Nach dem Ukraine-Konflikt: Wie ein dritter Weltkrieg noch vermieden werden kann
Ein Globalkonflikt droht zunehmend. Doch er hĂ€ngt von jetzigen Entscheidungen ab. Warum ein Ende des Ukraine-Krieges fĂŒr alle positiv wĂ€re. (Teil 1)
GegenwĂ€rtige Gegner der Wiederaufnahme von Verhandlungen sind ĂŒberzeugt: "Putin verhandelt nicht." Aber dennoch gilt anzumerken, dass es zumindest fĂŒr einen Zeitraum erfolgreiche Verhandlungen beim Gefangenenaustausch, bei gegenseitiger Ăberstellung von Gefallenen und bei den Getreidetransporten gab. Vermittler waren hier Papst Franziskus, UN-GeneralsekretĂ€r Guterres sowie die tĂŒrkische Regierung.
Auch der ukrainische PrÀsident Selenskyj lehnt zwar offiziell Verhandlungen ab, bevor nicht die russischen Truppen die Ukraine verlassen haben, lÀsst aber dennoch in Bezug auf die angesprochenen Teilprobleme verhandeln.
Johannes Varwick (2022) fordert [1] daher Verhandlungen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation zum "Einfrieren" des Kriegs. Dies stelle zwar noch keine Lösung dar, könne aber der Beginn fĂŒr weitergehende Verhandlungen sein. Dies sei besser als weitere Hunderttausende Tote und Schwerverletzte und eine gefĂ€hrliche Eskalation des Kriegs.
Ebenfalls unterstĂŒtzt der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf MĂŒtzenich die Forderung nach dem Einfrieren des Konflikts, was allerdings in einem Gegensatz zum medialen Mainstream und zur Politik der grĂŒnen AuĂenministerin steht.
Michael von der Schulenburg (2024) zweifelt des Weiteren an, dass sich die gegenwÀrtige wechselseitige militÀrische Eskalation im Ukraine-Krieg mit dem Völkerrecht und der UN-Charta legitimieren lÀsst:
Kann man mit der UN-Charta auch rechtfertigen, ĂŒber mehrere Jahre einen Krieg zu fĂŒhren, der in der Zerstörung des angegriffenen Staates enden könnte? Und berechtigt dies auch zu einer Ausweitung des Krieges auf Russland mit dem Risiko, einen nuklearen Weltkrieg vom Zaun zu brechen? Und das alles, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, den Konflikt, der zu diesem Krieg gefĂŒhrt hat, friedlich zu lösen? Wohl kaum! Denn Sinn und Zweck der UN-Charta ist es ja, der Menschheit den Frieden zu erhalten und nicht etwa Kriege zu rechtfertigen.
Michael von der Schulenburg [2]
Wartet man jedoch zu lang mit dem Beginn von Verhandlungen in diesem Sinne kann die Ausgangslage fĂŒr Verhandlungen immer schlechter werden, wenn sich die militĂ€rische Lage fĂŒr die Ukraine verschlechtern sollte.
Die nukleare Bedrohung kommt nÀher
Das russische MilitĂ€r greift im ersten Halbjahr 2024 verstĂ€rkt die zweitgröĂte ukrainische Stadt Charkiw an und bombardiert zivile Infrastruktur. Die Nato befĂŒrwortet inzwischen den aus ihrer Sicht völkerrechtlich legitimen Einsatz westlicher Waffen von der Ukraine aus auf bestimmte militĂ€rische Ziele im russischen Gebiet, um u.a. die Angriffe auf Charkiw prĂ€ventiv zu verhindern.
Der französische PrĂ€sident Emmanuel Macron spricht sich fĂŒr den Einsatz westlicher MilitĂ€rs in der Ukraine aus. Die Ukraine zerstört einen Teil des dortigen nuklearen FrĂŒhwarnsystems. Putin kontert erneut mit der mit Ă€uĂerstem Ernst vorgetragenen Drohung, taktische Atomwaffen nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen einzusetzen.
