Nach Marx ist vor Marx
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In Krisenzeiten wird gerne Marx gelesen. Hält er, was er verspricht und was wir uns von ihm versprechen? Vorstellung einiger Schlüsselbegriffe seines Werks
Dogmen, die von den römisch-katholischen Kirchenvätern postuliert wurden, halten locker schon einmal tausend, zweitausend Jahre. So alt kann die Wahrheit werden. In Wahrheit wurde in der Theologie heiß um die Dogmen gestritten, sie wurden neu ausgelegt oder schwanden unmerklich, bis sie in neuer Gestalt aufkamen. Werden unsere Nachfahren auf 1.000 Jahre Marxismus zurückblicken können?
Eher sieht es so aus, als würde das Marxsche System sich sofort in die Zeitlichkeit zersetzen. Nichts ist gewiss. Jeder "Exeget", jeder Interpret hat seinen Marx, anders als die anderen. Das ist schade für jene, die sich vom Marxismus ein wenig Handlungsorientierung erhoffen. Die Wirtschaftskrisen von 2007 ff. weckten Erklärungsbedarf bei Laien wie bei Experten.
Nach Marx ist vor Marx (11 Bilder)
Die Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus" im Berliner "Deutschen Historischen Museum", die noch bis August läuft, versucht das Unmögliche. Sie gliedert das Marxsche System anhand exemplarischer Begriffe in Schwerpunkte. Dieser Beitrag greift einzelne Begriffe heraus und ergänzt sie, um sie einer eigenen Betrachtung zu unterziehen. Wie zuvor besprochen: Jeder macht seins. Wie es die Ausstellung macht, kann dort nachgeschaut werden.1
Religionskritik: Der frühe Marx macht aus der Religionskritik eine Gesellschaftskritik und aus der Gesellschaftskritik eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Er knüpft an Ludwig Feuerbach (1804-1872) an. Dieser löst die Religion in ihre weltliche Grundlage auf. Das Geheimnis der Religion ist der Mensch, der sein Wesen vergegenständlicht hat und sich zum Objekt dieses Wesens macht. Wenn Menschen auf Geheiß Gottes Dinge tun, handelt es sich um ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen. Alle Eigenschaften Gottes sind menschlicher Natur.
Es scheint ganz einfach zu sein: Der Mensch schuf sich Gott nach seinem Bilde. Das trifft genau besehen sowohl auf die großen monotheistischen Religionen wie auch auf ältere Glaubensgemeinschaften zu. Wie ein solcher Anthropomorphismus aussehen kann, hat Xenophanes in pointierte Verse gefasst:
Blauäugig aber und blond,
so sehn ihre Götter die Thraker.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Die Vorstellungen und Ideen verselbständigen sich und wirken als gegenständliche Kraft zurück. Die Menschen werden ihren eigenen Phantasmagorien untertan. Diese sind übermächtig. Religion wird zum Herrschaftsinstrument. Nach den gleichen Prinzipien, wie die Menschen die Religion erschaffen, schaffen sie die kapitalistische Produktionsweise, der sie – als Arbeiter – ausgeliefert sind. Religion ist das Opium des Volkes.
Wir sind bei den Industrialisierungs- und Säkularisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts angelangt. Marx überholt Feuerbach, dem er vorhält, das menschliche Wesen, in das er das religiöse Wesen auflöst, als widerspruchsloses, ungesellschaftliches Abstraktum zu fassen.
Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Er übersieht, dass nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären.
Karl Marx: Vierte These über Feuerbach
Arbeiter sein oder Nicht-Arbeiter sein
Entfremdung/Arbeitsteilung: Gemeinhin werden Entfremdung und Arbeitsteilung in einen Zusammenhang gebracht. Assoziiert wird stumpfsinnige Fließbandarbeit. Dem Arbeiter am Band geht jeder Bezug zwischen den in kleinste Teile zerlegten Fertigungsschritten und dem Ganzen verloren. Das fertige Produkt geht ihn nichts an. Auch seine Tätigkeit ist bloß instrumentell. Sie bleibt ihm gleichgültig.
Bürgerliche Sozial- und Arbeitswissenschaften suchen dieser aus dem Taylor-System stammenden Misere etwas entgegenzusetzen, indem sie auf historische Formen der Kooperation in und zwischen Handwerker-Werkstätten verweisen. Doch diese Alternative ist keine. Abgesehen davon, dass auch in der Hoch-Zeit der Zünfte der arbeitsteiligen Kooperation viele Beschränkungen auferlegt waren, wird in dieser Logik der schlechten Arbeitsteilung eine gute, aber vergangene gegenübergestellt. Die gute Arbeitsteilung ist der Kern der schlechten. Der Kern muss nur freigelegt werden.
