Nahles vs. Schulz?
Der SPD-Vorsitzende glaubt an ein Ende seiner Karriere, wenn die Sondierungsgespräche mit der Union scheitern
Gestern begannen die Teams von CDU, CSU und SPD ihre Sondierungsverhandlungen, die in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in einem Vorschlag an die Parteigremien münden sollen. Verhandlungssprecher Lars Klingbeil von der SPD verkündete am Abend im Wesentlichen lediglich, dass es am ersten Tag unterschiedliche Fortschritte in den 15 Arbeitsgruppen gab.
Vor Beginn der Sondierungsgespräche hatte der im letzten Jahr eingesetzte SPD-Chef Martin Schulz verlautbart: "Wenn das schiefgeht, ist meine Karriere zu Ende." In Sozialen Medien meinte man dazu vielfach, Schulz' Rivalin Andrea Nahles werde sich da wohl das Wort "Bätschi!" denken, das man seit einer Parteitagsrede im Dezember mit ihr assoziiert.
Trotz dieser Verlautbarung sandte Schulz vorher Signale aus, die wenig Kompromissbereitschaft mit der Union signalisieren: Den 2015 von den Grünen im Bundesrat durchgesetzten Familiennachzug für subsidiär geschützte Migranten (die keinen Anspruch auf Asyl haben, aber trotzdem nicht abgeschoben werden) will er nicht weiter aussetzen, sondern ab März gelten lassen. Und bei Asylbewerbern, die behaupten, minderjährig zu sein, aber nicht so aussehen, lehnt er eine medizinische Altersfeststellung ebenso ab wie die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Maria Luise Dreyer und der Jungsozialistenvorsitzende Kevin Kühnert (vgl. Groko: unbeliebt und uneins).
Koalitionsfördernder Widerspruch
Nahles widersprach ihrem Rivalen in dieser Frage in der Bild am Sonntag und meinte, dass "viele Antragsteller ihr Alter nicht korrekt angeben" und man sich "als Staat nicht belügen lassen" dürfe. Sie plädiert deshalb dafür, dass die Beweispflicht für eine Minderjährigkeit den Asylbewerbern auferlegt wird. Damit macht sie eine Große Koalition (und mit ihr eine Verlängerung von Schulz' Zeit als Vorsitzender) wahrscheinlicher, weil sie auf Forderungen von Unionspolitikern wie Joachim Herrmann, Thomas Strobl, Julia Klöckner und Annegret Kramp-Karrenbauer eingeht.
Will Nahles also, dass Schulz geht (weil sie mit dem öffentlichen Widerspruch seine Autorität untergräbt), oder dass er bleibt (weil sie mit dem Zugehen auf die Union die Chancen auf eine neue Große Koalition vergrößert)? In jedem Fall öffnet sie die Sozialdemokraten mit dieser Position für Wähler, die es als ungerechte Ungleichbehandlung empfinden, wenn sie selbst bei einer Heirat trotz eines gültigen Ausweises noch eine Geburtsurkunde vorlegen und aufwendig eine teure beglaubigte Abschrift des Familienbuches oder eine Abstammungsurkunde der Eltern besorgen müssen, während man Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten ganz ohne Identitätsnachweise einreisen lässt, wie der ehemalige Bundesnachrichtendienstchef August Hanning in der Bild am Sonntag kritisierte.
Charismatische Selberdenker aussortiert
Ob Nahles damit ein weiteres Absacken ihrer Partei verhindern kann, ist offen: Immerhin trug sie die Politik der SPD und des Kabinetts Merkel in der letzten Legislaturperiode als Arbeits- und Sozialministerin mit. Ein Konkurrent, der den Parteivorsitz statt ihrer von Schulz übernehmen könnte, ist in der SPD allerdings nicht in Sicht. Charismatische Selberdenker, die bei den Sozialdemokraten in den 1980er Jahren noch sichtbarer waren als in der Union, gibt es inzwischen auch auf kommunaler Ebene kaum mehr.
Stattdessen gelangten trotz reihenweiser Wahlniederlagen Politikern wie Heiko Maas nach oben, die auch in der Union oder bei den Grünen Karriere machen hätten können. Der Justizminister dürfte zumindest in Sozialen Medien die unbeliebteste Figur aus Kabinett Merkel sein. Die Berliner Zeitung spekulierte, dass Angela Merkel ihn möglicherweise absichtlich als "Watschenmann" im Kabinett behalten hat, um Kritik von ihr und anderen Ministern abzulenken. Inhaltlich werden die Maas-Maßnahmen nämlich sowohl von Merkel als auch von Nahles explizit mit getragen.
Maas werden eigene Tweets vorgehalten
Trifft diese Spekulation zu, könnte Maas im nächsten Kabinett Merkel Justizminister bleiben, auch wenn inzwischen sogar Massenmedien sein Social-Media-Zensurgesetz als Katastrophe werten (vgl. NetzDG: Kurzfristig Aufmerksamkeit, langfristig Vorzensur). Weil durch die kurzen Fristen und hohen Bußgelder ein starker Anreiz besteht, lieber zu viel als zu wenig zu löschen, melden Nutzer inzwischen häufig ohne Rücksicht auf eine mögliche Strafbarkeit von Inhalten einfach nur dann, wenn sie "Leute blöd finden und denen immer schon mal einen reintun wollten".
Wie problematisch das NetzDG ist, zeigen unter Hashtags wie #MeldetDenHeiko oder #heikomaastweetingaboutthings ausgegrabene alte Tweets des Justizministers, in denen er beispielsweise seinen Parteifreund Thilo Sarrazin (dessen Namen er falsch schreibt) als "Idioten" bezeichnet. Nachdem zahlreiche Nutzer diesen Tweet meldeten, löschten ihn Maas, sein Social-Media-Team oder Twitter.
In anderen Tweets breitet sich Maas beispielsweise grenzjustiziabel über den Fußballspieler Ronaldo aus ("ein unerträglicher Schauspieler, mit viel Gel auf und in der Birne" oder meint, er wolle "von dem Kachelmann-Müll jetzt nichts mehr sehen, hören, lesen". Auf neues Interesse stießen im Licht des inzwischen in Kraft getretenen Zensurgesetzes auch seine 2014 geäußerte Kritik an der Politik der türkischen Regierung ("Sperren von Tweets und Facebook ist nicht unser Verständnis von Meinungsfreiheit") und seine im selben Jahr aufgestellte Behauptung "Nichts fürchten Nazis mehr als das freie Wort".
FDP will nur ohne Merkel verhandeln und vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Solidaritätszuschlag klagen
Scheitern die Sondierungsgespräche trotz Schulz' selbst eingeräumtem Karriereinteresse, will sich die FDP nur dann auf neue Jamaika-Gespräche einlassen, wenn diese ohne Angela Merkel stattfinden. Das betonte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner auf dem traditionellen Dreikönigstreffen seiner Partei. Kommt eine Große Koalition zustande, möchte er die besonderen Rechte der Opposition im Bundestag nutzen und vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Solidaritätszuschlag klagen, wenn dieser nicht bis spätestens 2019 abgeschafft wird.