Mutmaßliche Piraten aus Somalia vor Gericht in Hamburg
Der Prozess wirft allerlei Fragen auf
Ab Montag stehen in Hamburg zehn Männer aus Somalia wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor Gericht. "Damit kommt es erstmals seit Jahrhunderten in der Hansestadt wieder zu einem Strafverfahren gegen mutmaßliche Piraten", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Den Angeklagten drohen bis zu 15 Jahren Haft. Anwälte und Menschenrechtsaktivisten kritisieren allerdings das Verfahren und werfen rechtliche und politische Fragen auf.
Den Angeklagten wird vorgeworfen, am 5. April 2010 die unter deutscher Flagge fahrende MV Taipan gekapert zu haben. Das Containerschiff befand sich etwa 530 Seemeilen östlich des Horns von Afrika auf dem Weg von Djibouti nach Mombasa. Die Angeklagten sollen sich durch Gewaltanwendung die Herrschaft über das Schiff verschafft und es dabei mit Schusswaffen beschädigt haben. Die 13 Seeleute an Bord hatten sich in einem sicheren Bereich verschanzt und einen Notruf abgegeben.
Die niederländische Marine hat bei ihrer Kommandoaktion im Rahmen der EU-Militärmission Atalanta die gesamte Besatzung befreit und die mutmaßlichen Piraten nach Holland gebracht. Fünf Maschinengewehre und zwei Raketenwerfer samt Munition sowie zwei Enterhaken wurden sichergestellt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Hamburg Haftbefehle gegen die zehn Männer erlassen. Sie waren Anfang Juni nach Deutschland ausgeliefert worden, nachdem der Vorwurf des versuchten Mordes von der Hamburger Staatsanwaltschaft als Anklagepunkt fallen gelassen wurde – dies sei eine Bedingung für die Auslieferung gewesen, so die Gerichtspressestelle Hamburg.
Weil das Schiff seinen Heimathafen in Hamburg hat und laut der Hamburger Reederei Komrowski unter deutscher Flagge fuhr, sah sich die Staatsanwaltschaft Hamburg für den Fall zuständig. Zwar ist auch der Internationale Seegerichtshof in der Hansestadt ansässig, dieser ist aber nicht – wie hier und da in der Presse zu lesen war - der Grund dafür, dass der Prozess in Hamburg stattfindet. Der Internationale Seegerichtshof beschäftigt sich in erster Linie mit Streitigkeiten zwischen Staaten, etwa wenn es um die Nutzung des Meeresbodens geht.
Das Alter der Angeklagten
Die zehn Angeklagten aus Somalia sitzen seither in Untersuchungshaft und schweigen zum Tatvorwurf ("I'm not a pirate - I'm a fisherman"). Laut Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers befinden sich ein Jugendlicher und zwei Heranwachsende im Jugendgefängnis Hahnöfersand. Das genaue Alter und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Angeklagten sind der Staatsanwaltschaft nicht bekannt. "Es handelt sich um überwiegend nicht verifizierbare Angaben", so Möllers gegenüber Telepolis.
Nur wenige der Angeklagten sprächen neben Somali auch Englisch, zudem befänden sich auch Analphabeten unter ihnen. Sie sollen aus dem Nordteil Somalias stammen - also der von bisher keinem Staat der Welt anerkannten Republik Somaliland, dem früheren Kolonialgebiet Britisch-Somaliland. 1991 hatte sich Somaliland für unabhängig erklärt, um nicht in den kurz zuvor begonnenen Bürgerkrieg hineingezogen zu werden. Eine Botschaft, die die Angeklagten unterstützen würde, existiert nicht.
Das Alter spielt für die Strafmündigkeit und das Strafmaß eine wichtige Rolle. Der älteste Angeklagte hat sein Alter mit 48, der jüngste mit 13 Jahren angegeben – damit wäre letzterer noch nicht strafmündig. Das angegebene Alter hielt der Haftrichter jedoch für augenscheinlich falsch. Bei dreien der Angeklagten seien rechtsmedizinische Untersuchungen zur Altersschätzung im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) vorgenommen worden, so Möllers. Wegen des laufenden Verfahrens will sich aber weder die Staatsanwaltschaft noch der Leiter der Rechtsmedizin am UKE, Klaus Püschel, im Vorfeld zu Methoden, Verfahrensweisen und konkreten Inhalten der Sachverständigengutachten äußern. In der Regel werden bei rechtsmedizinischen Altersbestimmungen die Handwurzelknochen, die Weisheitszähne, die geschlechtliche Reife und die Schlüsselbeinknochen unter die Lupe genommen.
