominanz der USA", sagt Priyal Singh, Analyst des südafrikanischen "Thinktank Institute for Strategic Studies".
Die Rolle von Brics ist, die Hegemonie des Westens in Frage zu stellen, den Westen herauszufordern. Wir brauchen eine multipolare Welt.
Priyal Singh
Die Volksrepublik China versammelt hinter ihr Anliegen, den USA mehr Konkurrenz zu machen, einige aufstrebende Staaten. Russland findet ein Gegengewicht zu den Bemühungen des Westens, es weltweit zu isolieren. Brasilien, Indien und Südafrika fordern mehr Respekt von den USA, mithin mehr Berücksichtigung ihrer jeweiligen nationalen Interessen.
Konkret: Die jeweils heimische Wirtschaft soll im eigenen Land und auf dem internationalen Markt gegen die ausländische, hauptsächlich westliche Konkurrenz bestehen.
Das ist allerdings nicht zu verwechseln mit einem Programm der Volksbeglückung. Ob Lula, Modi oder Ramaphosa – jeder Staatschef will für seine Nation den maximal möglichen Geldreichtum und die dafür nötige Macht schaffen. Das Volk wird dafür benutzt und seine Mehrheit darf froh sein, dafür ausgebeutet zu werden.
Worin dann doch ein Unterschied zur Ausbeutung durch den Westen bestehen kann: Vielleicht gibt es dann etwas weniger Volk, das bisher nicht einmal für den Abbau und den Transport von Rohstoffen benötigt wird. Sondern irgendwo doch einem brasilianischen, indischen oder südafrikanischem Kapital zu Diensten sein darf.
Außenpolitisch kann der Zorn auf den Westen auch mal deutlicher werden, was sich in einer undiplomatischen Bemerkung der südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor zeigte:
I'm sick and tired of being bullied by Western politicians!
Das sagte sie anlässlich des Besuchs ihres US-amerikanischen Kollegen Anthony Blinken. Man habe ihr zu verstehen gegeben, "es könne politische und wirtschaftliche Konsequenzen haben, wenn Südafrika nicht Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine eindeutig verurteile".1
Die Haltung Südafrikas ist ein Ärgernis für den Westen: Die Regierung nimmt eine neutrale Position ein, fordert Verhandlungen – "und außerdem sei das ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland".2
Nebulös bleibt allerdings, in welcher Weise und welchem Umfang die Staatengruppe die multipolare Weltordnung durchsetzen will. Ein Ausschluss des Westens einschließlich seiner Führungsmacht USA vom Handel und von Kapitalinvestitionen mit den Brics-Nationen wird jedenfalls bisher nicht angestrebt. Die Beziehungen sollen nicht gekappt werden, sondern halt – irgendwie – mehr zum Vorteil der bisherigen zweiten Sieger und Verlierer auf dem Weltmarkt gereichen.
China will weiter und stärker vom Geschäft mit den US-Amerikanern und Europa profitieren. Davon wollen auch die anderen Länder nicht lassen, erhoffen sich dabei indes mehr Verhandlungsmacht, wenn sie nicht allein, sondern als Teil einer Staatengruppe auftreten.
Von einer Kriegserklärung gegen den Dollar wird einstweilen abgesehen
Mit den neuen Mitgliedern Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate repräsentieren sie immerhin rund 46 Prozent der Weltbevölkerung und haben einen Anteil von 36 Prozent an der Weltwirtschaftsproduktion.
Untereinander möchten sie ihre Geschäfte mehr in nationalen Währungen abrechnen als im Dollar. Russland, China und Indien praktizieren dies in Teilen bereits. Insgesamt aber betrifft dies nur ein geringes Volumen des Handels.
Außerdem legt nach wie vor der Dollar-dominierte Weltfinanzmarkt die Wechselkurse der nationalen Währungen fest. Die Abwertung des Rubels stellt zum Beispiel China und Indien vor Probleme.
Eine noch viel größere Nummer stellt der Plan einer gemeinsamen Währung der Brics-Gruppe dar. So könnte etwa das Ölgeschäft nicht mehr in Petrodollar laufen, sondern in Brics-Geld. Entsprechend geschwächt wäre das Weltgeld, und die Fähigkeit der USA, sich beinahe grenzenlos zu verschulden, gefährdet.
Vor dieser ökonomischen Kriegserklärung scheuen derweil die Brics-Staaten zurück. Die gemeinsame Währung steht nicht ganz oben auf der Agenda. Immerhin soll eine eigene Entwicklungsbank mehr finanziellen Rückhalt geben.
Aber auch die steckt in der internationalen Auseinandersetzung zurück: Dilma Rousseff, Chefin der "New Development Bank" (NDB), erklärte, man habe die Finanzierung aller Projekte in Russland eingefroren. Die Bank will vermeiden, Ziel von Sanktionen der USA zu werden. Zuvor hatte die Rating-Agentur Fitch das Risiko der NDB wegen der Teilhabe Russlands heruntergestuft (von AA+ auf AA).
Ohnehin stehen einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik bis hin zu einer gemeinsamen Währung die sehr starken ökonomischen Unterschiede der Brics-Staaten entgegen. Und außenpolitisch herrscht untereinander nicht immer Sonnenschein. China und Indien sind weiter in Asien eher Rivalen als Partner.
