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"Nationalismus wird uns immer ins Elend führen"

Konstantin Wecker. Bild: Monster4711/public domain

Ein Gespräch mit Konstantin Wecker über Kunst, Politik und linken Populismus oder Nationalismus

Vereinfacht gesagt führen die "äußeren" Vorgaben durch die Politik oft ins Elend ideologischer Einschnürungen. Dementgegen sollte man es ruhig einmal "innerlich" versuchen mit etwas, das Wecker eine spirituelle Revolution nennt. Letztlich könne einzig die Poesie das Individuum stärken und dazu verhelfen, Haltung zu bewahren.

Herr Wecker, ich habe ja das Gefühl, dass unser Gespräch heute sehr politisch wird.
Konstantin Wecker: (lacht): Ja, das könnte angesichts der Weltlage so sein.
Deswegen sollten wir bewusst mit einer ästhetischen Frage beginnen: Warum ist schöne Musik immer ein wenig traurig?
Konstantin Wecker: Ehrlich gesagt, ich habe das nie so gesehen. Ich bin großgeworden mit Verdi, Puccini, Mozart und Schubert durch meinen Vater, der Opernsänger war, und durch die Schellackplatten, die wir zu Hause hatten. Vielleicht kommt es daher, dass Leute, die mit klassischer Musik nicht so viel anfangen können, jede Musik, die nicht tanzbar ist, als etwas traurig empfinden. So wie manche sagen, gute Literatur sei traurig, weil es anstrengender ist, sich in sie hineinzuversetzen.
Musik und Poesie - und ich nehme hier Poesie als Überbegriff, der für bildende Kunst genauso gilt wie für Musik und Literatur - lockt etwas im Herzen. Das Namenlose, das Unbenennbare. In meinem Lied "Auf der Suche nach dem Wunderbaren" habe ich es das Wunderbare genannt. Das ist etwas, das einen, wenn man es nicht zulassen will, auch traurig machen kann. Oder sogar ärgerlich.
Deswegen meine ich: Poesie ist Widerstand. Weil Poesie den Herrschenden widersteht, die ihre Empathie - wie sich heute so schrecklich zeigt - gerade einmal zulassen, wenn es um thailändische Jungen geht, was natürlich gut nachvollziehbar ist. Aber sie können sofort abschalten, wenn es um Flüchtlinge auf hoher See geht. Das ist pervers, oder?
Ja, das ist es.
Konstantin Wecker: Mitgefühl wird aufgeteilt in bessere, richtigere Menschen und solche, die uns schaden. Mitgefühl gilt plötzlich nicht für alle Menschen und nicht für alle Wesen.
Zurückkommend auf die Poesie zeigt sich folgendes: Du kannst mit einem Machthaber wunderbar über Krieg reden, über Kriegslogistik, über Militarisierung, über Finanzierung und dergleichen, aber Poesie macht ihm Angst. Weil da etwas aufbrechen könnte, was er verschließen muss, um sein Machtspiel weiter zu treiben.

Wie sähe die Welt ohne diese kleinen Mosaiksteinchen engagierter Menschen aus?

