Nach Marx ist vor Marx

East Side Gallery / Berliner Mauer. Bild: Pixabay / Public Domain

In Krisenzeiten wird gerne Marx gelesen. Hält er, was er verspricht und was wir uns von ihm versprechen? Vorstellung einiger Schlüsselbegriffe seines Werks

Dogmen, die von den römisch-katholischen Kirchenvätern postuliert wurden, halten locker schon einmal tausend, zweitausend Jahre. So alt kann die Wahrheit werden. In Wahrheit wurde in der Theologie heiß um die Dogmen gestritten, sie wurden neu ausgelegt oder schwanden unmerklich, bis sie in neuer Gestalt aufkamen. Werden unsere Nachfahren auf 1.000 Jahre Marxismus zurückblicken können?

Eher sieht es so aus, als würde das Marxsche System sich sofort in die Zeitlichkeit zersetzen. Nichts ist gewiss. Jeder "Exeget", jeder Interpret hat seinen Marx, anders als die anderen. Das ist schade für jene, die sich vom Marxismus ein wenig Handlungsorientierung erhoffen. Die Wirtschaftskrisen von 2007 ff. weckten Erklärungsbedarf bei Laien wie bei Experten.

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Marx und Engels, herumgeschubst in Berlins Mitte. Bild: Max Pixel / Public Domain

Die Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus" im Berliner "Deutschen Historischen Museum", die noch bis August läuft, versucht das Unmögliche. Sie gliedert das Marxsche System anhand exemplarischer Begriffe in Schwerpunkte. Dieser Beitrag greift einzelne Begriffe heraus und ergänzt sie, um sie einer eigenen Betrachtung zu unterziehen. Wie zuvor besprochen: Jeder macht seins. Wie es die Ausstellung macht, kann dort nachgeschaut werden.1

Religionskritik: Der frühe Marx macht aus der Religionskritik eine Gesellschaftskritik und aus der Gesellschaftskritik eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Er knüpft an Ludwig Feuerbach (1804-1872) an. Dieser löst die Religion in ihre weltliche Grundlage auf. Das Geheimnis der Religion ist der Mensch, der sein Wesen vergegenständlicht hat und sich zum Objekt dieses Wesens macht. Wenn Menschen auf Geheiß Gottes Dinge tun, handelt es sich um ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen. Alle Eigenschaften Gottes sind menschlicher Natur.

Es scheint ganz einfach zu sein: Der Mensch schuf sich Gott nach seinem Bilde. Das trifft genau besehen sowohl auf die großen monotheistischen Religionen wie auch auf ältere Glaubensgemeinschaften zu. Wie ein solcher Anthropomorphismus aussehen kann, hat Xenophanes in pointierte Verse gefasst:

Blauäugig aber und blond,
so sehn ihre Götter die Thraker.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Die Vorstellungen und Ideen verselbständigen sich und wirken als gegenständliche Kraft zurück. Die Menschen werden ihren eigenen Phantasmagorien untertan. Diese sind übermächtig. Religion wird zum Herrschaftsinstrument. Nach den gleichen Prinzipien, wie die Menschen die Religion erschaffen, schaffen sie die kapitalistische Produktionsweise, der sie – als Arbeiter – ausgeliefert sind. Religion ist das Opium des Volkes.

Wir sind bei den Industrialisierungs- und Säkularisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts angelangt. Marx überholt Feuerbach, dem er vorhält, das menschliche Wesen, in das er das religiöse Wesen auflöst, als widerspruchsloses, ungesellschaftliches Abstraktum zu fassen.

Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Er übersieht, dass nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären.

