Naturschutz oder Menschheitsschutz?
Die Bewahrung der Umwelt war für den Menschen lange Selbstzweck. Heute ist er Hauptursache ihres Niedergangs. Essay zu einem der wichtigsten Begriffe unserer Zeit – und zum Verhältnis zu uns selbst.
Welchen Stellenwert die Bewahrung der Zukunft genießt, lässt sich in den letzten Jahren genau beobachten. Längst sind es nicht mehr "wärmere Sommer", die das Wetter kennzeichnen, sondern sinkende Grundwasserpegel, Dürren und extreme Unwetterlagen inklusive der Zerstörung ganzer Ortschaften in Regionen, in denen dies in der Vergangenheit nicht zu erwarten war.
Aktuell ist es ein Winter, der mehr an Frühling erinnert. Trotzdem kommt die Menschheit im Hinblick auf Klimaschutz nur langsam von der Stelle. Dabei ist bereits vor rund fünfzig Jahren Naturschutz zum Thema geworden, so sehr sogar, dass eine damals für Naturschutz und Frieden gegründete Partei heute in der Regierung sitzt.
Aber was ist "Naturschutz" eigentlich – liegt nicht schon in diesem Wort ein grundlegendes Missverständnis?
Die Entstehung des Naturschutzbegriffs
Der Bezeichnung "Naturschutz" geht eine lange Entwicklung von Begriffen voraus, die sich mindestens bereits im 14. Jahrhundert in der Schweiz im Verbot des Fangs von Singvögeln manifestierten. Denn Singvögel waren und sind bedeutsame Insektenfresser. Im Grunde stand hier also der Schutz vor der Natur im Vordergrund: In einer Denkweise, die sich so auch in heutigen Naturschutzzeitschriften und Gartenratgebern findet, schützte man zu diesem Zweck natürliche Fressfeinde der Schädlinge.
Ebenso wurde Natur als Ressourcenquelle bewahrt und dort bekämpft, wo sie diese Ressourcen beispielsweise durch Beutegreifer wie den Wolf gefährdete. Der Schutz der Natur um ihrer ästhetischen Funktion willen trat dann mit zunehmender Verstädterung und Industrialisierung ins Bewusstsein.
Beispielsweise fand die Verehrung der Natur deutlichen Niederschlag in der Romantik. Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff beklagte 1842 in den "Westfälischen Schilderungen" die zunehmende Zerstörung der Landschaft:
So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. [...] Bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben [...]; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.
Der Biologe Reinhard Piechocki gliedert die Herausbildung des Naturschutzgedankens in vier Stadien: Die Natur als Bedrohung; als Ressource; als Landschaft; schließlich als Mitwelt. Dementsprechend erscheinen die Begriffe "Forstschutz" 1757 als Schutz einer Ressource, knapp hundert Jahre später der "Heimatschutz" als Schutz einer gewachsenen Kulturlandschaft und fast zeitgleich der "Tierschutz" als Schutz von fühlenden Kreaturen um ihrer selbst willen.
Bedeutsam ist hierbei, dass sich die Stadien nicht voneinander ablösten, sondern teilweise vermischten oder noch heute parallel existieren. So werden in vielen Regionen immer noch Beutegreifer als Schädlinge der Landwirtschaft gejagt, wenngleich es darum – wie im Falle von Wolf oder Kormoran – heftige Diskussionen und Jagdverbote gibt.
Der Begriff "Naturschutz" als solcher aber wurde erst 1871 von Philipp Leopold Martin und 1888 von Ernst Rudorff belegbar verwendet. Es war in erster Linie – und wenig überraschend – das Bildungsbürgertum, das den Gedanken des Naturschutzes vorantrieb.
Was ist "Natur"?
"Natur" als Terminus hat also historisch eine starke Entwicklung durchlaufen. In den animistischen Glaubenssystemen archaischer Gesellschaften war die Natur ein organisches Gewebe von Geistkräften und Gottheiten, die verehrt oder gebannt werden mussten, um das eigene Leben und die eigene Gesundheit zu schützen.