Robert Musil hat einmal gesagt: Wenn man ein Gedicht vorliest in einer Vorstandsetage eines großen Konzerns, dann ist das Gedicht sinnlos, aber der Konzernvorstand wird es auch.
Konstantin Wecker: (lacht) Das hat Musil gesagt? Großartig. Das gefällt mir gut. Das ist eine schöne Antwort auf diesen Standardspruch: Sing doch mal Deine Lieder beim AfD-Parteitag! Klar, es ist sinnlos und mein Lied ist dort sinnlos, aber der AfD-Parteitag wird es auch.
Hannes Wader hat ja das gleiche Problem. Die Leute sagen zu ihm: Seit vierzig Jahren singst Du für eine gerechtere Welt und jetzt schau Dir die Welt an! War es nicht sinnlos, was Du gemacht hast? Und Wader hat gesagt: Die Frage ist nicht richtig gestellt. Man müsste fragen, wie sähe die Welt ohne diese kleinen Mosaiksteinchen aus? Mosaiksteinchen, die wir sind, die engagierte Menschen sind.
Ja, und ich möchte weitergehen und sagen, wie viel schrecklicher sähe die Welt aus ohne die Kunst überhaupt, ohne die Poesie? Deswegen zeigt sich auch, dass in allen angehenden Diktaturen sofort die Kultur beschnitten wird, die Poeten des Landes verwiesen und die Bücher verbrannt werden. Die AfD greift aktuell das Regietheater an, das schafft sie aktuell noch nicht und hoffentlich nie. Die AfD will den Schiller so sehen, dass 1000 Jahre glorreiche deutsche Geschichte dadurch zum Tragen kommt. (lacht) Was immer die mit Schiller wollen, die haben einfach keine Ahnung. Sie haben keine Ahnung, und deshalb haben sie Angst vor der Kunst.
Kommen wir nun doch noch einmal kurz zurück zur traurigen Wirkung der Kunst. Schubert war es ja, der gesagt hat, dass ihn alle Musik ein wenig traurig mache, und eine interessante Vermutung liegt darin anzunehmen, er habe dies deswegen gemeint, weil er die Revolution hat scheitern sehen. Aber es könnte neben diesem politischen noch einen anderen Grund geben. Sie haben vor kurzem gemeint, es sei so merkwürdig, dass man die schönen Augenblicke des Lebens kaum erinnert, aber die tragischen, die traurigen Momente,…
Konstantin Wecker: ... die peinlichen vor allem,...
... die einem so genau in Erinnerung bleiben. Als ob die Melancholie dadurch entstünde, dass etwas innerlich, geistig genau ausgearbeitet wird. Sei es jetzt durch die Erinnerung oder die Kunst.
Konstantin Wecker: Das ist natürlich völlig richtig, die Melancholie gehört immer dazu. Eugen Drewermann hat gesagt, die Schwermut sei die Schwester Deines Glücks.
Das erscheint mir deswegen interessant, weil ich das an mir erst seit kurzem akzeptiere. Ich habe vor 14 Jahren ein Lied über die Schwermut geschrieben. Meine Texte passieren mir ja und ich denke sie mir nicht aus. Und nach diesem Lied wusste ich plötzlich, dass ich immer schon ein schwermütiger Mensch war und mir gerne von außen einreden ließ, ich hätte die Power und sei immer gut drauf. Ohne Schwermut kann man nicht mitfühlend sein. Erst die Schwermut gibt uns die Möglichkeit, tief in uns hineinzugehen, und wir beginnen dort etwas zu verarbeiten.
Die Schwermut ist eine Bedingung der Kunst. Das Glück ist ohne Schwermut gar nicht als solches zu erfassen. Das Erinnern an die schönen Augenblicke wird mir heute im Alter erst viel klarer. Die wirklich schönen Augenblicke sind nicht die, wo man mal kurz gut drauf ist, sondern sind jene der Ich-Losigkeit, wo man einfach nur da ist und aufgehoben ist in allem.
An diese mystischen Erfahrungen kann man sich natürlich nachher nicht erinnern, weil man ja in diesen Erfahrungen mitten drinnen war und ohne Ratio. Ich kann mich nur erinnern, dass da mal was war. Es kann nicht nachempfunden werden und mit dem Verstand zurückgeholt werden. Um es erneut zu empfinden muss es wieder erlebt werden. Das ist gerade das Schöne an diesen Momenten. Sie können auch nicht erarbeitet werden, auch vierzig Jahre Meditation bieten keine Gewähr, dass man in diesen Zustand kommt.

"Ein Weckruf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft"