Karl Marx: Vierte These über Feuerbach

Arbeiter sein oder Nicht-Arbeiter sein

Entfremdung/Arbeitsteilung: Gemeinhin werden Entfremdung und Arbeitsteilung in einen Zusammenhang gebracht. Assoziiert wird stumpfsinnige Fließbandarbeit. Dem Arbeiter am Band geht jeder Bezug zwischen den in kleinste Teile zerlegten Fertigungsschritten und dem Ganzen verloren. Das fertige Produkt geht ihn nichts an. Auch seine Tätigkeit ist bloß instrumentell. Sie bleibt ihm gleichgültig.

Bürgerliche Sozial- und Arbeitswissenschaften suchen dieser aus dem Taylor-System stammenden Misere etwas entgegenzusetzen, indem sie auf historische Formen der Kooperation in und zwischen Handwerker-Werkstätten verweisen. Doch diese Alternative ist keine. Abgesehen davon, dass auch in der Hoch-Zeit der Zünfte der arbeitsteiligen Kooperation viele Beschränkungen auferlegt waren, wird in dieser Logik der schlechten Arbeitsteilung eine gute, aber vergangene gegenübergestellt. Die gute Arbeitsteilung ist der Kern der schlechten. Der Kern muss nur freigelegt werden.

Adalbert Stifter beschreibt die guten Verhältnisse prototypisch. Die Entfremdung ist aufgehoben vor dem Hintergrund einer Arbeitsteilung, die überzeitlich Geltung hat und aus der Natur heraus begründet ist. Das ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die es so nie gab.

Für Marx hingegen ist Arbeitsteilung ein gesellschaftlicher Prozess, der sowohl zum Guten als auch zum Schlechten verändert werden kann. Die "Ableitung" ist ganz einfach, denn unmerklich ist sie bereits im obigen Abschnitt "Religionskritik" erfolgt, wo Marx schrieb, dass die Selbstzerrissenheit der weltlichen Grundlage sich nicht mehr philosophisch auflösen lasse. Sie entschlüsselt sich als der Widerspruch der Arbeit, der menschlichen Gattungstätigkeit, mit sich selbst. Mit diesem Antagonismus, der eigentlichen kapitalistischen Arbeitsteilung, treten neue Akteure auf, die offensichtlich im Widerspruch zueinander stehen und noch zu besprechen sind.

In einem frühen Text, den "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von 1844, schlüsselt Marx die Entfremdung vierfach auf. Der Arbeiter ist entfremdet

  1. vom Produkt der Arbeit als fremdem, über ihn mächtigen Gegenstand.
  2. von seiner eigenen Tätigkeit. Das ist ein Akt der Selbstentfremdung. Die Verwirklichung in der Arbeit erscheint als Entwirklichung.
  3. vom Gattungswesen, das zum bloßen Mittel seiner individuellen Existenz wird. Seine Lebenstätigkeit erscheint nur als Mittel zum Zweck, als Lebensmittel. Es wird zur Notdurft.
  4. von den anderen Menschen. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen wird Marx später als Warenbeziehung analysieren.

Marx: Wenn die Tätigkeit nicht mir, sondern einem anderen Wesen als mir gehört, so kann das nur ein Mensch sein. Der Kapitalist, Gegenspieler des Arbeiters, betritt die Bühne. Die Entäußerung der Arbeit erscheint als Aneignung der Gattungstätigkeit des Arbeiters durch den Kapitalisten. Alles, was beim Arbeiter als Tätigkeit der Entäußerung, der Entfremdung erscheint, "ist beim Nicht-Arbeiter Zustand der Entäußerung". Später wird es heißen: Die Arbeitszeit des Arbeiters verwandelt sich in die Nicht-Arbeitszeit des Kapitalisten. Er verfügt über die Produktionsmittel, die in der Form des konstanten Kapitals unverfänglich daherkommen.

In dieser Verfügung über das konstante Kapital wie auch über das variable Kapital, den Gegenwert der Ware Arbeitskraft, liegt ein Geheimnis: der Mehrwert als Motor des Profits. Für bürgerliche Ökonomen, für welche die Kategorien der Konkurrenz, der Quantifizierung und der technischen Arbeitsteilung im Vordergrund stehen, scheint sich das Geheimnis bis heute nicht recht zu erschließen.

