Nato-General: Eskalationsgefahr höher als im Kalten Krieg
Die nukleare Bedrohung wächst. Die USA und Russland verfügen über 3.500 einsatzbereite Atomwaffen. Wann kippt die fragile Balance?
Mit der Freigabe weitreichender Waffensysteme durch den noch amtierenden US-Präsidenten Joe Biden ist eine neue, äußerst gefährliche Eskalation im Ukraine-Krieg eingetreten. Die ukrainische Armee hat erstmals US-Raketen zur Bekämpfung militärischer Ziele auf russischem Territorium eingesetzt. Der russische Präsident Wladimir Putin hat darauf reagiert und die Einsatzstrategie der Nuklearstreitkräfte der neuen Bedrohungslage angepasst.
Offenbar planen nun auch die USA eine Anpassung ihrer nuklearen Einsatzdoktrin und rüsten sich für alle denkbaren Szenarien eines Atomkrieges.
Ziel sei es, auch nach einem Nuklearkrieg über ausreichende Fähigkeiten und Reservekapazitäten zu verfügen, um weiterhin als globale Führungsmacht agieren zu können. Gewinnen definiere sich dann nicht mehr über einen eindeutigen Sieg, sondern über die Behauptung der Führungsrolle. Die USA müssten durch Aufrüstung und Kooperation die Fähigkeit demonstrieren, notfalls auch einen Atomkrieg führen und überleben zu können, so Konteradmiral Thomas R. Buchanan vom US Strategic Command (CSIS).
Bundeswehr-General sieht erhöhte Kriegsgefahr
Der derzeit in Norfolk, Virginia (USA) stationierte deutsche Vier-Sterne-General Christian Badia schätzt die Kriegsgefahr in Europa als hoch ein.
Das sogenannte rote Telefon des Kalten Krieges zwischen Russland und den USA gebe es nicht mehr. Die Gefahr von Fehleinschätzungen, die zu einer ungewollten Eskalation des Krieges führen könnten, sei "um ein Vielfaches höher". Es handele sich nicht mehr um einen regionalen Krieg, sondern Russland strebe eine neue Weltordnung an, so Badia gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
Um dem entgegenzutreten, müsse die Nato überlegene Fähigkeiten zur Kriegsführung zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Cyberspace erlangen.
Badia ist "Deputy Supreme Allied Commander Transformation" in Norfolk. Die Bundeswehr, sagt er, benötige zur Sicherstellung ihres Verteidigungsauftrages und der Anforderungen im Nato-Bündnis eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes in Richtung drei Prozent des Bruttosozialproduktes. Dies bedeute mittelfristig mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr.
Badia für Taurus-Freigabe
Notwendig sei auch die Freigabe von Langstreckenraketen, damit die Ukraine militärische Ziele auf russischem Territorium bekämpfen könne. Dazu gehöre auch der Marschflugkörper Taurus. Badia weist aber ausdrücklich darauf hin, dass die Nato mit 3,5 Millionen Soldaten und modernster Waffentechnik über eine "massive Schlagkraft" verfüge.
Doch nicht Aufrüstung, sondern Deeskalation ist in der akuten Krisensituation notwendig. Die USA und Russland verfügen derzeit über rund 3.500 einsatzbereite Atomwaffen. Die Gefahr eines Atomkrieges ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
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Erinnert sei an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945: Damals zerstörte eine primitive Uranbombe mit einer Sprengkraft von 13 Kilotonnen Hiroshima vollständig und tötete mehr als 100.000 Menschen innerhalb von Sekunden oder qualvoll innerhalb weniger Stunden. Dasselbe Schicksal ereilte Nagasaki mit einer Plutoniumbombe von 21 Kilotonnen Sprengkraft.
Heutige Atomwaffen haben eine Sprengkraft von bis zu vier Megatonnen und damit ein unvorstellbares Zerstörungspotenzial. Deutschland sollte versuchen, die Krisenlage auf diplomatischem Wege zu entschärfen. Ansprechpartner wären u. a. die Vereinten Nationen, die Brics-Staaten, die neutrale Schweiz oder die USA. Ausgehend von der akuten Bedrohungslage wäre folgende Zielgewichtung notwendig:
1. Deeskalation mit dem Ziel, einen Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu verhindern.
2. Verhinderung eines drohenden (Welt-)Krieges zwischen Russland, den USA und der Nato .
3. Die Bundesrepublik Deutschland könnte Russland folgendes Verhandlungsangebot unterbreiten: Verzicht auf die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, wenn Russland seine Raketen aus Kaliningrad abzieht. Ziel sollte es sein, vertrauensbildende Maßnahmen in Gang zu setzen.
4. Die deutsche UN-Botschaft könnte sich dafür einsetzen, dass der UN-Generalsekretär Gespräche mit den Atommächten USA, China und Russland am Sitz der Vereinten Nationen führt.
Warnlampen müssten aufleuchten
Wenn der ranghöchste deutsche Nato-General die Lage gefährlicher einschätzt als zu Zeiten des Kalten Krieges, müssten eigentlich in allen politischen Krisenstäben Europas die roten Warnlampen im Alarmzustand aufleuchten.
Alles müsste in Bewegung gesetzt werden, statt militärstrategische Kriegsplanungen und Eskalationsdrohungen politisch "herunterzufahren": Verhandeln, Vermitteln und Moderieren wären das Gebot der Stunde, ebenso die Anwendung der "Kunst der Diplomatie".
Geschick, strategische Kompetenz und Weitblick mit Augenmaß sind gefragt, um dem Frieden eine Chance zu geben. Doch daran hapert es.
Rolf Bader, geb. 1950, Dipl.-Päd, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Kaufering.