Nach vorn in die Zukunft
Ein Plädoyer für den klassischen Science-Fiction-Roman
Science-Fiction – beinahe hat es den Anschein, als zielte dieses aus der Feder des US-Publizisten und Herausgebers der „Amazing Stories“, Hugo Gernsbach, 1929 entsprungene Kunstwort nur darauf ab, ein inzwischen in TV, Funk, Film und Literatur populäres Genre durch bewusste Abstraktion zu mystifizieren. Selbst der belesenste Experte dieser ursprünglich aus der utopisch-fantastischen Literatur hervorgegangenen Gattung muss immer wieder von neuem Berge von Büchern abtragen, um im Flach- und Hochland des SF bzw. auf trivialer sowie distinguierter Ebene nicht den Durch- und Überblick zu verlieren. Dabei lohnt die Lektüre, begegnen uns doch die besten SF-Geschichten nicht in bewegten Bildern oder im Hörspiel, sondern vorzugsweise in Buchform, sofern der Leser seiner Imaginationskraft freien Lauf zu lassen vermag.
Es ist in der Tat beeindruckend, wie viele Sub-Genres die Literaturform Science-Fiction im Verlauf der Jahre hervorgebracht hat – und auffallend zugleich, welche und wie viele kreative Autoren sich in diesem imaginären Kosmos tummeln. Ob in den SF-Untergattungen Planetary Romance, Science Fantasy, Space Opera oder Horror-SF u.v.a. – jeder Geschmack wird auf verschiedenen Niveaus bedient.
So viele Definitionen wie Definitoren
Dass dennoch das breite Publikum, eventuell auch das Gros der Verleger beim Klang der Wortkombination Science-Fiction assoziativ an Raumschiffe, Planeten, außerirdische Lebewesen oder Endzeitszenarien (Apokalypse) denkt, liegt in der Natur dieses Begriffes. Denn was Science-Fiction letzten Endes wirklich ist oder auch nicht, hängt offenbar vom subjektiven Ermessen des jeweiligen Betrachters ab.
"Es gibt wahrscheinlich so viele Definitionen der Science-Fiction wie Definitoren", konstatierte einmal der Grandseigneur dieser Literaturform, Isaac Asimov. Dass Asimov den Kern des Problems richtig herausschälte, zeigt das reichhaltige Schrifttum, in dem das Wortpaar Science-Fiction bislang zu Genüge erklärt und verklärt, manchmal aber auch mit gelungenen Metaphern etikettiert wurde. "In einem Science-Fiction-Werk dient die Wissenschaft nicht allein der Verschönerung. Sie ist vielmehr der Zauberstab, der die Erzählung auf eine höhere Ebene bringt", schwärmt der französische SF-Autor Jean-Claude Dunyach.
Keine Zukunftsseher
Kurz und knapp, aber nicht minder treffend präzisierte Stephen Hawking diesen Sachverhalt: "Die Verbindung zwischen Science-Fiction und Wissenschaft führt in beide Richtungen. Die von der SF präsentierten Ideen gehen ab und zu in wissenschaftliche Theorie ein. Und manchmal bringt die Wissenschaft Konzepte hervor, die noch seltsamer sind als die exotischste Science-Fiction.“
Während der Blick in den altbewährten Brockhaus lehrt, dass Science-Fiction ein „Sammelbegriff für den breit gestreuten Bereich der Literatur, der sich v.a. seit dem Ende des 19. Jh. infolge des Interesses an technisch-wissenschaftlichen Aspekten aus der utopischen und fantastischen Literatur herausbildete und sich als Darstellung zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse etablierte“, sind sich unsere zeitgenössischen SF-Protagonisten immerhin darin einig, dass diese Literaturform nicht allein darauf abzielt, die Zukunft – ob technische Entwicklungen oder gesellschaftliche Strukturen – auf irgendeine Weise vorherzusagen. Science-Fiction-Autoren verstehen sich nicht als Propheten. Wenn in Romanen oder Filmen neuartige Technologien einfließen, dann geschieht dies meist aus dramaturgischen Gründen, um eine Handlung voranzutreiben, zu erweitern, zu vereinfachen oder zu verdichten.
