Narendra Modi und die Geister der Vergangenheit
Treffen zwischen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und dem indischen Ministerpräsidenten Modi in Neu Dehli, am 25. April 2022. Foto: Government of India/Government Open Data License - India (GODL)
Indiens Premier wird von den anti-muslimischen Unruhen 2002 eingeholt. Die EU hält eigene Gutachten zu den Verfolgungen zurück. In Brüssel und den europäischen Hauptstädten sollte man genau unter die Lupe nehmen, mit wem man in Zukunft enger kooperiert.
Die blutigen Verfolgungen der muslimischen Minderheit in Gujarat liegen über 20 Jahre zurück, doch bestehen weiter Zweifel, ob Narendra Modi, Indiens Premierminister und damals Ministerpräsident des indischen Bundesstaats wirklich unbeteiligt war oder sein Verhalten etwa doch die Unruhen begünstigten und verlängerten.
Die von der BBC produzierte Dokumentation India: The Modi Question zitiert aus einem Untersuchungsbericht, den die britische Regierung bald nach den Unruhen in Auftrag gegeben hatte und in welchem Narendra Modi beschuldigt wird, mehr getan zu haben, als "nur" wegzusehen.
Stattdessen berichtete die britische Regierung gestützt auf indische Quellen von systematischem Vorgehen des Hindu-Mobs gegen muslimische Opfer. Demnach handelte es sich nicht um einen spontanen Gewaltausbruch als Reaktion auf die Tragödie von Godhra am 27. Februar 2002, bei welcher 57 Hindu-Pilger in einem Zug verbrannten. Dieser tragische Vorfall, so der Vorwurf, diente nur als Vorwand, um einen schon vorher entworfenen Plan zu realisieren.
Die Ausstrahlung der Doku in Indien über die sozialen Medien wurde vor zwei Wochen von der Regierung Modi verboten und Zuschauer illegaler Aufführungen verhaftet.
EU hält Gutachten zurück
Die EU zeigt sich bemerkenswert kooperativ mit den Interessen der indischen Regierung: Laut dem indischen Online-Magazin The Wire versuchte die niederländische NGO Arisa, die zu Rechten in Indien arbeitet, erfolglos, Abschriften von der EU in Auftrag gegebene Gutachten über die Unruhen in Gujarat zu erhalten.
Der EAD (Europäische Auswärtige Dienst) weigert sich, diese vollständig zu veröffentlichen. Das erste Gutachten stammt vom 18. April 2002 (ungefähr sechs Wochen nach den Unruhen) und wurde wenigstens in Teilen bekannt, zum Beispiel wird die Zahl der Todesopfer nicht wie offiziell bei 850 angesetzt, sondern bei über 2.000.
Der EAD begründet seine Weigerung mit Rücksicht auf die europäisch-indischen Beziehungen. Ein zweiter Bericht "Common report on the March/April 2002 events" bleibt komplett unter Verschluss, mit der gleichen Begründung:
"Der Inhalt des Dokumentes behindert die fortlaufende Zusammenarbeit mit Indien, auf der politischen und praktischen ("operational") Ebene."
Modis Dilemma
Narendra Modis Versuch, Innenpolitik und Indiens weltweite Rolle unter einen Hut zu bringen, ähnelt einem Spagat. Seine Partei, die Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP) ist nicht nur konservativ und pro Hindu, sondern rechtsgerichtet, manche Teilorganisationen sind rechtsextrem.
Ihr widerstrebt der säkulare Geist der Verfassung, welche die Gleichberechtigung aller Kasten, Sprachen, Religionen und Volksgruppen festschreibt und es ist ihr explizites Ziel, die Geschichte, in welcher Indien über 1000 Jahre von Nichthindus regiert wurde (zuerst Muslimen, dann Briten), zum Teil zumindest umzukehren.
Eine vom Obersten Gericht ernannte Kommission sprach Modi 2012 – noch zu Zeiten einer Congress-Regierung – von allen Vorwürfen während der Gujarat-Unruhen frei. Doch es bleibt ein äußerst schaler Nachgeschmack.
Wie bei den Anti-Sikh Unruhen in Delhi, die 1984 auf die Ermordung Indira Gandhis folgten – "Wenn ein großer Baum fällt, zittert die Erde" bemerkte damals lapidar ihr Sohn Rajiv Gandhi, auf die Art "Wer so etwas tut, muss sich nicht wundern".
Dieser Pogrom forderte mindestens doppelt, wenn nicht sogar fünfmal so viele Opfer wie Gujarat und es wurde ebenfalls keiner der Haupttäter zur Verantwortung gezogen. Zu ihnen gehörte Rajiv Gandhi selbst.
Wiederum überzieht Narendra Modi seit seinem Amtsantritt 2014, mal stärker, mal schwächer, Muslime und andere Minderheiten mit einer ununterbrochenen Kampagne von Ausgrenzung und lässt keine Gelegenheit aus, Indien als ein primär hinduistisches Land zu zeigen, in welchem die Gruppen, die nicht dem ethnisch-religiösen Mainstream angehören, in der zweiten Reihe stehen werden.
Die Mehrheit hätte sich lange alles gefallen lassen, nun sei Zeit für positive Diskriminierung. Bewusst setzt er auf vage, dumpfe Drohungen, um Gegner zu verunsichern und einzuschüchtern und wohl wären selbst seine Opfer erleichtert, wenn er endlich rauskäme mit der Sprache, was er eigentlich wirklich mit Muslimen und anderen "fremden" Minderheiten vorhat.