Der ehemalige russische PrÀsident und MinisterprÀsident Medwedew drohen mit einem russischen Raketenangriff auf westliche HauptstÀdte und einem dritten Weltkrieg.
Die Russische Föderation fĂŒhrte dementsprechend ein Atomwaffenmanöver durch, um den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen zu erproben. Die Nato und Deutschland kĂŒndigen auf dem Nato-JubilĂ€um im Juli 2024 in New York u. a. die Stationierung neuer nuklear bestĂŒckbarer Mittelstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland an.
Nato-Mittelstreckenwaffen wieder in Deutschland
Damit werden erstmals seit dem Abzug der atomaren Mittelstreckenraketen im Jahr 1991 im Zuge des INF-Abkommens wieder Raketen auf deutschem Boden stationiert. Daher fordert die IPPNW [3], die internationale Ărzteorganisation zur Verhinderung eines Nuklearkrieges, "als ersten Schritt eine Risikominderung: Die drei westlichen AtommĂ€chte USA, GroĂbritannien und Frankreich sollten gemeinsam mit China auf Russland zuzugehen und eine Doktrin des Verzichts auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen erklĂ€ren."
Auch nuklear bestĂŒckbare Hyperschallraketen sollen bis 2026 auf deutschem Gebiet stationiert werden und stehen dann den bereits in Kaliningrad befindlichen russischen Hyperschallraketen gegenĂŒber. Russland greift zudem bereits mit Hyperschallraketen in der Ukraine an.
ĂuĂerst aktuell ist der Aufruf kritischer Politikwissenschaftler und fĂŒr Verhandlungen plĂ€dierender Politikerinnen und Politiker auf Change.org [4], der zum Widerstand gegen Hyperschallraketen in Ost und West aufruft, die in wenigen Minuten mit ihren konventionellen oder nuklearen Sprengköpfen die HauptstĂ€dte der beteiligten Staaten erreichen können.
Die Gefahr des Nuklearkrieges ist so nahe wie allenfalls wĂ€hrend der Kuba-Krise im Jahr 1962. Jedoch werden Persönlichkeiten und Politikwissenschaftler, die eine nukleare Reaktion nicht ausschlieĂen wollen, als Personen, die auf Putins Drohkulissen hereinfallen, öffentlich in westlichen Medien stigmatisiert.
Drohungen nuklearer Raketenangriffe werden als Angstmacherei und EinschĂŒchterungsversuche herabgestuft. Dennoch: MĂŒssen sich fĂŒhrende westliche Politiker aufgrund ihrer Verantwortlichkeit fĂŒr die Menschen, die sie reprĂ€sentieren, nicht fragen, ob man eine nukleare Reaktion Russlands tatsĂ€chlich ausschlieĂen kann? WĂ€re es nicht sinnvoller, jetzt endlich eine entschiedene Verhandlungsoffensive zu beginnen, bevor es zu spĂ€t ist?
GĂŒnter Verheugen und Petra Erler (2024:14) warnen in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg" â trotz ihrer Kritik an Russlands völkerrechtswidrigen Angriff â dementsprechend:
Ein Zerstörungswille, der sich auf Russland richtet, zerstört auch uns. Er fĂŒhrt zwingend in die nukleare Katastrophe, denn das ist der einzige Fall, bei dem die nukleare Doktrin Russlands greift: Steht die Existenz des Landes auf dem Spiel, ist der Atomwaffeneinsatz erlaubt. Was in der Welt wĂ€re es wert, herausfinden zu wollen, ob das nur eine leere DrohgebĂ€rde ist?
Herfried MĂŒnklers Position hingegen, dass es eine EU-Atombombe geben mĂŒsse, trĂ€gt wenig zu einer diplomatischen Offensive und zur Deeskalation bei â so MĂŒnkler (2023) [5]:
Die Briten haben zwar Atom-U-Boote, Frankreich die Bombe, aber werden sie die wirklich einsetzen, um Litauen oder Polen zu schĂŒtzen? Das darf man aus Sicht des Kreml bezweifeln. Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen groĂen EU-LĂ€ndern wandert.