"Der Nicht-Arbeiter tut alles gegen den Arbeiter, was der Arbeiter gegen sich selbst tut, aber er tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut." Das könnte von Hegel stammen ähnlich wie Marxens Beschreibung der Selbstentfremdung: "Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus." Diese Konstellation ist heute mehr denn je für Symptomatiken zwischen Burnout und Depression ausschlaggebend.

Das Konstrukt einer ahistorischen, naturgemäßen Arbeitsteilung, das oben angesprochen wurde, reproduziert sich in einer andern Variante doch auch beim jungen Marx. "Entfremdung" ist sein Kampfbegriff, mit dem er die bürgerliche, sich kapitalisierende Gesellschaft angreifen möchte. Aber eine unausgesprochene Voraussetzung liegt im Begriff: eine unentfremdete Gesellschaft, die der entfremdeten vorausgeht. Damit rutscht auch die Marx'sche Analyse in einen "vorgeschichtlichen" Seinszustand hinein, der die modernen Verhältnisse ausblendet und bei aller Großartigkeit des Textes kaum zur Kritik taugt.

Später wechselte Marx – deshalb? – zu einem ganz anderen Ansatz, zur "Kritik der politischen Ökonomie". In "Das Kapital" fängt er mit der "Ware" an. Die Ware hat es in sich. Sie offenbart und verdeckt zugleich die Widersprüche und Umbrüche der kapitalistischen Gesellschaft. Wer diese Widersprüche durchdringt, kommt ohne die Hirngespinste vergangener oder zukünftiger Utopien aus.

Kopfstand des Tisches

Wert: Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass Marx den Profit der Kapitalisten von Prellerei, Übervorteilung oder Ausnutzen einer Monopolstellung im Tauschverkehr herleiten würde. Im Gegenteil setzt er methodisch Wert und Preis gleich. Man könnte vom "iustum pretium", dem gerechten Preis sprechen, der in ethischer Hinsicht "Wert" ist. Marxens Diagnosen kommen im modellhaften Fall des Austauschs zweier Waren ohne Preisschwankungen aus. Gesamtgesellschaftliche Oszillationen gleichen sich aus.

Im ersten Band des "Kapital" geht Marx von einer idealisierten Zirkulation aus, der Urformel des Tauschs von Ware A gegen B. Die Ware B, die in der Äquivalentform steht, wird zum Wertausdruck der Ware A. A bekommt einen Tauschwert, ausgedrückt in einer bestimmten Menge der Ware B. Qualitativ: Der Gebrauchswert einer Ware wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts (der Ware A). Das liest sich simpel, enthält jedoch bereits die Spur eines Mysteriums. Marx: "Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt."

Die Tauschlogik geht weiter, von Ware gegen Ware über Ware gegen Geld, vorwärts und rückwärts (Geld gegen Ware), wie der Handel so läuft. Am Ende steht eine merkwürdig verkürzte Formel, die die Welt aus den Angeln hebt: G-G’ ("Strich") Geld tauscht sich gegen Geld und vermehrt sich dabei wundersam. Die Zirkulation schwitzt ständig (mehr) Geld aus.

Marx: Unter allen Waren gibt es eine Ware, die die Eigenschaft hat, Werte zu schaffen, die über das Äquivalent hinausgehen, das zu ihrer Reproduktion notwendig ist. Das ist die Ware Arbeitskraft. Aus Wert wird Mehrwert für diejenigen, welche diese Ware kaufen und verwerten. Erstaunlich: Selbst diese Ware wird über kurz oder lang zu ihrem (Markt-)Wert gekauft. Kein Betrug. Nur Ausbeutung. Das alles ist schon in der einfachen Tauschformel enthalten. Sie täuscht über die Bildung des Mehrwerts hinweg.