Ständiger Ideenaustausch vonnöten
Trotz aller Fantasie muss es aber mit Blick auf den Terminus Technicus Science-Fiction gestattet sein, die Bedeutung des Wortes Science hervorzuheben. Mögen wir diese Vokabel gemeinhin lapidar mit „Wissenschaft“ übersetzen – Angloamerikaner assoziieren damit ausschließlich den Begriff Naturwissenschaft. Ergo muss Science-Fiction, will sie einen wissenschaftlich realen Blick in die Zukunft ermöglichen, wenigstens ein Mindestmaß an Erkenntnissen gegenwärtiger Wissenschaft reflektieren.
Es sollte ein Dialog zwischen Science und Fiction bestehen, wie der SF-Schriftsteller Charles Sheffield fordert. "Zwischen Science-Fiction und Science Fact sollte es einen ständigen Ideenaustausch geben." Bleibt dieser aus, verkommt Science-Fiction schnell zu Quadrat-Fiction. Beispiele von fantasy- und horrorlastigen SF-Filmen oder Büchern gibt es ja bekanntlich en masse.
Die Spannweite von Science-Fiction-Geschichten reicht von den hoffnungsvollsten Visionen für die Zukunft der Menschheit bis hin zu den grauenhaftesten Befürchtungen eines apokalyptischen Untergangs unserer Spezies. Somit ist diese Literaturgattung ein sensibler Sensor wissenschaftlichen Fortschritts und menschlicher Ängste, aber auch ein Indikator menschlicher Träume: Träume von einer besseren Zukunft.
„Das Ende der Ewigkeit“
In Filmen, Fernsehserien und Romanen reflektiert Science-Fiction den jeweils aktuellen Zeitgeist. Zugleich ist sie aber auch ein Forum, in dem die ewigen Fragen der Menschheit und somit auch deren Rolle im Kosmos gestellt werden. In den letzten Jahrzehnten sind die Inhalte vieler SF-Romane vor allem als Filme oder Fernsehserien bekannt geworden. „Science-Fiction ist nicht nur eine Literatur der Ideen, sondern auch der Bilder“, präzisierte es einmal der SF-Kenner Patrick Gyger.
Dank der bildlichen Darstellung, den immer besser werdenden Special Effects, hat das Interesse für diese Unterhaltungssparte sukzessive zugenommen. In allen Variationen und Facetten feiern Science-Fiction-Filme große Erfolge – heute mehr denn je. Gigantische, imposante, kilometerlange Raumschiffe, die sich bereits zu Filmbeginn im schallfreien Vakuum mit lautem Getöse gemächlich über die Kinoleinwand schleppen, versetzen den Zuschauer sofort in die „Welt da draußen“.
Die Macht der Bilder und die Kraft der Akustik (z. B. Sensurround) faszinieren den Zuschauer (und Zuhörer) scheinbar mehr als die Lektüre anspruchsvoller Bücher à la „Starmaker“ von Olaf Stapledon oder „Das Ende der Ewigkeit“ von Isaac Asimov.
Wie ein Monolith
Gesellen sich dann auch noch möglichst exotische außerirdische Lebewesen hinzu, ist der Zuschauer schon mittendrin im farbenprächtigen und bilderreichen Science-Fiction-Kosmos. Dabei kommen die meisten Kinohits in der Regel mit geballter Actionkraft lautstark daher. Subtilere Spielfilme wie etwa 2001 - Odyssee im Weltraum – der selbst wie ein Monolith aus dem cineastischen „flachen“ Einerlei herausragt – fesseln den Zuschauer mit anderen Qualitäten. Sie orientieren sich stärker an „Science“, stärker an das im Rahmen der physikalischen Gesetze technisch Machbare. Sie geben dem Handlungsrahmen mehr Raum und Zeit. Und sie geben den Bildern eine größere Entfaltungsmöglichkeit, so dass sie am Ende für sich allein sprechen können.