Mit dem Sesshaftwerden nahmen existenzielle Bedrohungen konkrete Formen an, gegen die mit strukturellen Maßnahmen gewisse Vorkehrungen getroffen werden konnten: Seien es Flut, Brand, schlechtes Wetter oder Schädlingsbefall.
"Natur" wurde als Rohstoff- und Nahrungsquelle verstanden und schließlich zu einem romantisch kostbaren Objekt. Aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde "Natur" verstärkt als ganzheitlich zu schützende Voraussetzung für menschliches Leben begriffen. So wird Naturschutz beispielsweise definiert als "die Aktivitäten, die beabsichtigen, ein gutes Verhältnis des Menschen mit der Natur zu etablieren, aufrechtzuerhalten oder es zu verbessern".
Das klingt zunächst einmal nach einer Binse, die dem allgemeinen Verständnis entspricht. Aber trifft diese Definition wirklich zu? Denn: Was ist "Natur" eigentlich?
Natur ist unglaublich komplex, unglaublich vielfältig, unglaublich ästhetisch, ihre Kreationen voller Gefühle und Emotionen. Aber die Natur insgesamt folgt fern aller moralischen Kategorien den Naturgesetzen. Sie ist ein Mechanismus, der, poetisch formuliert, Seele gebiert, der selbst aber seelenlos ist.
Dementsprechend beurteilt die Natur das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten nicht. Die Hauptursache des galoppierenden Artensterbens ist heutzutage der Mensch. Daher ist das Verlangen verständlich, die Natur vor dem Eingriff des Menschen zu schützen.
Dabei wird aber übersehen, dass es gerade die Natur ist, die Ökosysteme en gros vernichtet, und zwar ganz ohne menschliche Mithilfe. Vor der kaum zu erfassenden Zeitspanne von etwa 66 Millionen Jahren wurde ein Ökosystem vernichtet, das sich in noch weniger greifbaren rund 250 Millionen Jahren entwickelt hatte, und zwar vermutlich nach einem vorangegangenen Massensterben – das seinerseits möglicherweise von einer Klimaerwärmung ausgelöst wurde.
Diese als Mesozoikum bezeichnete Epoche brachte immer neue Gattungen an Lebewesen hervor. Manche von ihnen konnten sich über Millionen Jahre behaupten.
Es genügte vermutlich ein Kometeneinschlag, vielleicht in Kombination mit anderen Naturkatastrophen, um dieser scheinbar ewig währenden Blüte ein abruptes Ende zu setzen. Fast die gesamten Errungenschaften der Evolution wurden mit einem Schlag vernichtet. Die Erde verwandelte sich zu einem nach erdgeschichtlichen Maßstäben kurzzeitig so unwirtlichen Ort, wie die Menschheit es (hoffentlich) niemals bewerkstelligen wird.
Doch selbst diese Katastrophe war nur eine leichte Fingerübung für die Natur. Ganz gleich, wie reichhaltig und vielfältig die Ökosphäre der Erde ist, sie wird in wenigen Milliarden Jahren den Hitzetod sterben – sogar die Erdkruste wird wohl schließlich schmelzen. Schuld daran wird unsere eigene Sonne sein, die sich zu einem Roten Riesen aufblähen wird.
Anschließend wird sie selbst jenen Tod erleiden, der jeden Tag Millionen Sterne im Universum ereilt. Sie wird in sich zusammenfallen und auskühlen. Von unserem Sonnensystem sind dann allenfalls noch Ruinen übrig. Wohlgemerkt: Keine Ruinen auf der Erde, keine Ruinen menschlicher Schöpfung, sondern Planetenruinen, gemessen in verglühten Himmelskörpern, Staubwolken und kosmischer Strahlung. Für die Natur sind derlei Katastrophen Alltag.
Damit wird deutlich, dass der Gedanke des "Naturschutzes" unzutreffend ist. Wir sind Teil der Natur und können diese Natur so wenig schützen, wie wir die Zeit zurückdrehen können, die im Übrigen ebenfalls Teil der Natur ist.
