zurück zum Artikel

NSU-Tatort Kassel: Hat der Verfassungsschutz einen V-Mann unterschlagen?

Grafik: TP

Untersuchungsausschuss findet Hinweise auf eine bisher unbekannte Quelle des VS-Beamten Andreas Temme

Auch nach fünf Jahren politischer Aufarbeitung stößt man immer noch auf Vertuschungen und Geheimhaltungsmanöver seitens der Behörden. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages ist in den Ermittlungsakten zum Mord in Kassel auf einen möglichen bisher unbekannten V-Mann in der rechtsextremen Szene gestoßen, den der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme geführt haben soll.

Bisher ging man davon aus, dass Temme nur einen V-Mann in der rechtsextremen Szene und fünf V-Leute in der islamistischen Szene führte. Temme selber war am Tatort anwesend, einem Internetcafé, als dort am 6. April 2006 der Inhaber Halit Yozgat mit zwei Kopfschüssen ermordet wurde.

Der Mord von Kassel ist einer der Schlüsselfälle des NSU-Komplexes. Das hängt wesentlich mit dem VS-Beamten Temme und dessen ungeklärter Rolle zusammen. Nach diesem neunten Mord mit ein- und derselben Pistole an Migranten endete die Ceska-Serie. Es schloss sich aber der noch rätselhaftere Polizistenmord von Heilbronn an.

Der "Kassel-Mord" war wiederholt Thema in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wie vor dem Oberlandesgericht in München. Sowohl Temme, seine Vorgesetzten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Hessen als auch Temmes V-Mann Benjamin Gärtner wurden mehrfach als Zeugen vernommen.

Jetzt befasste sich der Bundestagsausschuss erneut mit dem nicht geklärten Fall. Denn an der angeblichen Täterschaft von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gibt es auch hier Zweifel. Der oder die Mörder von Halit Yozgat wurden von niemandem gesehen. Der Ausschuss folgt unter anderem der Hypothese, dass Böhnhardt und Mundlos nicht die Alleintäter der Mordserie waren und dass mehr Personen zum NSU gehörten.

"Dürftiges" Informationsaufkommen

In den aus Hessen gelieferten Unterlagen entdeckten die Abgeordneten Hinweise auf einen zweiten V-Mann in der rechtsextremen Szene, von dem, sollte sich das bewahrheiten, bisher nichts bekannt war. Auch Alexander Kienzle, einer der Anwälte der Familie Yozgat, der die Ausschusssitzung in Berlin verfolgte, war das neu. Der Ausschuss kritisierte, dass die Dokumente erst zwei Tage vor der Sitzung durch das hessische Innenministerium geliefert worden waren.

Die Abteilungsleiterin des LfV, Iris Pilling, wollte in öffentlicher Sitzung keine Auskunft darüber geben, wie viele V-Leute Temme insgesamt und wie viele in der rechten Szene er geführt hatte, ob es diesen zweiten V-Mann also gab. Sie sollte die Frage in einer als "geheim" - also höher als "nicht-öffentlich" - eingestuften Sitzung am Abend beantworten. Über das Ergebnis war bisher nichts in Erfahrung zu bringen.

In öffentlicher Sitzung antwortete sie zuvor lediglich auf verklausulierte Weise. Auffällig ausführlich erklärte sie, dass das Amt zwischen "V-Leuten" und "Informanten" unterscheide. V-Männer würden gezielte Aufträge bekommen, Informanten lediglich Informationen aus ihrem Umfeld liefern. Benjamin Gärtner, sogenannte "Gewährsperson 389", sei ein Informant gewesen, aber kein V-Mann. Grund: Sein Informationsaufkommen sei "dürftig" gewesen.

Auf die Frage der Linken Abgeordneten Petra Pau, die die Unterscheidung zwischen V-Mann und Informant nicht machte, ob Temme mehr als zwei Quellen im rechtsextremen Bereich führte, sagte Pilling: "So wie Sie die Frage stellen: nicht mehr." Und ergänzte, im eigentlichen Sinne, sei es "nicht mehr als die eine". Das lässt Interpretationsspielraum: Gab es neben dem "Informanten" Gärtner also noch "einen richtigen V-Mann"? Oder: Wurde der nicht von Temme, sondern von einem anderen Beschaffer des Amtes geführt?

Jedenfalls wäre damit die Frage aufgeworfen, warum das Amt diese Quelle bisher unterschlug. Ist die Verstrickung des Verfassungsschutzes in den NSU-Mord von Kassel noch größer als bisher angenommen? Verbirgt dich dahinter die "Kasseler Problematik"?, von der Temmes Vorgesetzter einmal in einem von der Polizei abgehörten Telefonat sprach. Bis heute ist nicht klar, was damit gemeint war oder ist.

Auf die - ebenfalls nichtöffentliche - Vernehmung des früheren Dezernatsleiters "Rechtsextremismus" im LfV Hessen verzichtete der Ausschuss an dem Tag.