Die kürzlich verstorbene Christine Nöstlinger war ja nicht nur Kinderbuchautorin sondern auch politische Kommentatorin. Zum letzten Wahlergebnis in Österreich hat sie gesagt, sie betrachte die fünfzig Jahre Aufklärungsarbeit, die sie geleistet hat, als für die Fische. Aufklären könne man letztlich nur die eigenen Leute. Die meisten aber wollen sich fürchten und sind nicht bereit nachdenken.
Konstantin Wecker: Wenn das ausgenützt wird, dann ja. Weil die Menschen leider sehr manipulierbar sind. Man kann dies aber auch in eine andere Richtung lenken. Ich möchte an dieses politische Lehrstück erinnert, das sich mit der "Willkommenskultur" gezeigt hat. Das war eine wirkliche Bürgerbewegung. Und es hat knapp drei Monate gedauert, bis diese Menschen ausgelacht und als "Gutmenschen und Teddybärwerfer" verspottet wurden.
Man muss sich dies nur einmal verbildlichen, wenn diese Geschichte in Thailand gewissen Kreisen nicht passen würde, wäre es möglich in kurzer Zeit zu sagen: Die waren selber schuld, ihr Lehrer war schuld und wer schuld ist, soll sterben. Was auch immer man sich da für einen Blödsinn einfallen lässt. Auch das wäre manipulierbar. Keine Frage. Es wurde manipuliert, weil gewissenlose Potentaten die Chance sahen, dies auszunutzen.
Die AfD hat 99% ihrer Anträge im Bundestag nur zum Thema Flüchtlinge gestellt. Sie haben ja kein anderes Thema. Sie wissen genau, dieses Thema zieht und das weiß auch der Herr Seehofer. Dabei gibt es viel weniger Flüchtlinge als noch vor zwei Jahren. Das ist infam, was da passiert. Es gibt einen erschütternden Brief von Seenotrettern, den sie an Horst Seehofer geschrieben haben und gefragt haben "Wir retten Menschen, aber was tun Sie?" Seehofer will die Retter ja sogar unter Strafe stellen. Das wäre so, als würde man die thailändischen Rettungstaucher bestrafen.
Und Mitgefühl ist ja ganz offensichtlich in großem Umfang vorhanden.
Konstantin Wecker: Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob die Aufklärungsarbeit dahin ist. Denn gleichzeitig merke ich, wie im Verborgenen und viel weniger lautstark, bei vielen Menschen, sich eine Art spirituelle Revolution vollzieht. Ein Wandel, der per se nicht plakativ sein kann.
Ich schreibe ja gerade einen "anarchischen Psalm" mit meinem neuen Buch "Poesie und Widerstand". Ein Weckruf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Es ist ein Prosagedicht. Man kann es Slam Poetry nennen, aber ich bin zu alt, um es so zu nennen. (lacht) Ich merke es an meinem 18-jährigen Sohn - der ist ja aktiv in der Antifa und ich kenne seine Freundinnen und Freunde -, die Jungen lassen viel mehr als wir damals diesen anarchischen Gedanken wieder zu.
Unser Problem war seiner Zeit diese Ideologisierung, daran ist meines Erachtens die 68er-Revolution gescheitert. Es waren zu viele Menschen da, die plötzlich genau wussten, mit welchen starren ideologischen Mitteln sie die Welt retten können. Ich war damals umgeben von Gegnern aus der KPD/ML, Marxisten-Leninisten, Trotzkisten - die waren mir noch am sympathischsten - und natürlich Maoisten. Und jeder hat gegen den anderen gekämpft, anstatt zu sagen: Wir haben eine ähnliche Vorstellung. Uralte Stalinisten gab es dann auch noch und wir Anarchos waren ziemlich allein. Heute glaube ich, ist da eine Öffnung und mein jahrzehntelanger Versuch, Politik und Spiritualität zusammenzubringen, scheint langsam ein wenig auf fruchtbaren Boden zu fallen..
Bemerken sie diese Veränderung auch innerhalb ihrer publizistischen Tätigkeit?
Konstantin Wecker: . Als wir vor fünfzehn Jahren mit dem Internetmagazin "Hinter den Schlagzeilen" [1] anfingen, hat es vielen Marxisten die Fußnägel aufgedreht, wenn ich das Wort Spiritualität nur erwähnt habe. Viele Spirituelle glaubten hingegen immer, Politik habe mit ihnen nichts zu tun, alles passiere nur im Inneren.
Da hat sich vieles geändert. Spirituelle Menschen gehen mittlerweile vor gegen jede Form von Amtskirche und religiöse Dogmatik. Politisch engagierte Menschen haben nicht mehr diese ideologische Starrheit. Die führt immer in den Untergang, weil sie die Selbstreflexion unterbindet. Eine wesentliche, wenn nicht die wesentlichste Aufgabe des Menschen besteht darin, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Manche schaffen das bereits mit 20, aber ich habe dafür länger gebraucht. Ich habe verschiedene Ichs in meinem Leben gehabt und manchmal von einem Tag auf den anderen gedacht, wer war ich da eigentlich gestern? Welches Ich war das und was ist das wesentliche an mir. Diese Suche nach Identität muss in einem selbst passieren, sonst sucht man sie bei den Identitären, im Völkischen und Nationalen. Und das zu erkennen, dazu kann einem die Kunst verhelfen.