Laut Möllers gehe die Staatsanwaltschaft vorläufig davon aus, dass der Beschuldigte, der angab, 13 Jahre alt zu sein, und dem ein Vormund aus dem Jugendamt beigeordnet wurde, 18 Jahre oder möglicherweise älter ist, sowie dass ein weiterer Angeklagter, der angeben hatte, 1994 geboren zu sein, älter als 17, wahrscheinlich über 18 Jahre alt ist. Auch beim dritten Beschuldigten, der sich rechtsmedizinischen Untersuchungen unterziehen musste, wurde das Alter um einige Jahre erhöht. Er hatte angegeben 1991 geboren zu sein, die Untersuchungen hätten ergeben, dass er sehr wahrscheinlich 21 Jahre oder älter, jedenfalls aber das 19. Lebensjahr überschritten habe, so Möllers. "Im Ergebnis muss die Hauptverhandlung gesicherte Klarheit erbringen", sagt der Staatsanwalt.
Umstrittene Altersfeststellungen
Allerdings ist eine medizinische Untersuchung zur Altersfeststellung unter Ärzten und Wissenschaftlern mehr als umstritten – auch, ob eine "wissenschaftliche Altersfeststellung" mit technischen oder klinischen Methoden aufgrund erheblicher Standardabweichungen und für Jugendliche aus allen Weltregionen überhaupt ausreichend exakt möglich ist.
Menschenrechtsgruppen wie Pro Asyl protestieren seit vielen Jahren gegen die zunehmende Praxis der Altersfestlegungen. Und in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom Juni 2007 heißt es: "Bei Ungewissheit über den Tag der Geburt, gebietet es aber das gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger, von dem späteren Zeitpunkt auszugehen."
Der 110. Deutsche Ärztetag 2007 in Münster hatte sogar jegliche Beteiligung von Ärzten zur Feststellung des Alters mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Die Begründung:
Die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten zur Feststellung des Alters von Ausländern ist mit dem Berufsrecht nicht vereinbar, da es sich dabei weder um eine Maßnahme zur Verhinderung noch um die Therapie einer Erkrankung handelt. In der Regel kommen bei der Altersfeststellung Röntgenstrahlen zum Einsatz, die potenziell gefährlich sind und nur nach strenger medizinischer Indikationsstellung (Röntgenverordnung) angewandt werden dürfen. Außerdem ist die Altersfeststellung durch Röntgen der Handwurzelknochen von Jugendlichen wissenschaftlich höchst umstritten und sollte daher auf keinen Fall angewandt werden.
Nichtsdestotrotz: Auch die Jüngsten der Angeklagten in Hamburg kommen nicht wie üblicherweise zum Jugendnotdienst, sondern bleiben in Untersuchungshaft und das schon seit vielen Monaten – wegen Fluchtgefahr, so die Begründung der Staatsanwaltschaft.
Die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die einen 26-jährigen Angeklagten vertritt, aber auch andere Anwälte wie etwa Thomas Jung, werfen weitere grundsätzliche Fragen auf. So seien die Angeklagten nicht innerhalb von 48 Stunden nach ihrer Festnahme einem Haftrichter vorgestellt worden, wie es die bundesdeutsche Prozessordnung vorsehe. "Diese Frist muss eingehalten werden. Sonst muss ich sie freilassen", sagt Heinecke.
Rechtspolitische Fragen
Der Prozess am Landgericht Hamburg wird in der Jugendkammer geführt. Ob die Angeklagten ein Verfahren ohne Öffentlichkeit wünschen, ist derzeit wohl noch offen. Dieser Punkt sei eine schwierige Gratwanderung zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und dem Wunsch nach Öffentlichkeit, so Heinecke. Aus ihrer Sicht mache es Sinn den Prozess öffentlich zu führen: "Piraterie ist ein Problem der ganz reichen und der ganz armen Länder und mit diesem Problem muss die Öffentlichkeit konfrontiert werden."
Die Anwältin mahnt ein rechtspolitisches Problembewusstsein an, das vor allem für die Frage der Schuld elementar sei. Man müsse sehen, in welcher Gesamtsituation sich die Handlung abgespielt habe.
"Zehn klapprige Gestalten" habe sie auf den Aktenfotos nach der Festnahme gesehen. Mittlerweile hätten sie immerhin etwas zugenommen, aber ihrem Mandanten fiele das Essen schwer, wenn er an seine hungernde Familie, an seinen sechsjährigen Sohn und das Neugeborene in Somalia denke. "Was mutet man Menschen zu, die in Ländern leben, die kaputt gemacht worden sind?", fragt Heinecke. Möglicherweise gebe es einen "völkerrechtlichen Notstand", so die Anwältin. In Somalia könne man kaum überleben. "Was mache ich, wenn mir niemand hilft und gleichzeitig die Fischkonserven an mir vorbeifahren?"
Die Anklage der Staatsanwaltschaft sei nüchtern gehalten, so die Anwältin, aber sie erfasse nicht den Vorgang. "Was maßen wir uns an? Das ist nicht in einem deutschen Gerichtssaal zu verhandeln", sagt Heinecke. "Wo ist der Sinn dieses Prozesses und wen will man eigentlich beeindrucken?" fragt sie.