Auf der internationalen Bühne ist Narendra Modi natürlich gezwungen, diese Aspekte seiner politischen Arbeit so weit wie möglich herunterzuspielen und zu verharmlosen.
Da geht es darum, Indien als modernes, innovatives, stabiles Land zu zeigen, das fest in sich und auf Konsens beruht; eine aufstrebende Macht, die sich als wirtschaftlicher – und seit der russischen Ukraine-Invasion und den amerikanisch/europäischen Spannungen mit China – auch strategischer Partner empfiehlt.
Ebenso braucht Indien wegen der eigenen zunehmenden Spannungen mit China, dem es in keiner Hinsicht ebenbürtig ist, eine engere Bindung an den Westen.
Aus europäischer Perspektive: Indien als Partner
Die europäische Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur hat sich seit der russischen Invasion der Ukraine so radikal wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg verändert.
Ein neues Paradigma scheint zu sein, sich in Zukunft von China nicht so stark abhängig zu machen wie in der Vergangenheit von Russland.
Als Partner erscheint da natürlich Indien, die aktuell fünft- oder sechstgrößte Volkswirtschaft, die sich anschickt, zur drittgrößten aufzusteigen. Als direkter Nachbar Chinas ist Indien zusätzlich strategisch günstig gelegen.
Eine mögliche Zusammenarbeit erhielt zunächst einen Dämpfer, weil sich Indien, seit der Unabhängigkeit ein guter Partner zuerst der Sowjetunion und dann Russlands, sich nicht – bis heute – an den Sanktionen gegen Moskau beteiligt.
Dies sollte zuvorderst Strategen im Westen von Washington über Brüssel bis Berlin zu denken geben. Indien will sich trotz seiner erheblichen Probleme mit China in keine starke Abhängigkeit eines anderen Machtblocks begeben. Keine Partei will das, auch nicht der Congress unter Rahul Gandhi (dem Sohn Rajiv Gandhis, Enkel Indira Gandhis und Urenkels Jawaharlal Nehrus).
Andererseits muss man gerade in Brüssel und den europäischen Hauptstädten genau unter die Lupe nehmen, mit wem man in Zukunft enger kooperiert, wenn man sozusagen aus moralischen Gründen auf Distanz zu Russland und China gehen will.
Ernsthafte Bedenken angebracht
Wirtschaftlich sehen die Perspektiven in Indien glänzend aus, weil es beim Bruttosozialprodukt pro Kopf erst an 139. Stelle liegt und damit nicht nur großes, sondern riesiges Wachstumspotential hat (was immer auch das für die Umwelt bedeutet).
Und auf den ersten Blick sehen auch die politischen Umstände günstig aus: Indien ist eine Demokratie, hat eine fortschrittliche Verfassung und scheint allen Gruppen und Nationen ein friedliches Zuhause zu sein. Doch genau in dem Punkt sind ernsthafte Bedenken angebracht.
Man sollte in Bezug auf Indien und China/Russland in kein simples Schwarzweißschema verfallen, so als ob alles, was aus europäischer Sicht "schlecht" oder inakzeptabel an China sei, dann besser in Indien wäre. Im Innern bleibt Indien weiter eine der ungerechtesten Gesellschaften weltweit.
Das betrifft nicht mal so sehr die religiösen Minderheiten als die in Europa kaum bekannten Kastenlosen (Dalits) und Ureinwohner (Adivasis). Wirtschaftswachstum hat diesen Zustand in der Vergangenheit kaum geändert und so wird es wohl auch in Zukunft sein.
Die hehre indische Verfassung scheitert an der unfairen Verteilung der Güter. Indien ist trotz des Rufes der Gewaltlosigkeit bemerkenswert gewalttätig und die Lebensbedingungen für Frauen gehören mit zu den schlechtesten in ganz Asien.
Diese Szene betreten Narendra Modi und die BJP. Selber sind sie wohl weniger korrupt wie die Vorgänger vom Indian National Congress, aber an den fundamentalen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft können auch sie nichts entscheidend ändern.
Da erscheint es legitim, mit Appellen an eine angeblich großartige Vergangenheit von den aktuellen Problemen abzulenken und gleichzeitig einen Sündenbock, in diesem Fall die Muslime, zu präsentieren.
Massive innere Konflikte
Die massiven inneren Konflikte werden sich in Zukunft mit Sicherheit verschärfen. Ob das Land dann seine wirtschaftliches Potential ausnutzen kann, bleibt abzusehen. Solche Umstände muss man sich in den Schaltstellen der EU vor Augen halten, wenn man darüber nachdenkt, in Zukunft auf Indien und anstatt auf China setzen.
Dann ist es jedoch kontraproduktiv, wenn man schon im Vorfeld eigene Dokumente unterdrückt, die unliebsame Wahrheiten beinhalten, die im Prinzip die Spatzen von den Dächern pfeifen. Wenn man sich Narendra Modi und der BJP einlässt, darf man sich nichts vormachen.
Das Hindu-chauvinistische Projekt ist noch nicht beendet. Und auch den potenziellen neuen Verbündeten Indiens wäre geholfen, wenn endlich klar gesagt würde, was das Endziel der Ideologie "Hindutva" ist.
Was soll zum Beispiel aus 207 Millionen Muslimen werden – sollen sie "nur" an den Rand gedrängt werden?