Ein "tänzelnder Nationalismus"

Man kann trotz all der besorgniserregenden Entwicklungen den Eindruck haben, die Menschen werden in vielen Beziehungen zivilisierter. Tatsächlich nimmt beispielsweise die Gewalt gesamtgesellschaftlich ab. Kirmesfeste waren ja zum Beispiel früher eine einzige Schlägerei.
Konstantin Wecker: (lacht) Ja genau, ich erinnere mich.
Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die Menschen werden zivilisierter und es mag - so wie im Hannes-Wader-Zitat zuvor andeutet wurde, auch etwas mit der Kunst zu tun haben. Nur, kann die Kunst in der Krise keine Haltung verordnen, sondern die müssen sie Einzelnen selbst beweisen.
Konstantin Wecker: Man kann mit der Kunst inspirieren und Mut machen, dass diejenigen, die das hören oder lesen zu sich selbst stehen. Die Leute sollen ja nicht zu mir stehen, wenn sie meine Musik hören. Das ist nicht die Aufgabe der Kunst, es geht darum, Mut zu machen, zu sich selbst zu stehen.
Thomas Merton, ein katholischer Mönch und Priester, der sich schon sehr früh gegen den Vietnamkrieg engagiert hat, sagte einmal, man dürfe nicht den Fehler machen beim Engagement gegen den Krieg einen Erfolg zu erwarten. Davon sollte man sich nicht verblenden lassen. Man muss es deswegen tun, weil man die innere Gewissheit hat, man muss es tun. Das war der Fehler bei den Ideologisierungen. Ein Fehler, den man den Leuten gar nicht übelnehmen kann, weil sie dachten, man braucht eine Ideologie, um die ganze Welt gerechter zu machen. Nur, es funktioniert nicht. Man muss machen, was man macht, so wie sich Gandhi oder Sofie Scholl aus ihrer Würdeheraus engagierten und nicht weil sie meinten ,sie könnten damit sofort die Welt verändern.
Reden wir an dieser Stelle einmal über etwas Unangenehmes. Viele Linke verlieren gerade die Nerven. Sie fürchten sich vor ihren Mitmenschen und versuchen, diese dann zu manipulieren. Mitunter übernehmen sie dann auch gewisse Themen von den Rechten. Man nennt dies dann mitunter linken Populismus, wobei dies widersinnig ist, denn der wird immer sogleich rechts.
Konstantin Wecker: Das sehe ich genauso.
Unverkennbar gibt es aktuell Tendenzen, die linke Politik zu erneuern, indem die "soziale Frage" betont wird und die moralischen Fragen hintangestellt werden sollen. Selbstverständlich geht es dabei immer nur um die Sache mit den Flüchtlingen. Auf welche Resonanz stößt in dieser hitzigen Debatte eine Liedzeile wie "Ich habe einen Traum, wir öffnen die Grenzen und lassen alle herein, alle, die fliehen vor Hunger und Mord, und wir lassen keinen allein."
Konstantin Wecker: Ich denke, da mag es zahlreiche und auch richtige politische Überlegungen geben - überhaupt keine Frage - aber ich werde in diesem Punkt "Ich habe einen Traum" beharrlich bleiben. Da bleibe ich bedingungslos. Und ich denke nicht daran, dieses Thema von Flucht und Vertreibung, auch nur in irgendeiner Weise so aufzunehmen, dass ich damit dann den Rechten etwas an Zustimmung abjagen kann.
Ich denke nicht dran, weil ich jede Form von Nationalismus, auch einen gemäßigten linken Nationalismus, grundsätzlich ablehne. Für mich ist Nationalismus einfach nur Scheiße. Ich verwende diese Worte nur ungern, aber man kann das auch mal provokativ so sagen. Wir haben diese Riesenchance gehabt durch die Bewältigung dieser grausigen Vergangenheit und sollten sie jetzt nicht verschenken.
