Naher Osten 2023: Warum mit dem Israel-Gaza-Krieg fast alles anders ist

Ruslan Suleimanov

Palästinenser inspizieren die Schäden nach einem israelischen Luftangriff auf die El-Remal-Area in Gaza-Stadt am 9. Oktober 2023. Bild: Wafa / CC BY-SA 3.0 Deed

In diesem Jahr sollte vieles besser werden. Statt Normalisierung gab es jedoch Eskalation in Nahost. Über ein neues Machtgefüge und was jetzt passieren muss.

Anfang März 2023 unterzeichneten Vertreter Saudi-Arabiens und Irans eine Vereinbarung zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Eröffnung von Botschaften. Dass diese Einigung bei Gesprächen in Beijing (Peking) erzielt wurde, unterstreicht, wie Chinas Rolle im Nahen Osten sowohl wirtschaftlich als auch politisch gewachsen ist.

Ein weiterer Meilenstein für den Nahen Osten war Anfang des Jahres die Rückkehr des syrischen Diktators Baschar Al-Assad in die Arabische Liga. Im Mai nahm er erstmals seit zwölf Jahren an einem Gipfeltreffen der Organisation in der saudischen Stadt Dschidda teil.

Die Normalisierung der Beziehungen zwischen Damaskus und seinen regionalen Nachbarn wurde durch das katastrophale Erdbeben in Syrien und der Türkei im Februar erleichtert, bei dem mehr als 50.000 Menschen starben. Viele Länder entsandten nach dieser Tragödie humanitäre Hilfe und Rettungstrupps.

Scheinbarer Siegeszug der Verständigung

Daraufhin intensivierte das Assad-Regime seine Kontakte mit einer Reihe von arabischen Ländern, darunter Ägypten und Saudi-Arabien.

Die Türkei wiederum strebte eine Aussöhnung mit ihren Nachbarn Griechenland und Armenien an. Die türkisch-armenische Grenze wurde erstmals seit 1988 geöffnet. Die Türkei verstärkte weiterhin ihre Beziehungen zu einigen arabischen Staaten, etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten.

Der türkische Präsident Recep Erdoğan änderte seine Sprachregelungen, hörte auf, den ägyptischen Staatschef Al Sissi als "Diktator" zu bezeichnen oder den Emiraten vorzuwerfen, "hinter dem Putschversuch" in der Türkei 2016 zu stehen.

Ungelöste Fragen

So verblieb als ungelöste Frage die der Beziehungen Israels zur arabischen Welt. Hier hatten sich die Dinge ebenfalls bereits verbessert: Im sogenannten "Abraham-Abkommen" Ende 2020 unter der Vermittlung der USA wurden das Verhältnis verbessert und Israel gelang es, diplomatische Beziehungen mit den Emiraten, Bahrain, dem Sudan und Marokko aufzubauen.

Vorher hatten von allen arabischen Staaten nur Ägypten und Jordanien den jüdischen Staat überhaupt anerkannt. Nun unterhalten sechs von 22 Staaten diplomatische Beziehungen zu Israel.

2023 sollte auch Saudi-Arabien diesem Abkommen beitreten. Washington vermittelte aktiv zwischen Tel Aviv und Riad, die in Verhandlungen standen. Ende September 2023 besuchte der israelische Tourismusminister Haim Katz sogar die saudische Hauptstadt, um an der Konferenz der Welttourismusorganisation teilzunehmen.

Palästinenserfrage aufgehoben

Dieser Besuch war der erste eines israelischen Ministers im Königreich. Es existierten bereits vorläufige Vereinbarungen über eine Anerkennung des Staates Israel im Austausch für Zugeständnisse in der Palästinenserfrage.

Flankiert wurden sie durch Sicherheitsgarantien der USA und US-Unterstützung beim friedlichen Atomprogramm des Königreichs. Es ist auch bekannt, dass die Palästinenserfrage für die Saudis unter der Führung von Kronprinz Mohammed bin Salman nie Priorität hatte.

Vielen schien es zu diesem Zeitpunkt, man könne die Palästinenserfrage einfach aufschieben oder sogar vergessen. Der Höhepunkt der Problemverleugnung war, als der nationale US-Sicherheitsberater Jake Sullivan am 30. September stolz erklärte, dass "die Region im Nahen Osten heute ruhiger ist, als in den letzten beiden Jahrzehnten".

"Das Messer im Rücken"

Nur acht Tage später sollte sich das ändern. In den letzten Jahrzehnten gab es innerhalb der palästinensischen Bewegung zwei Lager zu der Weise, wie das Recht auf einen eigenen Staat verwirklicht werden kann.

Die Palästinensische Nationale Befreiungsbewegung (Fatah) unter der Führung des greisen 88-jährigen Mahmoud Abbas, die das Westjordanland kontrolliert, hat sich der Diplomatie und Verhandlungen mit Israel verschrieben.

