"Nationalsozialismus" ist ein Lügenwort

Ein Appell an die Sprachreiniger: Entsorgt das Wort auf den Müllhaufen politischer Demagogie!

Vor reichlich einem Jahrhundert, am 20. Februar 1920, wurde aus der Deutschen Arbeiterpartei, DAP, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, NSDAP. Die Namensänderung geschah auf Betreiben Hitlers, der gerade einmal fünf Monate zuvor dieser Partei beigetreten war und bereits im Juli des folgenden Jahres ihr Vorsitzender wurde.

Schon das Wort "Arbeiter" in DAP war Etikettenschwindel, denn die etwa 200 Mitglieder, welche die Partei Anfang 1920 hatte, waren vor allem Geschäftsleute, Handwerker und Angestellte. Mit dem Zusatz "Nationalsozialistisch" klebte Hitler zwei weitere Etiketten dran, um die Partei sowohl für die nationalistischen "völkischen" Wähler als auch für Sozialdemokraten und Kommunisten attraktiv zu machen. Victor Klemperer schrieb in "LTI – Notizbuch eines Philologen" zur Umdeutung des Sozialismus-Begriffs durch die Nazis:

Nun kann sich das nazistische Vokabular entfalten: (…) "Marxismus" für Sozialismus, denn der wahre Sozialismus gehört dem Hitlertum, und der falsche muß als Irrlehre des Juden Karl Marx gekennzeichnet werden.

Aber Hitler stahl den Sozialisten nicht nur den Namen, sondern auch das Rot ihrer Fahne, ihren "Tag der Arbeit" und auf dem Papier auch Teile ihres Programms. In "Mein Kampf" schrieb er offen:

Wir haben die rote Farbe unserer Plakate nach genauem und gründlichem Überlegen gewählt, um dadurch die linke Seite zu reizen, zur Empörung zu bringen und sie zu verleiten, in unsere Versammlungen zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sprengen, damit wir auf diese Weise überhaupt mit den Leuten reden konnten.

Kaum an der Regierung, erfüllte die NSDAP scheinbar eine jahrzehntelange Forderung der Arbeiterbewegung und machte den 1. Mai zum "Tag der nationalen Arbeit". 1933 wurde er erstmals pompös gefeiert, einen Tag später – Zynismus der Macht – ließ Hitler die Gewerkschaftshäuser stürmen, die Führer verhaften und die gewerkschaftlichen Vermögen beschlagnahmen.

Alles Sozialistische wurde ausgemerzt

Die wenigen antikapitalistischen Forderungen im 25-Punkte-Programm der NSDAP waren als Köder für die linken Arbeiter gedacht, allerdings wurden sie von einem "linken" Flügel der NSDAP um Otto und Gregor Strasser durchaus ernst genommen.

Während Hitler sich mühte, den kleinbürgerlichen Wählern und den kapitalistischen Geldgebern zu erklären, dass sie den Sozialismus im Parteinamen nicht so wörtlich nehmen dürften, pochten jene auf Programmpunkte wie "Brechung der Zinsknechtschaft" (11), "Gewinnbeteiligung an Großbetrieben" (14) und eine Bodenreform inklusive "unentgeltliche Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke" (17).

Speziell zum letzten Punkt sah sich Hitler anlässlich der Reichstagswahl 1930 zu der Klarstellung genötigt, dass die NSDAP "auf dem Boden des Privateigentums" stehe und sich diese Forderung "in erster Linie gegen die jüdischen Grundstücksspekulations-Gesellschaften" richte.

Mitte 1930 kam es zum endgültigen Bruch zwischen Hitler und der Strasser-Gruppe: Hitler forderte vom Berliner Gauleiter der NSDAP die "rücksichtslose Säuberung" der Partei von allen "Salon-Bolschewisten". Otto Strasser reagierte mit dem Aufruf "Die Sozialisten verlassen die NSDAP", trat selbst aus der Partei aus und musste 1933 fliehen. Sein Bruder Gregor Strasser versicherte Hitler zwar seiner Loyalität, wurde dennoch 1932 kaltgestellt und am 30.Juni 1934 in dem "Röhm-Putsch" genannten Massaker an der SA-Führung gleich mit ermordet.