Ausschließlich übrigens in Deutschland und nicht in Österreich, wo man lange noch so getan hat, als sei Hitler einmarschiert und als wäre er nicht begeistert empfangen worden. Die Voraussetzungen waren also im Nachkriegsdeutschland besser als in vielen anderen Ländern der Erde. Wir konnten in Deutschland lernen, was für ein Elend aus Nationalismus und Rassismus entstanden ist - und wir haben es auch getan. Wir haben die Chance zu Demokratie und wir haben in Deutschland dieses großartige Grundgesetz.
Was gerade passiert mit Seehofer könnte mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes widerlegt werden. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die des Menschen und nicht die des Deutschen! Und der Staat hat die Verpflichtung, diesen Grundsatz auch durchzusetzen. Damit ist alles gesagt und es könnte juristisch vorgegangen werden nur mit diesem einen Artikel im Grundgesetz.
Sie meinen also diese konservative Hypothese, wir bräuchten einen gemäßigten Nationalismus, um den Leuten etwas zur Identifikation anzubieten, sei falsch? Also keine harmlose Gruppenidentität mit Fähnleinschwingen bei der Fußball WM?
Konstantin Wecker: Frank Schirrmacher hat damals geschrieben bei dem "deutschen Sommermärchen" 2006, dies sei ein "tänzelnder Nationalismus". Das hat mich damals schon so aufgeregt. Denn es war deutlich zu sehen, er wollte den Nationalismus zurückholen und hat langwierig gesucht, wie man das denn ein bisschen netter nennen kann. Er hat sich sicherlich sehr viele Gedanken gemacht über diese Formulierung. Ein tänzelnder Nationalismus ist aber genauso falsch. Warum tänzelnd, warum gemäßigt? Nationalismus wird uns immer ins Elend führen. Es kommt noch etwas hinzu. Ich habe mit dem Neurobiologen Gerald Hüther zwei Auftritte gehabt. Wir haben uns da kaum abgesprochen und während eines gemeinsamen Seminars sagte ich plötzlich zu ihm: "Mensch, Du bist ja ein Anarcho." Das Wort hat ihm vielleicht nicht so gefallen.
Das ist belastet.
Konstantin Wecker: Genau. Es ist belastet, aber er ist es trotzdem. Und wir verstehen uns sehr gut. Ich komme von der Poesie her und er von der Neurowissenschaft. Er sagt, zehntausend Jahre Hierarchie haben für die, die oben waren, funktioniert und haben vieles bewirkt an technischen Entwicklungen.. Aber jetzt geht es nicht mehr, weil die Welt zu komplex geworden ist.
Es stimmt, die Menschen sind zivilisierter geworden und in großen Firmen beispielsweise geht es nicht mehr mit dem reinen Gebrüll des Chefs. Das ist vorbei. Was vor dreißig Jahren noch war: "Fräulein Müller bringen Sie mir den Kaffee", das geht in dieser Form nicht mehr. Natürlich gibt es immer noch Unterdrückung, aber es ist ein neues Bewusstsein entstanden. Auch durch das Internet, das ja ein nicht hierarchisches System wäre.
Potenziell.
Konstantin Wecker: Ja, zumindest potenziell. Es kann natürlich hierarchisch ausgenützt werden. Gerald Hüther meint nun, hierarchische Systeme können in Zukunft nicht mehr funktionieren, weil damit die Komplexität der Welt nicht mehr eingefangen werden kann. Das kommt mir alten Anarcho entgegen, wohlwissend, dass dies eine Idee oder ein Traum ist. Aber genau dazu ist die Kunst da, die Flamme einer Idee lodern zu halten, selbst in bittersten Zeiten.

