Nähe zur Macht: Wenn Spitzenjournalisten Regierungssprecher werden

Screenshot des Beitrags von ARD-Korrespondent Stempfle auf Tagesschau.de über seinen späteren Arbeitgeber Boris Pistorius (SPD), den neuen Bundesverteidigungsminister. Bild: Screenshot

ARD-Korrespondent Stempfle wird Sprecher des Verteidigungsministeriums. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. PR-Abteilungen im Regierungsapparat werden von ehemaligen Journalisten geleitet. Was trennt Politik und Medien noch?

Der ARD-Hauptstadtkorrespondent Michael Stemple hat bekannt gegeben, dass er vom Journalismus in die PR-Abteilung des Verteidigungsministeriums wechselt. Er wird nun Sprecher unter dem neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).

Solche Seitenwechsel, auch Drehtür-Effekt genannt, sind keineswegs die Ausnahme. Und sie sind nicht auf die Medienbranche beschränkt. Reges Hin und Her gibt es auch zwischen Politik und Wirtschaft, bis hinauf in die Regierungsspitze.

Bestes Beispiel ist der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder, der schon kurz nach dem Ende seiner Amtszeit nicht nur beim russischen Konzern Gazprom lukrative Ämter übernahm, sondern eine ganze Reihe von Lobby- und Beratertätigkeiten für internationale Unternehmen ausgeübt hat.

Meist werden die Seitenwechsel von Journalisten, wenn überhaupt, als Randnotiz in der Öffentlichkeit abgetan. Im Fall Stempfle äußerten einige Zeitungen jedoch Unmut, weil der ARD-Korrespondent ein paar Tage vor der Entscheidung Pistorius auffällig gelobt hatte. "Neuer Verteidigungsminister Pistorius – Ein Vollblutpolitiker, der anpackt" lautet der Titel seines Tagesschau-Berichts. Der Kölner Stadtanzeiger fragt:

War der Journalist befangen, als er den Bericht verfasste? Wie viel Zeit sollten Journalistinnen und Journalisten vergehen lassen, bevor sie "auf die andere Seite" wechseln?

Aber "Befangenheit" bei einem Artikel vor dem Wechsel oder eine Karenzzeit treffen nicht den Kern des Problems. Denn es ist fast schon üblich geworden, dass Sprecher von Ministerien und Regierungen ehemalige Journalist:innen sind. So ist der Vorgänger von Stempfle der frühere ARD-Journalist Christian Thiels, der sowohl für Ministerin Christine Lambrecht (SPD) als auch für ihre Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) arbeitete.

Auch bei den Regierungssprechern sind Ex-Journalisten stark vertreten. 2010 holte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den bekannten ZDF-Moderator Steffen Seibert, das Gesicht der Nachrichtensendung Heute-Journal, mit ins Boot und erkor ihn zum Sprecher der Bundesregierung.

Über zehn Jahre hielt er das Amt, so lange wie keiner zuvor. Seibert hatte damals ein "allgemeines Rückkehrrecht" mit dem ZDF vereinbart. Doch das ist nach zehn Jahren Regierungsarbeit ohne massive Glaubwürdigkeitsverluste kaum mehr einlösbar. Seit August 2022 ist Seibert nun Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel.

Seibert hatte damals die Nachfolge von Ulrich Wilhelm angetreten, der gleichzeitig Intendant des Bayerischen Rundfunks (BR) wurde. Die Drehtür zwischen öffentlich-rechtlichen Sendern und Regierungs-PR lief in diesem Fall zeitgleich in beide Richtungen.

Aber auch Seibert und Wilhelm sind keine Einzelfälle. Prominente Journalisten wie von Spiegel, ARD, ZDF, Zeit, Süddeutsche Zeitung oder Bildzeitung zog es immer wieder ins Sprecheramt der Bundesregierung. Eine nicht vollständige Auflistung mag das verdeutlichen:

Felix von Eckardt: 1952 bis 1955 Regierungssprecher, davor Chefredakteur Weser-Kurier

Conrad Ahlers: 1969 bis 1972 Regierungssprecher, davor Spiegel

Klaus Bölling: 1974 bis 1980 und 1982, Regierungssprecher, davor Intendant Radio Bremen

Diether Stolze: 1982 bis 1983 Regierungssprecher, davor Chefredakteur der Zeit

Peter Boenisch: 1983 bis 1985 Regierungssprecher, davor Chefredakteur Bildzeitung und Welt

Friedhelm Ost: 1985 bis 1989 Regierungssprecher, davor ZDF

Hans Klein: 1989 bis 1990 Regierungssprecher, davor freier Journalist

Peter Hausmann: 1994 bis 1998 Regierungssprecher, davor Bayerische Rundfunk, danach wieder BR und Chefredakteur des Bayernkuriers

Uwe-Karsten Heye: 1998 bis 2002 Regierungssprecher, davor Süddeutsche Zeitung und Zeit

Bela Anda: 2002 bis 2005 Regierungssprecher, davor Bildzeitung

Grenze zwischen Journalismus und PR verschwimmt mehr und mehr

Auch heute wird das sogenannte Informations- und Presseamt der Bundesregierung von Top-Journalisten mit hoher Medienpräsenz geleitet:

Steffen Hebestreit, amtierender Regierungssprecher:

Steffen Hebestreit war von 2006 bis 2010 Hauptstadtkorrespondent der Frankfurter Rundschau, danach bis 2014 Hauptstadtkorrespondent in der DuMont Redaktionsgemeinschaft.