MĂŒnkler plĂ€diert in diesem Zusammenhang fĂŒr eine massive AufrĂŒstung europĂ€ischer Staaten und der EU, um Russland abzuschrecken. Diese Ăberlegungen greift die europĂ€ische SPD-Spitzenkandidatin Katharina Barley auf und fordert ebenfalls ein Nachdenken ĂŒber eine europĂ€ische Atombombe â insbesondere angesichts der zukĂŒnftig zu erwartenden UnzuverlĂ€ssigkeit der USA (Wangerin 2024 [6]).
Eine derart massive HochrĂŒstung im konventionellen und nuklearen Bereich auf Seiten der Russischen Föderation und des Westens verbunden mit einer sich zuspitzenden Drohkulisse und einer militĂ€rischen Eskalation in der Ukraine ist kontraproduktiv und Ă€uĂerst gefĂ€hrlich. Es besteht die Gefahr des âPoint of no Returnâ und einer nicht zu stoppenden Eskalationsdynamik, wie es JĂŒrgen Habermas (2023) in der SĂŒddeutschen Zeitung formulierte. Irgendwann kann ein Kipppunkt erreicht sein, der die Ereignisse unkontrolliert und chaotisch auf die Welt einstĂŒrzen lĂ€sst. Wie weit sind wir jetzt von diesem Kipppunkt noch entfernt?
Die notwendige Doppelstrategie zur Beendigung des Kriegs
Der Politikwissenschaftler Hajo Funke fordert in seiner Flugschrift "Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" bereits im Juni 2023 angesichts des durch den Krieg entstandenen menschlichen Leids die Wiederaufnahme von Verhandlungen ein:
Ist es legitim â das gilt erneut fĂŒr alle Seiten â, Leid und Zerstörung fĂŒr Menschen und Gesellschaften weiterhin hinzunehmen, ohne alles â aber auch alles â in der Macht der Regierungen unserer Völker Stehende zu tun, diese destruktive Eskalation im Krieg zu unterbrechen? MĂŒssen wir nicht spĂ€testens jetzt (âŠ) die Frage stellen, ob ein âweiter soâ durch mehr Waffen und mehr Eskalation gegenĂŒber den betroffenen Gesellschaften und den gefĂ€hrdeten Menschen sich noch rechtfertigen lĂ€sst?" Zwei notwendige Strategien mĂŒssten m. E. als Doppelstrategie ("Ausbau der VerteidigungsfĂ€higkeit und Verhandlungsoffensive") in diesem Zusammenhang parallel zueinander weiterentwickelt werden:
Erstens: Koordinierter Ausbau der militĂ€rischen VerteidigungsfĂ€higkeit der EU, der NATO sowie der Ukraine mit AugenmaĂ, um ein weiteres militĂ€risches Vordringen der Russischen Föderation zu verhindern â auch eventuell ĂŒber die Ukraine hinaus;
Zweitens: Parallel hierzu forcierte Verhandlungsangebote im Krieg in der Ukraine ĂŒber eine wirkmĂ€chtige Verhandlungskommission mit Vertretern einflussreicher Staaten unter FederfĂŒhrung des UN-Generalsekretariats mit den Regierungen der Russischen Föderation und der Ukraine.
Dazu mehr im zweiten Teil dieses Textes [7], der am morgigen Montag auf Telepolis erscheint.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.freitag.de/autoren/johannes-varwick/warum-der-ukraine-krieg-eingefroren-werden-muss
[2] https://www.telepolis.de/features/Wie-die-Achtung-des-Voelkerrechts-den-Ukraine-Krieg-haette-verhindern-koennen-9798921.html
[3] https://news.ippnw.de/index.php?id=2526
[4] https://www.change.org/p/gegen-die-atomare-bedrohung
[5] https://www.stern.de/politik/ausland/herfried-muenkler---europa-muss-atomare-faehigkeiten-aufbauen--34238700.html
[6] https://www.telepolis.de/features/EU-Atomwaffen-Lernt-die-SPD-die-Bombe-zu-lieben-9627538.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Nach-dem-Ukraine-Konflikt-Wege-zu-Frieden-und-Sicherheit-in-Europa-9809240.html
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