Väter und Söhne

Ein häufiges Motiv in ihrem Werk behandelt eine Art Generationendialog. Sie haben viel über ihre Eltern geschrieben (die dabei übrigens ziemlich gut wegkommen, das sind Porträts auf Goldgrund) und das Glück, dass sie mit diesem antiautoritären Elternhaus gehabt haben. Sie haben aber auch die bange Sorge zum Ausdruck gebracht, was passiert, wenn Ideologie zwischen Menschen in einer Familie tritt, wie beispielsweise in dem Stück "Vaterland". Was fällt Ihnen heute zur "Generation Abliefern" ein? Es ist ja meist so, wenn 68er sich an ihre Jugend erinnern, dann meist nur daran, wie sie wochenlang bekifft in der Ecke rumlagen. Heute hingegen haben alle dauernd viel zu tun …
Konstantin Wecker: Ich hab hier ein bisschen ein Problem über die Generation zu reden, der ich nicht angehöre, weil ich sie ja in ihrer Gesamtheit nicht kenne. Ich kenne meine Kinder und die Freunde meiner Kinder und die sind untypisch für die Abliefern-Generation. Die wenigen jungen Leute, die bei mir ins Konzert kommen, die kommen meistens über die Eltern.
Allerdings, viele meiner Freunde sind Taxifahrer und die erzählen mir Dinge über die jungen Unternehmensberater, da sage ich mal, das sind harte Urteile. Die lassen teilweise ganz bewusst die Sau raus, damit der Taxifahrer merken soll, was er für ein Untermensch ist im Gegensatz zu den Reichen, Jungen, Aufstrebenden. Aber man bemerkt auch die Angst, die sie untereinander haben. Dauernd wird sich ein Bild aufgebaut: "Wir schaffen es nach oben." Dadurch entsteht permanent die Angst zu verlieren. Es ist mir aber schwer darauf eine Antwort zu geben.
Das ist bereits eine. Viele ihrer Songs behandeln ja einzelne Beobachtungen und keine Analyse repräsentativer Gesellschaftsquerschnitte.
Konstantin Wecker: Ich möchte an dieser Stelle nochmals betonen, dass meine Eltern völlig untypisch für die Generation der Eltern eines Siebzigjährigen waren. Dies erwähne ich ganz bewusst immer wieder. Wenn ich in meinem Lied schreib: "Ich habe eine großes Herz für die Träumer und Versager", dann meine ich damit schon auch meinen Vater. Weil der ja in gesellschaftlichem und finanziellem Sinn ein Versager war. Was er sicherlich nicht gern gehört hätte. Aber was für ein wunderbarer, warmherziger und weiser Mann ist er geworden.
Wir müssen den Worten mehr auf den Grund gehen. Versager heißt, "ich versage mir etwas". (lacht) Hat doch was, oder? Ich versage mir, teure Markenkleidung zu tragen, ich versage mir, andere auszubeuten, und ich versage mir, Euren Quatsch mitzudenken. Ich bin ein Versager.
Vor wenigen Tagen gab es eine Präsentation des Kärntner Dichters und Aphoristikers Joško Gallob, der es auch im Leben zu nichts gebracht hat - wenn man das so ausdrücken will. Er ist bereits vor zwanzig Jahren gestorben und jetzt wurde ein kleines Bändchen über ihn herausgegeben. Gallob war ein ziemlich anarchistischer Typ und das ganze Dorf hat sich immer aufgeregt, dass er bis Mittag im Bett lag.
Konstantin Wecker: (lacht) Ja, Wahnsinn! Sehr gut.
Von Ihnen stammt der Satz: Die Weisheit der Kindern wird gestört durch Erwachsene. Als konsequente erkenntnistheoretische Anarchisten müssen wir uns die Frage stellen, die Sie gestellt haben, ob nämlich die Fantasiefreunde der Kinder vielleicht gar nicht bloß erfunden sind.
Konstantin Wecker: Ganz genau.
Ich halte das für einen guten Ansatz. Bei meinen kleinen Sohn habe ich beobachtet, dass seine Zauberhasenbande an eine Struktur stößt. Was diesen seltsamen Wesen passiert, ist nicht beliebig.
Konstantin Wecker: Wie klein ist der?
Fünf. Weiß der Himmel, wer die sind, und man sollte natürlich skeptisch sein, was deren Zauberkräfte betrifft, aber die Welt dieser Hasengesellen scheint wie eine Art Sphäre vorhanden zu sein. Wie biegt man es hin, dass man den kleinen Leuten nicht ihre poetische Größe nimmt?