Und selbst, wenn wir unter der Natur das verstehen wollen, was uns tagtäglich an Gewachsenem umgibt: Tiere, Pflanzen, Pilze, Mikroorganismen; dieses zu schützen, gibt es aus der Perspektive der Natur keinen Grund.
Denn die Natur besitzt keine Moral. Die Menschheit ist für sie nicht mehr als ein weiterer evolutionärer Faktor, eine Konsequenz ihrer Mechanik.
Was dieser Faktor bewirkt, die Veränderung von Lebensräumen, die Vernichtung von Arten, bleibt Natur, nicht anders als die Folgen eines Meteoriteneinschlags oder des Auftretens einer den lokalen Arten überlegenen Tierart.
Naturschutz gibt es nicht, nur Menschheitsschutz
Sehr wohl aber gibt es gute Gründe, die Menschheit zu schützen. Das ist es, was wir eigentlich mit dem Begriff des "Naturschutzes" verschleiern.
Unser höchstes Ziel sollte daher der Schutz unserer eigenen Art sein, nicht das einer Natur, die es nicht kümmert, was mit ihr geschieht, weil sich in ihr ohnehin alles in Kausalketten bedingt. Ob die Menschheit existiert oder nicht, ist für die Natur belanglos. Ob die Wale ausgestorben sein werden, kümmert die Wale wenig – ausgenommen vielleicht die letzten, vereinsamten Exemplare ihrer Art.
Aber uns wird es sehr wohl kümmern, insbesondere, wenn etwa der Grund für das Walsterben das Absterben des Planktons ist. Denn der Mangel an Plankton in unseren Meeren wirkt sich auf die Welternährungslage aus, da es am Anfang der Nahrungskette steht.
Ferner spielt das Phytoplankton eine wichtige Rolle bei der Bindung von Kohlendioxid und damit für den Klimaschutz. Wir müssen also nicht die Wale an sich schützen, wir müssen uns schützen. Und um uns zu schützen, müssen wir eben die Wale und das Plankton bewahren. Die Gleichung lautet daher: Menschheitsschutz ist Walschutz ist "Klimaschutz" und somit "Naturschutz".
Das klingt erst einmal nach Wortklauberei, darüber hinaus hart und egoistisch. Abgesehen von seiner faktischen Richtigkeit ist es aber vor allem ein essenzieller Schritt zum Verständnis dahin, dass unser Handeln auf uns selbst zurückfällt.
Wenn wir die Natur schützen – sprich: das Ökosystem in seinem derzeitigen Zustand weitgehend bewahren wollen – dann ist das der einzige Weg, uns selber zu schützen. Dass es allerhöchste Zeit wird, mit dieser Art des Menschheitsschutzes zu beginnen, wird dieser Tage durch unablässige Warnungen in Gestalt immer neuer Katastrophen schmerzhaft bewusst.
Was ist der Mensch dem Menschen?
Das Problem ist nur: Als Homo homini lupus, Egoisten, die ihren Mitmenschen gegenüber tendenziell missgünstig eingestellt und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, stehen unsere Chancen denkbar schlecht.
Und daran besteht schon durch den Welternährungsbericht bei gleichzeitiger Nahrungsmittelspekulation – ganz zu schweigen von internationaler Machtpolitik – kein Zweifel. Da braucht es nicht einmal den Hinweis auf die Gnade einer Handvoll Einzelpersonen, die rote Knöpfe drücken, damit Reaktionsketten auslösen und letztlich unsere Welt in nuklearem Feuer vernichten können.
Insofern wäre es ein Segen, würde tatsächlich so etwas wie ein Naturschutz möglich sein. Aber leider geht es nicht um die Natur, sondern um uns selbst – und wir sind unser größter Feind.
Ruben Wickenhäuser, Publizist, studierte Geschichte und Biologie mit Schwerpunkt physische Anthropologie. Er ist unter anderem Autor im Team der Science-Fiction-Serie Perry Rhodan NEO, lektorierte über mehrere Jahre das Magazin für Eulenschutz der AG Eulen und hält Vorträge und Lesungen.
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