Kubricks „2001“-Meisterwerk, das auf Arthur C. Clarkes 1951 geschriebener elfseitiger Kurzgeschichte „The Sentinel“ („Der Wächter“) basiert, steht exemplarisch für diesen Anspruch. Dass sich der Film „2001“ auf eine Reihe von Schlüsselsymbolen reduzieren lässt, zeigt sich schon zu Beginn. Fortlaufende Bilder, die nur mit Musik untermalt sind, zeigen eine urzeitliche Affenhand, die den glatten schwarzen Monolith berührt und eine Weile später den Weltraumhandschuh des Astronauten, der das Gebilde auf ähnliche Weise touchiert. Nicht zu vergessen den berühmten symbolischen Schnitt von dem hochgeschleuderten, sich drehenden Knochen auf das knochenförmig geformte Raumschiff und die rotierende Raumstation. Bedauerlicherweise sind solche SF-Filme eine Rarität.
Aliens en masse
Besonders stark manifestieren sich die Bilder in dem schillernden Alien-Zoo, dem bunt gemischten Konglomerat Außerirdischer, das weltweit und tagtäglich über die Leinwände und über die Fernsehschirme flimmert. Die unterschiedlichsten Lebensformen geben sich hier die Ehre. Allein im Star-Trek-Kosmos geisterten bislang mehrere Hundert verschiedene Lebensformen mit teils bizarren Mienen umher, von den unzähligen fremdartigen Geschöpfen in den farbenfrohen Star-Wars-Epen und Perry-Rhodan-Abenteuern ganz zu schweigen.
Wie viele davon seit Beginn der Science-Fiction insgesamt in den virtuellen Romanwelten schon zu Hause waren, können sogar versierte SF-Experten nur schwer abschätzen. Gäbe es ein Wachsfigurenkabinett, in dem alle bisherigen in Literatur, Film und Hörspiel an- und ausgedachten extraterrestrischen Figuren als kunstvolle Plastiken ausgestellt wären, platzte selbst das großräumige Metropolitan Museum in New York zwangsläufig aus allen Nähten.
Wichtiger Katalysator
So gesehen sind laufende Bilder heutzutage der wichtigste Katalysator, um Science-Fiction-Geschichten zu beleben; sie beflügeln nicht nur die Handlung, sondern geben auch den Protagonisten ein originelles Gesicht. Wohl deshalb assoziieren viele mit diesem Unterhaltungssektor automatisch nur das, was auch verfilmt wurde – leider. Denn wenn das Visualisierte über das Geschriebene siegt, bleibt die Fantasie und Imaginationskraft des Rezipienten auf der Strecke. Wenn alles gourmetgerecht aufgetischt wird, verkommt der Zuschauer zum passiven Fast-Food-Konsumenten.
Dies ist umso bedauerlicher, weil die echten, wahren Klassiker, die besten Science-Fiction-Geschichten uns nicht in bewegten Bildern, sondern immer noch in Buchform begegnen. Auch wenn so manch humanistisch gebildeter, dem klassischen Schrifttum wohlgesinnter Leser gerne das als trivial abqualifiziert, braucht sich das Genre hinter keiner anderen Literaturform zu verstecken … im Gegenteil.
Zehn empfehlenswerte SF-Romane von zehn verschiedenen Autoren
- Asimov, Isaac: Das Ende der Ewigkeit, Heyne-Verlag, München 1988.
- Benford, Gregory: Cosm, Heyne-Verlag, München 2000.
- Clarke, Arthur: Die letzte Generation, Heyne-Verlag 2003.
- Dick, Philipp K.: LSD Astronauten - Die drei Stigmata des Palmer Eldritch, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1971.
- Eschbach, Andreas: Quest, Heyne-Verlag, München 2001.
- Galouye, Daniel F.: Simulacron Drei, Heyne-Verlag 1983 [dieses Buch erschien in Dt. erstmals 1965 unter dem Titel: "Welt am Draht"].
- Lem, Stanislaw: Der Lokaltermin, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987.
- Sagan, Carl: Contact, Droemer/Knaur, München 1986.
- Schätzing, Frank: Der Schwarm, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
- Stapledon, Olaf: Der Sternenmacher, Heyne-Verlag, München 1969.