Konstantin Wecker: (Pause) Indem man sie ernst nimmt. Und zwar von Herzen ernst nimmt. Es gibt diese zwei Arten von ernst nehmen. Es gibt das ernst nehmen der tollen Erwachsenen, die alles natürlich wissen und die dann sagen "Na klar, hast Du schon Recht Bub." Aber es gibt auch andere Erwachsene - und hier muss ich leider nochmals zu meinem Vater kommen. Der konnte bis ins hohe Alter staunen. Der hätte auch über meine Zauberhasen gestaunt. Der hätte nie sofort gesagt, ach das gibt es nicht oder es sich selbst gesagt.
Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es ist sogar Neid. Unbewusster Neid, dass wir das alles nicht mehr haben. Deswegen wollen wir die Kinder immer gleich zu etwas "ganz wichtigem" anhalten. Zum Zimmer aufräumen, Hausaufgaben machen. Wir glauben also zu wissen, was Kinder tun müssen, anstatt von ihnen zu lernen, anstatt das mit ihnen auszuleben.
Nils Bohr hat einmal gesagt, Materie sei kondensiertes Licht und mein Freund Hans Peter Dürr sagte schlicht, Materie gibt es eigentlich gar nicht. Auch die Zauberhasen sind, genau wie die das womit wir die Welt erklären, Symbole. Worte sind Symbole. Die Worte und Bilder können Symbole sein für etwas, das Kinder spüren. An Bedrohung zum Beispiel oder dass sie eine Präsenz dessen spüren, was wir verloren haben, nämlich die des unerklärlichen Wunderbaren.
Vermutlich kommen sie ja von dort. Aus jener Welt, die gerade noch Rilke ansprechen konnte. Ein kecker Satz, sicherlich. Aber Rilke war in der Lage, Ebenen und Räume anzusprechen, die sich nur erahnen lassen. Rilke und so viele andere Dichterinnen und Dichter, die konnten das.
Wenn mein Sohn was zu Grabe getragen hat, weil ein Fantasiefreund gestorben ist, dann ist da auch etwas gestorben. Diese unglaubliche Fähigkeit von kleinen Kindern - wenn wir sie ihnen lassen -, im Jetzt zu sein. Also da beneide ich jeden, der kleine Kinder hat. Das war so eine schöne Zeit, als meine Kinder klein waren. Heute ist es auch schön. Aber das war damals die glücklichste Zeit in meinem Leben.
Sie haben einmal gesagt, Sie hätten so ein besonderes Gefühl gegenüber Dieter Hildebrandt gehabt, weil der immer alles gewusst und alles richtig gemacht habe. Und das habe eine durchaus einschüchternde Wirkung auf sie gehabt.
Konstantin Wecker: (lacht) Nein, eingeschüchtert hat es mich nie. Das wurde falsch kolportiert oder ich habe es falsch gesagt. Eingeschüchtert hat er mich nie. Es hat mich allenfalls nur in einem Punkt etwas gehemmt: Wenn Dieter Hildebrandt bei mir im Konzert war, dann habe ich mich nicht getraut, witzig zu sein, weil ich dachte, das kann einfach nur der Dieter. So gut wie er kann ich es nie machen. Ich habe es ihm dann mal erzählt und er hat sich tot gelacht. Ansonsten, aber es stimmt schon, ich habe mich wahnsinnig gefreut, als ich, zehn Jahre, nachdem er mich gefördert hatte im Scheibenwischer, ihn endlich gefragt habe: "Sage mal, magst Du eigentlich meine Lieder?"
Eine mutige Frage.
Konstantin Wecker: Ja. Und dann hat er mich in seiner typischen Art lächelnd angeschaut und gesagt: "Konstantin, 'Genug ist nicht genug', da tanze ich, wenn ich das höre, im Wohnzimmer herum." Da war ich erleichtert.
Er war eine intellektuelle Größe, weil er ja nie angegeben hat und nie belehrend war. Während meiner Drogengeschichte hat er ein großes Herz gehabt und sagte zu mir, dass sie Dich verurteilen ist okay, denn andere werden auch verurteilt, warum sollst Du nicht verurteilt werden, als Prominenter. Aber dann sagte er und wiederholte das auch im Fernsehen: "Durch den Knast verliert man keinen Freund." Ich sollte ja beim Scheibenwischer auftreten und bin einen Tag vorher verhaftet worden.