Sachen werden zu Waren, indem sie in ihren Werten sich gesellschaftlich zueinander verhalten. Personen werden als Arbeiter zu marktfähigen Sachen. Die Arbeiter verkaufen ihre Arbeitskraft. Diese heckt im Produktionsprozess Mehrwert aus und macht dadurch, durch ihr eigenes Produkt, die Arbeiter um so abhängiger.2 Auf diese sachliche Abhängigkeit, die Verdinglichung, hatte Marx bereits in den "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" hingewiesen. Aber diesmal hat er den Beweis aus der "Sache selbst" erbracht.

Fetisch: Sobald der Tisch "als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne."

Fast scheint es, als schriebe Marx das Märchen des Kapitalismus. Die animistischen Fähigkeiten der Waren sind das Produkt der zentralen Verkehrung: Sachliche (entfremdete) Verhältnisse der Personen stehen gesellschaftlichen Verhältnissen der Sachen gegenüber.

Die kapitalistische Produktionsweise und die Organisation der Gesellschaft durchdringen sich. Die Vergesellschaftung manifestiert sich als Versachlichung. Die Waren sind die Träger der Vergesellschaftung. Sie treten untereinander in Verkehr, bilden eigene Umgangsformen aus und treten als etwas Selbständiges, Kapital genannt, gegenüber den Handelnden hervor. Sie richten sich zu einer naturwüchsigen, unkontrollierbaren und krisenhaften Herrschaft auf. Die Rampe, von der aus die Waren zu Höherem und sich Mehrendem abheben, ist ihre Wertform.

Der Tisch kann tanzen. Kann er auch sprechen? Ja, und zwar mit der Zunge des Warenbesitzers und aus dem Holzkopf heraus. Die Waren personifizieren sich wieder. Der Besitzer/Verkäufer wird zum Repräsentanten seiner Ware. Die Vermarktung der Waren gelingt am besten, wenn der Besitzer in ihre Haut schlüpft. Die Ware ist seine Verkleidung. Sie kleidet ihn ein, und er demonstriert ihre Persönlichkeit. Heute wird dieser Prozess Ich-Design genannt. Die menschliche Persönlichkeit wird zum Typus und dieser zur Charaktermaske. Der Verkäufer wird zur Maske seiner Ware. Das nennt Marx Fetischcharakter.

Ist die Mystifikation der Waren – und durch sie die der Menschen – der Regress des Kapitalismus zu vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen? Die Berliner Ausstellung stellt einen afrikanischen Fetisch und einen christlichen Reliquienschrein "gleichberechtigt" nebeneinander.

Damit würden jedoch historische Entwicklungslinien miteinander vermengt. Die dem Kapitalismus angemessene Religion ist der bilderstürmerische Protestantismus, wie ihn Max Weber in seinem Schlüsseltext "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" beschrieben hat. Ein Motiv Webers war, die Juden von der Beschuldigung zu entlasten, für alle Unbilden des Kapitalismus verantwortlich zu sein.

Der Protestantismus leitete eine Säkularisierung der herrschenden christlichen Leitbilder zu Askese und Verantwortungsethik, generell zu Puritanismus und Pietismus ein. Hierarchien wurden verschlankt. Damit ist die Religion mit dem produktiven Kapitalismus kompatibel geworden. Die Union von Kirche und Kapital (besonders in England) führte jedoch nicht die rationale, friedliche Phase des Kapitalismus herbei, vielmehr fiel dieser ideologisch zurück in Spiritualismus, Animismus und Fetischismus. Anfälligkeit dafür besteht bis heute. Man denke an den Bison Man.

Die Gefahr eines Rückfalls ist latent. Populistische Politiker springen auf diesen Zug auf und versuchen, ihn in ihrem Interesse zu lenken. Welche Bilder der Vergangenheit dabei aufgerufen werden, ist relativ egal. Himmler leitete den Ostfeldzug mit den Worten ein: "Wieder reiten die Goten." Der Mythos wird Ersatz für Religion.