Adalbert Stifter beschreibt die guten Verhältnisse prototypisch. Die Entfremdung ist aufgehoben vor dem Hintergrund einer Arbeitsteilung, die überzeitlich Geltung hat und aus der Natur heraus begründet ist. Das ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die es so nie gab.
Für Marx hingegen ist Arbeitsteilung ein gesellschaftlicher Prozess, der sowohl zum Guten als auch zum Schlechten verändert werden kann. Die "Ableitung" ist ganz einfach, denn unmerklich ist sie bereits im obigen Abschnitt "Religionskritik" erfolgt, wo Marx schrieb, dass die Selbstzerrissenheit der weltlichen Grundlage sich nicht mehr philosophisch auflösen lasse. Sie entschlüsselt sich als der Widerspruch der Arbeit, der menschlichen Gattungstätigkeit, mit sich selbst. Mit diesem Antagonismus, der eigentlichen kapitalistischen Arbeitsteilung, treten neue Akteure auf, die offensichtlich im Widerspruch zueinander stehen und noch zu besprechen sind.
In einem frühen Text, den "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von 1844, schlüsselt Marx die Entfremdung vierfach auf. Der Arbeiter ist entfremdet
- vom Produkt der Arbeit als fremdem, über ihn mächtigen Gegenstand.
- von seiner eigenen Tätigkeit. Das ist ein Akt der Selbstentfremdung. Die Verwirklichung in der Arbeit erscheint als Entwirklichung.
- vom Gattungswesen, das zum bloßen Mittel seiner individuellen Existenz wird. Seine Lebenstätigkeit erscheint nur als Mittel zum Zweck, als Lebensmittel. Es wird zur Notdurft.
- von den anderen Menschen. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen wird Marx später als Warenbeziehung analysieren.
Marx: Wenn die Tätigkeit nicht mir, sondern einem anderen Wesen als mir gehört, so kann das nur ein Mensch sein. Der Kapitalist, Gegenspieler des Arbeiters, betritt die Bühne. Die Entäußerung der Arbeit erscheint als Aneignung der Gattungstätigkeit des Arbeiters durch den Kapitalisten. Alles, was beim Arbeiter als Tätigkeit der Entäußerung, der Entfremdung erscheint, "ist beim Nicht-Arbeiter Zustand der Entäußerung". Später wird es heißen: Die Arbeitszeit des Arbeiters verwandelt sich in die Nicht-Arbeitszeit des Kapitalisten. Er verfügt über die Produktionsmittel, die in der Form des konstanten Kapitals unverfänglich daherkommen.
In dieser Verfügung über das konstante Kapital wie auch über das variable Kapital, den Gegenwert der Ware Arbeitskraft, liegt ein Geheimnis: der Mehrwert als Motor des Profits. Für bürgerliche Ökonomen, für welche die Kategorien der Konkurrenz, der Quantifizierung und der technischen Arbeitsteilung im Vordergrund stehen, scheint sich das Geheimnis bis heute nicht recht zu erschließen.
"Der Nicht-Arbeiter tut alles gegen den Arbeiter, was der Arbeiter gegen sich selbst tut, aber er tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut." Das könnte von Hegel stammen ähnlich wie Marxens Beschreibung der Selbstentfremdung: "Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus." Diese Konstellation ist heute mehr denn je für Symptomatiken zwischen Burnout und Depression ausschlaggebend.
Das Konstrukt einer ahistorischen, naturgemäßen Arbeitsteilung, das oben angesprochen wurde, reproduziert sich in einer andern Variante doch auch beim jungen Marx. "Entfremdung" ist sein Kampfbegriff, mit dem er die bürgerliche, sich kapitalisierende Gesellschaft angreifen möchte. Aber eine unausgesprochene Voraussetzung liegt im Begriff: eine unentfremdete Gesellschaft, die der entfremdeten vorausgeht. Damit rutscht auch die Marx'sche Analyse in einen "vorgeschichtlichen" Seinszustand hinein, der die modernen Verhältnisse ausblendet und bei aller Großartigkeit des Textes kaum zur Kritik taugt.
Später wechselte Marx – deshalb? – zu einem ganz anderen Ansatz, zur "Kritik der politischen Ökonomie". In "Das Kapital" fängt er mit der "Ware" an. Die Ware hat es in sich. Sie offenbart und verdeckt zugleich die Widersprüche und Umbrüche der kapitalistischen Gesellschaft. Wer diese Widersprüche durchdringt, kommt ohne die Hirngespinste vergangener oder zukünftiger Utopien aus.