In Bezug auf den Westen verfolgt Indien auch eine Art Pendel-Diplomatie, will es sich nicht mit ihm verscherzen. Und die neuen Mitglieder bringen ebenfalls eine Menge Streitigkeiten ein, etwa die Konkurrenten Brasilien und Argentinien in Südamerika oder die arabischen Nationen versus Iran.
Auf dem Gipfeltreffen bremste Russlands Außenminister Sergej Lawrow die Erwartungen. Das Bündnis beabsichtige gerade nicht, ein 'neuer kollektiver Hegemon' zu werden, sondern sei vielmehr bestrebt, 'integrative Lösungen auf der Grundlage eines kollektiven Ansatzes' anzubieten."3
Deshalb ist immer häufiger die Rede vom "Multilateralismus" statt von Multipolarität. Das hört sich nicht so sehr nach Gegensatz an. Der Angriff auf die Weltmacht Nr.1 kommt so als gegen niemanden gerichtete, allzu berechtigte Forderung nach Gerechtigkeit daher.
Man kann es auch schlichter sagen: Im andauernden Kampf um die besten Geschäfte und den größten Einfluss auf der Welt begehren einige Staaten auf. Sie meinen sich dies gegen die bisherige Übermacht der USA und ihre Verbündeten leisten zu können. Denn sie haben mittlerweile einigen wirtschaftlichen Erfolg zu verbuchen.
Und es gibt mit China nun eine mächtige Alternative zum Westen. Was andererseits nicht heißt, dass der eine bisherige Pol gegen den anderen neuen getauscht werden soll. Das Mitmachen bei Brics führt im Idealfall dazu, das Beste aus beiden aktuellen Polen, USA und China, herauszuholen. Bleibt nur die Frage, ob die sich das gefallen lassen.
USA: Wir werden siegen. Und wer sich für die falsche Seite entscheidet…
China jedenfalls scheint zunächst zufrieden, überhaupt so etwas wie ein Gegengewicht zur Kampfansage des Westens zu schaffen. Die spannendere Frage lautet die nach der Antwort der USA. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, hat sie so formuliert:
Wir führen unser Engagement mit einer positiven Agenda, die sich darauf konzentriert, die Vorteile unseres Regierungs- und Wirtschaftsmodells zu demonstrieren. (…) Die Politik der USA verlangt von unseren Partnern nicht, sich zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Ländern zu entscheiden. Wir haben wiederholt betont, dass die USA die Partnerschaften der Länder mit anderen Ländern nicht einschränken wollen. Aber wir wollen, dass die Länder auch die Wahl haben, wie sie ihren Bürgern Ergebnisse liefern wollen.
Deutlich klarer hat das ihr Chef Joe Biden in seinen "Remarks on America's Place in the World" im Februar 2021 beschrieben:
American leadership must meet this new moment of advancing authoritarianism, including the growing ambitions of China to rival the United States and the determination of Russia to damage and disrupt our democracy. (…) If we invest in ourselves and our people, if we fight to ensure that American businesses are positioned to compete and win on the global stage, if the rules of international trade aren't stacked against us, if our workers and intellectual property are protected, then there's no country on Earth – not China or any other country on Earth – that can match us.
Die Aussagen von Pressesprecherin und Präsident zusammengenommen: Die Staaten der Welt dürfen sich ihre Partner natürlich aussuchen. Nur sollten sie dabei nicht vergessen, mit wem sie den meisten Erfolg haben, um den "Bürgern Ergebnisse (zu) liefern". Und da sind die Vereinigten Staaten das leuchtende Beispiel schlechthin und die einzig richtige Wahl.
Unter ihrer Führung (leadership) wird Autoritarismus bekämpft, sprich China und Russland. Das schaffen die Amis locker: mit ihrem starken Kapital, vor unfairem internationalem Wettbewerb geschützt, mit den entsprechenden Korrekturen der Welthandels-Regeln, mit dem Schutz geistigen Eigentums sowie der nationalen Arbeitsplätze vor ausländischer Konkurrenz. Dass das passieren wird, ist sich Biden sicher. So dass es weiter kein Land der Welt mit den USA aufnehmen kann – oder eine Staatengruppe wie die nun erweiterte Brics.
Pol hin, Pol her – die Welt wird kein bisschen friedlicher
Ob der bisherige Hegemon tatsächlich sich behauptet, oder neue Pole sich gegen ihn aufstellen können beziehungsweise mehrere Staaten multilateral miteinander verkehren ohne Einbeziehung der USA – das werden die Erfolge und Misserfolge auf dem Weltmarkt entscheiden. Und nicht zuletzt auch die jeweils dafür nötige Gewalt, diese Geschäfte für die jeweilige Seite vorteilhaft abzusichern.
Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, China, Russland und der Staatenbund Brics mitsamt den neu hinzustoßenden Nationen ringen um ihren Anteil an Reichtum und Einfluss in der Welt. Vielleicht kommt es dabei zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse, vielleicht verhindert dies die überragende Finanz- und Militärmacht der USA.
Eines ist aber sicher: Egal, wie viele Pole und deren Vasallen sich bilden – eine multipolare Weltordnung macht das Leben für die Mehrheit der Menschheit weder schöner noch friedlicher. Mehr Gewalten, die um die Macht in der Welt kämpfen, bedeutet eben nicht weniger Schaden für die, mit und auf deren Rücken das ausgetragen wird.
Fußnoten
[1] Tagesschau
[2] Tagesschau
[3] Volker Hermsdorf: Eine Welt ohne G7, in: junge Welt, 23. August 2023