Der Fetischcharakter ist die Kippfigur, an der die politisch-ökonomische Analyse sich öffnet für die Sozialpsychologie und psychoanalytische Ethnologie eines Sigmund Freud. In "Totem und Tabu" beschreibt er Totems als symbolische, etwa tierische Verkörperungen einer Stammes-Identität. Sie halten die Gemeinschaft durch strenge Verbote und Rituale zusammen. Markant sind Totempfähle. Bei Fetischen liegen die magischen Kräfte in einem Objekt.

Zum Schluss: "Gewalt"

Nachdem Marx’ Haltung zur Religion erhellt worden ist, bleibt die Gretchenfrage offen: Wie hielt er es mit der Gewalt? Wenn er den "gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung" avisiert, hört sich das sehr radikal an. Bei genauer Betrachtung geht es aber in dieser wie in anderen Formulierungen um den Umsturz der Verhältnisse und Institutionen sowie die Auflösung der Klassen in eine freiheitliche Gesellschaft, in welcher jeder nach seinen Fähigkeiten, schließlich auch nach seinen Bedürfnissen leben kann.

Ließe sich folgern, dass Marx Gewalt gegen Sachen tolerierte, gegen Personen jedoch ausschloss? Noch die Studentenbewegung biss sich an diesem Gegensatz die Zähne aus. Und auch Marx selber sah den Weg zur Glückseligkeit eher dornig. Da bei einer Revolution die Herrschenden und sich den Mehrwert aneignenden Besitzenden so schnell nicht von der Macht und ihrer Profit-Mentalität lassen würden, sei eine "erste Phase der kommunistischen Gesellschaft" notwendig, in welcher die neuen Verhältnisse und Bedingungen politisch durchgesetzt werden müssen.

Eingriffe in das kapitalistische Privateigentum sind nötig, aber das persönliche, nicht auf Ausbeutung und Akkumulation beruhende Privateigentum behält durchaus seine Existenzberechtigung. Marx nannte diese erste Phase, die ansatzweise in der "Pariser Kommune" realisiert wurde, auch "Diktatur des Proletariats". Die Diskussion über Für und Wider mutet etwas rabulistisch an angesichts des Gemetzels, in welchem die Kommune endete. Täter und Opfer sollte man nicht verwechseln. Aber jede Seite bezichtigt die andere der größeren Verbrechen, und wenn alles vorbei ist, kommen die Historiker und schieben mit mehrfach revidierten Zahlen die Toten hin und her.

Marx legte sich vehement mit Michail Bakunin an. Als Anarchist vertrat und praktizierte dieser einen Putschismus, der in seinem unbedingten Kampf gegen jede Form von Staatlichkeit und Autorität Gewalt gegen Personen bereitwillig in Kauf nahm. Dagegen ist Marx gefeit. Für ihn ist die Aufhebung des Kapitalismus in der logischen Struktur des Kapitals enthalten. Er übernimmt Hegels Immanenz-Logik des Sich-selbst-Überbietens.

"Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle." Die Entwicklung der Produktivkräfte, die ständige Entwertung der Arbeitskraft und die Produktion von Mehrwert treiben durch die ihnen eigene Dynamik über die Produktionsverhältnisse hinaus und in die Krise hinein, sodass die Arbeiterklasse nur noch anzueignen braucht, was sie selbst vorbereitet hat. Das läuft wie ein naturgesetzlicher Vorgang ab, bei Engels mehr als bei Marx.

Die Frage, ob Marx für die Verbrechen verantwortlich ist, die postum in seinem Namen begangen wurden, ist zu ernst, um sie nicht ironisch zu beantworten: Marx erfuhr die Gnade der frühen Geburt. Er hat nicht mehr erlebt, was er angerichtet hat.

Eine ausführliche Darstellung siehe unter "Kleines Marx-Lexikon"