Die Militanten der Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas), die seit 2007 alleine den Gazastreifen kontrollieren, sind wiederum davon überzeugt, dass alle Versuche einer diplomatischen Konfliktlösung mit Israel vergebens sind. Ihr einziger Weg ist der bewaffnete Widerstand.

Normalisierungsprozess

Hamas-Führer haben den Normalisierungsprozess zwischen den arabischen Ländern und Israel wiederholt als "große Schande" und "ein Messer im Rücken der Palästinenser" bezeichnet.

Die Situation um den Konflikt mit Israel eskaliert, als sich im Jahr 2022 in Israel die rechteste Regierung in der Geschichte des Landes gebildet hatte. So äußerte der neue Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir die Ansicht, dass die "Palästinenser nach Saudi-Arabien oder an andere Orte wie den Irak oder den Iran gehen können".

Er besuchte auch Anfang 2023 den Tempelberg in Jerusalem, einen heiligen Ort für Juden und Muslime gleichermaßen. Das brachte in der gesamten muslimischen Welt Gläubige gegen Israel auf und Netanjahu musste sogar einen geplanten Besuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten verschieben.

Westjordanland

Ende Januar 2023 führten israelische Sicherheitskräfte brutale Razzien im Westjordanland durch, bei denen elf Palästinenser getötet wurden. Als Reaktion darauf verübten palästinensische Radikale einen Angriff in Jerusalem, bei dem wiederum mindestens sieben Menschen starben.

Im Jahresverlauf 2023 bis zum Hamas-Angriff am 7. Oktober wurden 247 Palästinenser durch israelische Soldaten getötet, also fast jeden Tag einer, während 39 Israelis und zwei Ausländer durch palästinensische Attacken umgebracht wurden. Trotz all dieser Grausamkeiten konnte die Situation immer wieder eingedämmt werden und führte zunächst nicht zu einem umfassenden Krieg.

Ende Februar einigten sich die Palästinenser, vertreten durch die Fatah, und die Israelis unter Vermittlung der USA und Ägyptens in Jordanien sogar darauf, "Maßnahmen zu ergreifen, um das Vertrauen wiederherzustellen und aufkommende Probleme zu lösen". Hamas-Führer wiederum bezeichneten das Treffen als "nutzlos" und verurteilten die Vertreter des Westjordanlands wegen ihrer Teilnahme.

Dennoch wurden die Verhandlungen fortgesetzt. Die Hamas spürte durch die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel immer deutlicher, dass die Palästinenserfrage tatsächlich für obsolet erklärt werden sollte. Das wollte sie verhindern.

Die Eskalation zum Krieg

So durchbrachen Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 das hoch entwickelte Verteidigungssystem Israel, sie töteten und entführten mehr als 1.200 Zivilisten. Der Angriff ging mit Gräueltaten gegen Frauen, Kinder und älteren Menschen einher. Ferner wurde das israelische Territorium von Raketen der Militanten getroffen, die teilweise das israelische Raketenabwehrsystem "Iron Dome" durchbrachen.

Der Angriff erinnerte die Israelis an den Jom-Kippur-Krieg, der vor genau 50 Jahren und einem Tag, am 06. Oktober 1973, an einem hohen jüdischen Feiertag begann. Damals war die Invasion einer arabischen Koalition unter Führung Ägyptens und Syriens auch ein Versagen des israelischen Geheimdienstes.

Obwohl den Israelis die Rückeroberung aller besetzter Gebiete gelang und sie sogar in die Offensive gingen, gilt dieser Krieg als eine der dunkelsten Stunden in der Geschichte des israelischen Staates.

Massive Bombenangriffe

Auch aktuell reagierte Israel entschieden und gnadenlos. Zunächst begann die israelische Armee mit massiven Bombenangriffen auf den Gazastreifen und ging Ende Oktober zu Bodenoperationen über. Netanjahu versprach, der Krieg werde "die Landkarte des Nahen Ostens verändern".

Von den Geiseln schaffte es die Armee jedoch nur eine zu befreien – die übrigen mehr als 100 wurden entweder von der Hamasa oder im Austausch mit palästinensischen Gefangenen freigelassen. Mehr als 100 Geiseln befinden sich noch immer in den Händen der Hamas.

Von Israel gejagte, wichtige Anführer des militanten Arms der Hamas in Gaza, wie Yahya Sinwar, bleiben weiter in einem wahrscheinlich 500 Kilometer langen unterirdischen Tunnelnetz verschanzt und sind möglicherweise bereits aus dem Gaza-Gebiet geflohen. Die Hauptlast des Krieges trägt vor allem die Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Bislang wurden mehr als 20.000 Bewohner des Gazastreifens getötet, etwa zwei Millionen Palästinenser dort mussten ihre Häuser verlassen und nach Süden fliehen, also etwa 85 Prozent der Einheimischen.

Cui Bono?

Am 12. Dezember stimmten 153 UNO-Mitgliedsstaaten in der Generalversammlung für eine Resolution, die einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza forderte. Dagegen stimmten die USA und Israel, erstere blockierte mit ihrem Veto einen entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrates. Somit bleiben die Amerikaner die wichtigsten Verbündeten Israels.