Der KPD-Opposition hatte sich Hitler 1933 als erstes entledigt, gleich nach seiner Ernennung zum Reichskanzler durch Hindenburg. Vorwand war der Reichstagsbrand vom 27. Februar, laut den Nazis eine kommunistische Verschwörung, doch höchstwahrscheinlich das, was man heute False-Flag-Operation nennt. Schon in der Brandnacht drohte Hitler:

Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. (…) Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. (…) Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr.

Aufgrund der am folgenden Tag beschlossenen Notverordnung wurden Zehntausende KPD- und SPD-Mitglieder verhaftet und KPD-Wahlwerbung verboten. Zur Reichstagswahl am 5. März bekam die KPD dennoch 12,3 Prozent der Stimmen, doch ihre Sitze im Parlament blieben leer. Dies sicherte Hitler die Zweidrittelmehrheit für das Ermächtigungsgesetz vom 23.3.1933, das ihn faktisch zum Diktator machte.

Sofort danach wurde auch die SPD – sie hatte gegen das Gesetz gestimmt – verboten und enteignet, die bürgerlichen Parteien lösten sich selbst auf. Die Führer der SPD kamen in Haft oder ins KZ. "Die letzten wurden 1934 ermordet", überschrieb der Spiegel im Oktober 1979 seine Titelstory.

NS-Vergleich als Wahlkampflüge

Anlass für diesen Artikel, der im Spiegel-Archiv zugänglich ist, war die bevorstehende Bundestagswahl 1980. Franz Josef Strauß, Kanzlerkandidat der CDU, hatte im Wahlkampf gegen Helmut Schmidt und die SPD zur primitivsten Geschichtslüge gegriffen und herausposaunt: "Sowohl Hitler wie Goebbels waren im Grunde ihres Herzens Marxisten."

Ein später Sieg und zugleich auch eine absurde Verkehrung von Hitlers Demagogie, denn für den waren die Marxisten und "Bolschewisten" die eigentlichen und ärgsten Feinde, die Juden "nur" die Sündenböcke, womit er leider an jahrhundertelange (und heute wieder wachsende) Ressentiments und Vorurteile anknüpfen konnte.

Hitler selbst spottet in "Mein Kampf" über die "einfältigen bürgerlichen Angsthasen", die fürchteten, "daß wir im Grunde genommen auch nur eine Spielart des Marxismus wären, vielleicht überhaupt nur verkappte Marxisten oder besser Sozialisten".

Ging es Hitler darum, von der Attraktivität linker Ideen zu profitieren, so ging es Strauß um die Diffamierung seiner linken Gegner, indem er sie in Nazi-Nähe rückte. Beide wussten genau, dass sie die Wähler täuschten. Doch weil es ja so ein einfaches Erklärungsmuster ist und politisch so nützlich scheint, wird die Lüge von der ideologischen Nähe von Faschismus und Sozialismus bis heute immer wieder kolportiert, bevorzugt natürlich von konservativer, aber auch liberaler Seite. Sie spukte im Kopf des Historikers Joachim Fest ebenso wie in den erzlibertären Kreisen um Ludwig von Mises.

George Reisman, ein Schüler Mises, kommt nach wirren Argumentationsketten zu der skandalösen Aussage:

Die Kommunisten … haben den Charakter bewaffneter Räuber, die bereit sind, für ihren Raub über Leichen zu gehen. (…) Was die Nazis angeht, so mussten sie meistens nur Juden töten, um an deutsches Eigentum heranzukommen.

Man muss also nicht die AfD bemühen, um Beispiele für die Verknüpfung von Antikommunismus mit der Beschönigung oder gar Rechtfertigung von Naziverbrechen zu finden. Solche Ansichten rücken von der extremen Rechten immer mehr in die Mitte der Gesellschaft.

Mitschuldig daran sind auch EU-Initiativen wie der 2009 eingeführte "Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime" und die EU-Resolution vom September 2019 "zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas". Hier wie dort werden faschistische und stalinistische Verbrechen in einen Topf gerührt. Kritik daran kommt fast nur von linker, teilweise aber auch von jüdischer Seite.