In Somalia, einem der ärmsten Länder der Erde, herrscht seit zwei Jahrzehnten Krieg, zudem ist in mittlerweile weiten Teilen des Landes die Sharia eingeführt. Die jihadistische al_Shabab-Bewegung belagert die Übergangsregierung unter Präsident Sharif Sheikh Ahmed und die Interventionstruppe der Afrikanischen Union Amisom. Diese islamistischen Milizen kontrollieren weite Gebiete in Süd- und Zentralsomalia und große Teile der Hauptstadt Mogadischu.
Kriminelle Aktivitäten an der Küste Somalias
Nicht nur die instabilen politischen Verhältnisse und der Krieg entziehen den Menschen die Lebensgrundlage. Somalia wird seit Jahrzehnten als internationale Mülldeponie genutzt, wie die Umweltschutzorganisation Greenpeace im Juni bestätigte. Das UN-Umweltprogramm (Unep) hatte dokumentiert, dass nach dem Tsunami in Dezember 2004 an der Küste Somalias radioaktiver und anderer toxischer Abfall angeschwemmt wurde.
Somalias Gewässer zählen eigentlich zu den fischreichsten der Welt. An der über 3.000 Kilometer langen Küste tummeln sich Makrelen, Haie, Thunfische und Sardinen. Doch Fischfangflotten aus den USA, Westeuropa, arabischen Staaten, Südkorea, Japan und anderen asiatischen Staaten dort seit fast 20 Jahren, so dass den somalischen Fischern kaum mehr etwas bleibt. Manchmal sollen die Kapitäne der Fischtrawler auch per Fax eine Sofortlizenz von somalischen Warlords ein geholt haben, die daran verdient haben.
Da das Land keine Küstenwache mehr hat, dringen die schwimmenden Fischfabriken immer wieder in die 12-Meilen Zone ein – wohl auch und gerade im Schutze der zahlreichen Militärschiffe rund um das Horn von Afrika. So berichtete der Fischer Ahmed Ali Abdalla der Irin, einem UN-Informationsdienst, dass die Zahl der Fischtrawler gestiegen sei, seit die Militärschiffe in die Region gekommen seien. Sie nutzten diese als Schutz und verunmöglichten den Einheimischen den Fischfang: "Sie nehmen uns manchmal sogar die Netze mit allem, was darin ist. Es ist, als ob sie uns das Essen aus dem Mund nehmen." Manche Fischer würden auch angegriffen und getötet, weil sie für Piraten gehalten würden. Die UN-Welternährungsorganisation FAO schätzt die Einnahmen aus der illegalen Industrie-Fischerei vor Somalia auf 300 Millionen bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr.
Internationale Fischpiraten
Viele der Piraten sehen sich als Küstenwache und rechtfertigen ihr kriminelles Vorgehen mit dem Fischraub. Ghanim Alnajjar, UN-Experte für die Menschenrechtslage in Somalia, macht dagegen keinen Unterschied zwischen den "Warlords zur See" auf beiden Seiten. Im Greenpeace-Magazin prangert der Kuwaiter zwar die Ausbeutung somalischer Gewässer durch ausländische Fischtrawler an. "Aber viele Somalis arbeiten weiter als Fischer. Wer Schiffe überfällt, wird zum Piraten. Da gibt es keine Entschuldigung", so Alnajjar.
Der somalische Journalist Mohamed Abshir Waldo schrieb 2009 in einem Artikel der Wardheer News:
Zweifelsohne sind die Aktionen der Schiffspiraten abzulehnen und diese Zeitung will gar nicht versuchen, ihre abscheulichen Aktionen zu rechtfertigen oder zu erklären. Ihnen muss Einhalt geboten werden. Das kann aber nicht geschehen, wenn nicht gleichermaßen auch die arglistige IUU-Piraterie (illegal, unreported, unregulated) bekämpft wird.
Die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf weist in einer Studie zur politischen Ökonomie des Piratenkonflikts andererseits darauf hin, dass es in den letzten 20 Jahren immer wieder Versuche gegeben hat, die internationale Staatengemeinschaft zum Eingreifen gegen die Raubfischerei und die Vergiftung somalischer Gewässer durch reiche Staaten zu bewegen, etwa durch Führer verschiedener politischer Fraktionen in Somalia, seitens der "Ministers of Fisheries of Puntland", von Vertretern der Fischer in verschiedenen Regionen und zwei somalischen Nichtregierungsorganisationen. "Im Prinzip fallen Fischraub und die illegale Verklappung von Giftmüll ebenso unter die UN-Seerechtskonvention wie das Kapern eines Schiffes: Verboten sind alle drei Aktivitäten, verfolgt wird aber nur die letztere", schreibt Mahnkopf.
Zum Prozessauftakt werden am Montag vor dem Landgericht verschiedene Initiativen für einen "paritätischen Einsatz der Weltressourcen" demonstrieren. In dem Aufruf der afrikanischen Diaspora in Hamburg und der Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen wird gefragt: "Ist institutionalisierter Diebstahl schlimmer als Mundraub?" Fragt sich bloß, ob sich die Richter mit dieser Frage befassen werden.