Personalie Gärtner wirft Fragen auf

Aber auch auch die Personalie Benjamin Gärtner wirft unverändert Fragen auf - vor allem, weil dessen Rolle heruntergespielt wird. Gärtner hatte Kontakte zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS), dem auch das spätere NSU-Kerntrio angehörte. Unter anderem kannte er Corinna G. persönlich, neben Beate Zschäpe eine der wenigen Frauen im THS. Petra Pau präsentierte mehrere Beispiele für Gärtners Teilnahme an Neonazi-Aktionen.

So im Oktober 2005 in Göttingen, wo auch besonders aggressive Neonazis aus Dortmund dabei waren. Oder im April 2004 bei einer Aktion der Kameradschaft Kassel. Dass es von diesen Aktionen keine Berichte des VS-Informanten Gärtner gibt, "mache sie unruhig", so Pau: "Wir wollen wissen, was hätte Gärtner aus diesen militanten Zusammenhängen wissen können oder gewusst? Was hat er geliefert oder nicht geliefert?" Eine Antwort darauf gab es in der Sitzung nicht.

Zu den offene Spuren in Kassel zählt auch die: In der Nähe des Tatortes registrierte die Mordkommission den PKW eines Rechtsextremen, Sven W. Weil dessen Freundin dort ihren Arbeitsplatz habe, maßen dem die Ermittler aber keine Bedeutung bei.

Zwei Wochen vor dem Mord, am 24. März 2006, hatte die LfV-Abteilungsleiterin Pilling die Außenstellenmitarbeiter per Mail auf die Ceska-Serie aufmerksam gemacht und die V-Mann-Führer angehalten, ihre Quellen danach zu befragen. Vorausgegangen sei, "völliges Novum", so Pilling jetzt vor dem Ausschuss, ein informelles Treffen mit zwei Ermittlern des Bundeskriminalamtes (BKA), von denen einer der Ehemann einer Verfassungsschützerin war.

Die Frage, ob es "ein Vorwissen, eine Ahnung, ein Indiz" gab, so Clemens Binninger, CDU und Ausschussvorsitzender, liegt nahe. Die Verfassungsschützerin erklärte, sie könne sich nicht an so etwas erinnern. Aber warum wandte sich das BKA nicht ans Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), sondern ausschließlich ans Landesamt Hessen, fragte Binninger nach. "Ich kann's Ihnen wirklich nicht sagen", so Pilling, aber: vor dem heutigen Hintergrund sei tatsächlich nicht verstehbar, dass das BKA nicht direkt zum BfV ging.

Nicht einmal zwei Wochen nach ihrer Alarm- und Sensibilisierungsmail wurden die Morde acht in Dortmund und neun in Kassel mit eben dieser Ceska verübt. Obendrein hielt sich mit Temme ein Verfassungsschützer, der die Mail ebenfalls bekommen hatte, am Tatort in Kassel auf. Wieder nur Zufälle über Zufälle?

Widerstand des Verfassungsschutzes gegen die Ermittlungen

Verfassungsschützer Temme geriet damals unter Tatverdacht, dennoch führten die Ermittler nicht direkt eine Hausdurchsuchung bei ihm durch. Das sei ein Fehler gewesen, man hätte es sofort tun müssen, gestand der damals zuständige Staatsanwalt Götz Wied gegenüber den Abgeordneten ein. Dass Temme als LfV-Beamter auch in einer konspirativen Wohnung verkehrte, sei den Ermittlern damals nicht bekannt gewesen, so Wied auf Nachfrage.

Es war nicht der einzige Widerstand, den der Verfassungsschutz gegen die Ermittlungen leistete. Die Polizei durfte auch Temmes Quellen, darunter Benjamin Gärtner, nicht vernehmen. Die beiden hatten am Tattag etwa eine Stunde vor dem Mord über elf Minuten lang miteinander telefoniert, wie man heute weiß. Doch auch das wussten die Ermittlungsbehörden damals nicht. Sie erfuhren erst nach 2011 nach dem Auffliegen des NSU davon, wie der Kasseler Staatsanwalt erklärte.

Im Januar 2007 wurde das Verfahren gegen Temme eingestellt. Dazu Staatsanwalt Wied wörtlich: "Wir haben Temme nicht an die Tat ranbekommen." Das ist eine nahezu identische Wortwahl, wie die eines BKA-Vertreters, der in einer vergangenen Ausschusssitzung bezogen auf den Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse bemerkte, sie haben Böhnhardt und Mundlos "nicht an die Tat ranbekommen". Die Schlussfolgerungen aber waren diametral entgegengesetzt: Der nicht "ran bekommene" Temme wurde vom Tatvorwurf entlastet - die "nicht ran bekommenen" Böhnhardt und Mundlos gelten für die Bundesanwaltschaft trotzdem als die Täter.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3574030