Christiane Hoffmann, amtierende stellvertretende Regierungssprecherin:

Christiane Hoffmann arbeitete von 1994 bis 2012 in verschiedenen Funktionen als Auslands- und Hauptstadtkorrespondentin für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Danach wechselte sie zum Spiegel und wurde dort stellvertretende Leiterin im Hauptstadtbüro und Meinungschefin. Sie war regelmäßiger Gast in den großen Politik-Talkshows.

Wolfgang Büchner, amtierender stellvertretender Regierungssprecher:

Wolfgang Büchner war seit 1992 für diverse Medien unterwegs. Zuerst arbeitete er als Korrespondent der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Danach wurde er in Abfolge Chef vom Dienst bei der Nachrichtenagentur Reuters, Chef vom Dienst bei der Financial Times Deutschland, Chefredakteur bei Spiegel Online, Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und schließlich Chefredakteur von Spiegel und Spiegel Online.

Nachdem er kurzzeitig Geschäftsführer der Blick-Gruppe bei der Ringier AG in Zürich gewesen war, wechselt er als Geschäftsführer und Chefredakteur des Redaktionsnetzwerks Deutschland von 2017 bis 2019 zur Mediengruppe Madsack. 2019 bis 2021 fungierte er als freier Journalist und Kommunikationsberater für die FDP und die Agentur MSL Germany in Berlin.

Aber auch in den Bundesministerien tummeln sich aktuell ehemalige Journalisten als Sprecher und Leiter der PR-Abteilungen (die man "Abteilung für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit nennt", um ihren eigentlichen Zweck zu verschleiern). Auch hier muss ein grober Überblick reichen:

Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Pressesprecherin Nicola Kabel:

Nicola Kabel war mehrere Jahre Redakteurin der Deutschen Presse-Agentur, bevor sie in die politische PR-Abteilung wechselte.

Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, Pressesprecher Julian Mieth:

Bevor Mieth in politische Sprecherämter wechselte, war er von 2009 bis 2012 Korrespondent und Redakteur der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sowie von 2007 bis 2009 freier Autor u.a. für die Welt, Welt am Sonntag und Berliner Morgenpost.

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Pressesprecherin Regine Zylka:

Zylka war bis 2010 stellvertretende Leiterin des Ressorts Berlin-Brandenburg der Berliner Zeitung sowie davor Leiterin Landespolitik. Sie wechselte vom Berliner Wohnungsunternehmen Degewo, wo sie die Unternehmenskommunikation leitete, zum Bundesministerium.

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Pressesprecher Ulrich Schulte:

Ulrich Schulte leitet das Parlamentsbüro der Berliner taz und "hat den Aufstieg von Robert Habeck und Annalena Baerbock eng begleitet", so der Rowohlt-Verlag über seinen Autor. Und weiter: "Er berichtet seit 2011 über die Partei Bündnis 90 / Die Grünen, hat viele Parteitage besucht und kennt fast alle ihre Spitzenpolitiker persönlich. Vor seiner Zeit im Parlamentsbüro leitete Schulte drei Jahre lang das Innenpolitik-Ressort der taz. 2010 erhielt er das renommierte Arthur F. Burns-Stipendium und arbeitete zwei Monate lang bei der Chicago Tribune."

Bundesministerium für Gesundheit, Pressesprecher Hanno Kautz:

Kautz kommt von der Bildzeitung, wo er seit 2007 als Parlamentskorrespondent unterwegs war. Davor war er mehrere Jahre lang für die Ärzte-Zeitung in gleicher Funktion tätig.

Bundesministerium für Finanzen, Pressesprecher Fabian Leber:

Fabian Leber war von 2005 bis 2017 Redakteur beim Tagesspiegel.

Natürlich haben Journalist:innen das Recht, ihren Beruf zu wechseln, wie jeder andere Arbeitnehmer auch. Doch die Dimension der Wechsel und die Prominenz der Akteure sollten zu denken geben. Sie verweisen auf ein problematisches Selbstverständnis, insbesondere von Top-Journalisten mit Nähe zu den Mächtigen. Diese werden ja von den PR-Sprecher-Jobs nicht angezogen, weil es um mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit geht. Die hatten sie ja bereits in den Medien. Hier sind andere Triebfedern am Werk.

Die Seitenwechsel geben zudem der Ansicht weiter Nahrung, dass Politik und Medien miteinander verfilzt sind. Die Glaubwürdigkeit droht immer weiter zu erodieren. Dass Politiker der AfD ihre Rechtsthese von der "Lügenpresse" in diesen Fällen nicht nutzen, hat damit zu tun, dass sie selbst reichlich auf den Journalistenpool für ihre PR-Abteilungen und politischen Ämter zurückgreifen.

Die Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche" hat vor Jahren bereits die Losung ausgegeben: "Journalisten machen keine PR". Das war ein provokativer Denkanstoß, der auch die Medien in die Pflicht nahm, Bedingungen herzustellen, dass Journalist:innen nicht aus finanziellen, teilweise Existenzgründen PR machen müssen.

Das war vor über 15 Jahren. Seitdem verschwimmt die Grenze zwischen Journalismus und PR zunehmend, auch weil die Medienbranche immer weniger Perspektiven für Journalist:innen bietet und Top-Journalisten die Nähe zur Macht der Nähe zur Wahrheit vorziehen.