Eigentlich hat die Konterrevolution gesiegt

Wie geht es denn so mit dem neuen Heimatminister?
Konstantin Wecker: Ich habe schon das Gefühl, dass jetzt einige in der CSU genug von ihm haben. Vor kurzem habe ich wieder auf Kloster Banz gespielt. Die Hanns-Seidel-Stiftung ist ja eine reine CSU-Stiftung. Und da gibt es viele, die zu dieser Liberalitas Bavariae stehen. Es gibt Konservative in der CSU, die sind bekennend konservativ und auch neoliberal, aber sie haben ein demokratisches Grundverständnis und das wollen sie auch bewahren. Solche Konservativen respektiere ich, mit denen kann man zusammensitzen und mit denen kann man reden, diskutieren und sich auch gerne herzhaft streiten. Mit den Völkischen kann man nicht mehr zusammensitzen.
Das Völkische ist das eine, das andere ist aber bei Horst Seehofer, Boris Johnson oder Sebastian Kurz diese gewisse Schamlosigkeit in Bezug auf die eigene Karriere.
Konstantin Wecker: Natürlich Gewinnler. Gnadenlose Gewinnler.
Und wie geht man damit eigentlich um? Dieser Typus ist erfolgreich.
Konstantin Wecker: Eigentlich haben sie keinen Erfolg. Sie haben natürlich dadurch einen Erfolg, dass Teile der letzten CDU/CSU-Komödie ein abgekartetes Spiel waren, mit tragischem Hintergrund allerdings. Das einzige, was Seehofer tatsächlich zu interessieren scheint, ist, dass er Merkel weghaben will. Die hätte wiederum Seehofer einfach entlassen können. Ich bin Frau Merkel nicht politisch d'accord, aber mir hat einiges von ihr gefallen. Da waren Sachen, wie eben das "Wir schaffen das", das kam von ihr und aus ihrem Inneren.
Ansonsten ist die Politik - nun ja. Ich weiß ja noch, wie sie die Petra Kelly zerstört haben. Was habe ich die Petra Kelly geliebt, was für eine wunderbare Frau war das und was hat die damals auf die Beine gestellt. Die wollte eine andere Politik machen und ist dann von der eigenen Partei zerlegt worden.
Ich weiß genau, warum ich selbst niemals in die Politik gegangen bin, aber ich verurteile niemanden, der dies macht. Aber man sollte erkennen und sich darauf beschränken, was die Aufgabe als Künstler ist. Und die Aufgabe ist ganz bestimmt nicht die, diplomatisch zu sein. Man kann ja versuchen, das als Künstler zu sein, dann verliert man ein bestimmtes Publikum nicht. Aber das ist nicht die Aufgabe.
Wenn wir uns ein Wettrennen Schlagerstars gegen kritische Liedermacher vorstellen würden, dann würdige ich sagen, die Schlager liegen gerade ziemlich weit vorne.
Konstantin Wecker: Natürlich. Die Aufmerksamkeit, die mediale Bedeutung, klar. Wahrscheinlich aber auch in einem sportlichen Laufwettbewerb (lacht).
Ist das irgendwie Teil der Probleme, die wir gerade erörtert haben, und wenn ja, ist es ursächlich oder Auswirkung?
Konstantin Wecker: Es gab, glaube ich, nur einmal eine Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das war in der Liedermacherzeit Anfang der 1980er, Ende der 1970er Jahre. Da gab es den Schlager, wir haben drüber gelacht, aber er hat nicht annähernd diese Publikumswirksamkeit gehabt. Bestimmte Publikumskreise, meistens waren es die älteren, die waren schon vorhanden, aber jetzt ist es wieder die Jugend, die den Schlager feiert. Interessanterweise mit einer gewissen Ironie, aber sie feiern ihn. Sie wollen schon ein bisschen Abstand nehmen von den Inhalten, aber sie wollen auch die Party.
So wie bei den ironisch getragenen Trachten.
Konstantin Wecker: Meine Frau zum Beispiel ist in den Achtzigern groß geworden als Teenie und das war eine ungeheuer politische Zeit. Die große Friedensbewegung und da ist man mit Liedermachern aufgewachsen. Viele, die das damals erlebt haben, sind auch heute noch in meinem Publikum. Aber das ist in den neunziger Jahren total gekippt. Das war ein Sieg des Neoliberalismus, eigentlich hat die Konterrevolution gesiegt.
Diese Konterrevolution hat lange Zeit drauf gewartet, sich mit Thinktanks vorbereitet, und in den neunziger Jahren haben sie zugeschlagen und der Jugend ganz bewusst und gezielt eingeredet, dass es viel wichtiger ist, tolle Markenkleidung zu tragen, als auf eine Demo zu gehen. Dann war Demo plötzlich peinlich. Es war nicht peinlich, im Laden in der Schlange zu stehen, um sich die dreizehnte Jeans zu kaufen.
Und der Schlager hat mitgemacht.
Konstantin Wecker: Der Schlager hat davon profitiert. Erstmal gäbe es gegen so einen Schlager gar nicht so viel zu sagen. Ich kenne ja noch die ganzen Schlagerschreiber von früher, die haben fette GEMA-Gebühren verdient und waren halt lustig drauf. (lacht) Aber es war kein Politikum damals. Heute ist der Schlager eigentlich ein Politikum.
Etwas ist interessant und deswegen bin ich ein bisschen weniger ängstlich. Vor 1933 gab es ja eine Ballung von Genies. Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg gab es all diese grandiose Dichter, Musiker und Komponisten, die sogar teilweise sehr populär waren. Selbst die Schlager waren damals gute Schlager. Viel kam von jüdischen Komponisten und Sängern, die dann, wie Maurus Pacher sagte, "zum großen Geschenk Hitlers an Hollywood wurden". Großartige Autorinnen und Autoren, die Räterepublik, man denke nur an Kurt Eisner, Ernst Toller. Erich Mühsam, Egon Friedell, Brecht, Mascha Kaleko - was war das für eine Zeit!
Im Nachhinein könnte man fast sagen, das war ein letztes großes Aufbäumen großer Geister, bevor dann die Niedertracht ihren Einzug hielt. Dieses Aufbäumen vermisse ich im Moment (lacht), und deswegen hoffe ich, dass die Niedertracht nicht zu schrecklich sein wird.
Das ist eine Wette, aber hoffentlich stimmt es.

Dieser Interview wurde anlässlich von Konstantin Weckers Tournee im beschaulichen Kärntner Örtchen Finkenstein geführt. Das komplette Interview erscheint in Kürze auf skug.at [2].


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