Hannah Arendt, bekannt vor allem durch ihre Totalitarismus-Theorie, ist übrigens gerade keine Kronzeugin für die Gleichsetzung der Ideologien. In ihrem oft missinterpretierten Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" spricht sie von totalitären Bewegungen, die sich der Ideologien bemächtigten.

Hitler habe sich so des Rassismus (auf den sie die NS-Ideologie reduziert) bemächtigt, Stalin des Kommunismus. Für totalitär hielt sie allein die Hitler- und die Stalin-Diktatur, im Übrigen verehrte sie Rosa Luxemburg und trat für eine Räte-Demokratie ein.

Größeren öffentlichen Widerspruch erhalten die Gleichsetzungen faschistischer und sozialistischer Systeme fast nur dann, wenn sie gleichzeitig auf eine Holocaust-Verharmlosung hinauslaufen. Was letzteres betrifft, sind die öffentlichen Sicherungen sehr scharf.

Ein Beispiel ist das Wort "Reichskristallnacht". Es findet sich relativ wertfrei und ohne Anführungszeichen in vielen Publikationen bis zum Ende der 1980er Jahre. Erst da wurde sein verharmlosender, euphemistischer Charakter erkannt – oder es war zu diesem Zeitpunkt einfach in Vergessenheit geraten, dass das Wort ursprünglich gar kein zynischer Nazi-Sprech war, sondern eher eine ironische Erfindung des (Berliner) Volksmunds. In Klemperers Buch LTI kommt das Wort gar nicht vor.

Heute zählt es die Bundeszentrale für politische Bildung zu den zehn Stigmavokabeln, wobei die Diskussion anhält, ob die jetzt übliche Ersetzung durch Pogromnacht nicht ebenfalls irreführend und verharmlosend ist.

Wissen ist anstrengend, Unwissen bequem

2018 sorgte der britische Tory-Abgeordnete Syed Kamall im EU-Parlament für einen Eklat mit der Behauptung, der Nationalsozialismus sei "eine Spielart des Sozialismus". Bemerkenswert daran war, dass er mit dem Protest und Tumult, den er auslöste, offenbar nicht gerechnet hatte. Die Behauptung schien ihm auf der Hand zu liegen und das NS-Wort dafür ein hinreichendes Argument zu sein. "Kommt schon, es nennt sich Nationalsozialismus", zitiert ihn der Spiegel.

Ähnlich kurzschlüssig-naive und unreflektierte Statements finden sich in Internetforen zu Tausenden, von einem wissenschaftlich ausgebildeten Akademiker (Kamall ist Wirtschaftswissenschaftler) sollte man sie jedoch nicht unbedingt erwarten. Es sei denn – siehe Strauß –, es steht die politische Absicht im Vordergrund.

Nicht jede Falschbehauptung ist jedoch eine bewusste Lüge. Auch bloße Ideologische Voreingenommenheit vernebelt die Urteilskraft und verdrängt unliebsame Fakten. Das ist als "confirmation bias" altbekannt, wird aber erst seit wenigen Jahren nicht nur als (passives) kognitives Problem, sondern als aktive Strategie erkannt und untersucht.

"Strategische Unwissenheit" nennt sich das Phänomen, "Agnotologie" die Wissenschaft dazu. Auf persönlicher Ebene dient diese Strategie – eigentlich als Ignoranz ebenfalls schon lange bekannt – dem Schutz des eigenen Weltbilds sowie der Vermeidung von Handlungen, etwa in Bezug auf Wohltätigkeit, Flüchtlingsfragen, Klimawandel und ganz allgemein politischem und gesellschaftlichem Engagement. Kurzformel: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!"

Unwissenheit lässt sich – und das ist die brisante gesellschaftspolitische Ebene – aber auch aktiv erzeugen. Die direkte Lüge ist dafür nur das klassische, sozusagen primitive Mittel, das sofort versagt, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.

Moderner und wirkungsvoller sind die Schaffung "alternativer" Fakten und die Förderung von Zweifel. Nachgewiesen wurden solche Strategien zuerst bei Tabakkonzernen, die durch die Förderung von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Krebsgefahr vieler weiterer Stoffe die Krebsgefahr des Rauchens zu relativieren suchten, was auch Erfolg hatte.