Doch auch Washington fällt es immer schwerer, zwischen Israel und der arabischen Welt zu manövrieren. So ist es bezeichnend, dass es beispielsweise nach Verhandlungen zwischen US-Außenminister Blinken in Jordanien und mehreren arabischen Kollegen nicht einmal zu einer gemeinsamen Erklärung kam.

Ein anderes für den 18. Oktober geplantes ähnliches Treffen von Staats- und Regierungschefs unter Beteiligung von US-Präsident Biden wurde ganz abgesagt.

Tunnelkrieg

In der Masse der fliehenden Zivilisten in Gaza können zudem Hamas-Kämpfer sehr leicht untertauchen, Israel verfügt auch über keine Erfahrung in einem Tunnelkrieg. Israelische Generäle geben zu, dass die vollständige Zerstörung der Hamas vor Ort mehrere Monate dauern könnte.

Jetzt weist auch die USA Israel darauf hin, dass entweder die Armee des jüdischen Staates bis Jahresende konkrete Ziele erreichen muss oder es notwendig wird, einen Waffenstillstand zu verhandeln.

Während aber noch Ende November bei einem Waffenstillstandsabkommen der Austausch israelischer Frauen und Kinder gegen palästinensische Frauen und Kinder ein Bestandteil war, steht jetzt das israelische Militär im Vordergrund. Es verlangt für die Terroristen einen höheren Preis.

Waffenstillstand

Die Hamas fordert einen vollständigen Waffenstillstand. Israel akzeptiert die Bedingungen der Gegenseite nicht.

Der Einsatz wird mit voller Härte mit steigenden Opferzahlen fortgeführt, darunter auch Geiseln. Der Druck auf die israelische Führung nimmt jedoch weiter zu, etwa als drei Geiseln am 15. Dezember versehentlich von israelischem Militär getötet wurden. Unterdessen steht für Netanjahu das politische Überleben auf dem Spiel.

Er versteht, dass er sich so lange sicher in der Politik hält, so lange die Gaza-Militäroperation andauert. Positive Resultate können seine Karriere verlängern, ausbleibender Erfolg kann sie begraben.

Hamas erreicht drei Ziele

So erreichte die Hamas mit ihrem Eindringen nach Israel mindestens drei Ziele. Erstens wurde der Prozess der Normalisierung zwischen dem jüdischen Staat und der arabischen Welt zumindest unterbrochen. Zweitens rückte die Palästinenserfrage ganz oben auf die weltweite Tagesordnung.

Und drittens schob sich die Hamas selbst an die Spitze der palästinensischen Bewegung. Heute unterstützen alle palästinensische Fraktionen die Hamas und betrachten sie tatsächlich als Interessenvertreter des gesamten Volkes.

Hauptnutznießer des Krieges ist jedoch der Iran. Teheran möchte nicht direkt in den Konflikt mit Israel verwickelt werden, sieht jedoch gerne dabei zu, wie seine Stellvertreter, darunter die libanesische Hisbollah oder die jemenitischen Huthi, enormen Druck auf ihren schlimmsten Feind ausüben und diesen sabotieren. Der Iran profitiert auch von der Abkühlung der Beziehungen Israels zur arabischen Welt und der Türkei.

Erkalten der Beziehungen

Ebenso gibt es ein Erkalten der Beziehungen zwischen Russland und Israel. Kreml-Chef Putin solidarisierte sich in gewissem Sinn mit der Hamas und verurteilte Israel, indem er die Bombardierung Gazas mit der Leningrad-Blockade verglich. Für Moskau ist die Situation natürlich auch gut, dass sich der Westen zwischen zwei Fronten, in der Ukraine und im Nahen Osten, zerreißt.

Überdies bietet die Situation Putin die Möglichkeit, sich erneut als Antipode des Westens und Führer des sogenannten Globalen Südens darzustellen.

Früher oder später werden jedoch die Kämpfe im Gazastreifen enden und die Israelis und Palästinenser werden danach nur wenig Zeit haben, sich zu einigen. Vieles wird von Vermittlern abhängen, etwa arabischen Ländern wie Ägypten und Katar. Zu einer Zweistaatenlösung gibt es weiter keine Alternative. Dafür braucht es Zugeständnisse beider Seiten.

Neue Regierung

Israel muss eine Regierung des Gazastreifens nur durch die Palästinenser akzeptieren, im Westjordanland muss der jüdische Staat seine radikale Siedlungspolitik einfrieren. Wegen dadurch entstehender Unruhen sind seit Anfang des Jahres etwa 500 Menschen, überwiegend Palästinenser, gestorben.

Wenn die Hamas sich nach einem Überleben an die Spitze der Palästinenser stellen will, muss sie beweisen, dass sie die Zweistaatenlösung akzeptiert. Sonst ist ein neuer Krieg in Nahost unausweichlich.