Ähnlich gingen Konzerne gegen Studien vor, die vor zu hohem Zuckerkonsum oder der Gefährlichkeit von Asbest und Blei warnten (hier eine Dokumentation dazu). Es ist sehr wahrscheinlich, dass solche groß angelegten Täuschungsmanöver nicht nur zugunsten wirtschaftlicher, sondern auch politischer Ziele eingesetzt werden.

Wenn immer neue Interpretationen, immer neuer Indizien mal auf diesen, mal auf jenen Schuldigen an offensichtlichen Verbrechen verweisen (9/11, MH17, Giftgasangriffe in Syrien, Nowichok …), bewirkt das nur, dass die Rezipienten letztlich an allem zweifeln – an den echten Fakten (aber welche sind echt?) ebenso wie an den alternativen. Wer dann schlussfolgert "Politiker sind alle Verbrecher", wählt zumindest nicht die Gegenpartei und wird schlimmstenfalls Nichtwähler. Oder Verschwörungstheoretiker. Oder Holocaust-Leugner.

Hannah Arendt hat dies schon 1964 gewusst. In ihrem Essay "Wahrheit und Politik" schreibt sie:

Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird. (…) Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.

Wenn die Sprache lügt, gerät die Welt aus den Fugen

Hier geht es aber nicht um die großen politischen Lügen, sondern um die Ehrlichkeit der Sprache an sich: Bezeichnen die Wörter das, was gemeint ist, oder verhüllen sie dies eher, werten sie ihren Gegenstand unzulässig ab oder auf, grenzen sie bestimmte Gruppen aus oder diffamieren sie sogar? Wäre es um all das gut bestellt, bräuchte es keine Diskussion um Political Correctness und "Gendersprech" und vor allem keine "Unwörter des Jahres".

Die Sensitivität für Wörter, die euphemistisch die Wirklichkeit verzerren oder glatt umlügen, hat zugenommen, aber auch die Erfindung und Verwendung solcher Wörter. Hieß es vor einem Jahrhundert noch brutal und ehrlich "Kriegsministerium", haben heute alle Staaten nur noch "Verteidigungsministerien", Kriege dürfte es also gar nicht mehr geben.

Ähnliche Lügenwörter sind "Freihandel", "Gotteskrieger" (Unwort des Jahres 2001) oder das 2013 von Ingo Schulze zum Unwort vorgeschlagene Wortpaar "Arbeitnehmer / Arbeitgeber". Aber auch die Staatsbezeichnung "Sowjetunion" wurde spätestens 1938 zum Lügenwort, als die Räte (Sowjets) von Stalin endgültig entmachtet waren.

Political Correctness und vor allem Wahrhaftigkeit sind – mit Verlaub – in der politischen Sprache notwendiger und folgenreicher als bei angeblich diffamierenden Benennungen wie "Zigeunersoße" oder "Mohrenstraße". Das Wort "Nationalsozialismus" hat es seltsamerweise nie in irgendeine Liste von Unworten geschafft, es wird in keiner (mir bekannten) Publikation zur Nazisprache (z.B. "Verbrannte Wörter") auch nur hinterfragt, geschweige kritisiert.

Dabei ist es die zentrale Demagogieformel der deutschen Faschisten. Die selbstverständliche und unkritische Weiterverwendung macht das Wort zur Jahrhundertlüge. Deshalb ist es überfällig, seinen demagogischen Gehalt wenigstens durch Anführungszeichen zu kennzeichnen, wenn es denn überhaupt verwendet werden muss.

Laut Ludwig Wittgenstein reicht unsere Welt so weit, wie unsere Sprache reicht (wörtlich: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.") Woraus sich folgern lässt: Wenn die Sprache lügt, dann gerät die Welt aus den Fugen. Die Sprache markiert die Welt als erfahrbare Landschaft, ihre Wörter sind unsere bevorzugten Wegweiser in einem immer unübersichtlicher werdenden Terrain.

Wenn diese links dort anzeigen, wo eigentlich rechts ist – und umgekehrt –, dann brauchen wir uns über orientierungslos zwischen Querfronten irrende Menschen nicht zu wundern.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.