Nazi-Etikettierung der AfD: Notwendiger Diskurs oder gefährliche Vereinfachung?
Die Bezeichnung der Partei als Nazi-Partei durch politische Akteure und Medien führt zu Kontroversen. Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit?
Der Begriff "Nazi" ist in den Medien allgegenwärtig. Dass er von politischen Akteuren genutzt wird, ist das eine, wie weit der Journalismus ihn zitiert, einordnet oder selbst verwendet etwas anderes.
Denn wer gegenwärtig ein Nazi ist und was mit dieser Feststellung verbunden ist, scheint alles andere als klar zu sein.
Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung
Dabei ist wie immer zunächst zu klären, ob es sich bei einer Aussage um eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsäußerung handelt. Denn Tatsachen sind per definitionem wahr, es gibt sie eben, über ihr Erkennen und Beschreiben hat man sich (vorläufig) so verständigt, dass eine Kommunikation möglich ist. Ein Haus ist ein Haus, ein Krankenhaus ein Krankenhaus.
Wer nun ein Zelt als Haus bezeichnet, stellt eine falsche Tatsachenbehauptung auf, denn niemand wird in unserem Sprachkontext dabei das zutreffende Bild vor Augen haben.
Meinungen hingegen können weder richtig noch falsch sein. Sie sind individuelle Bewertungen von Tatsachen. Man kann Sauerkraut mögen oder verschmähen, diese oder jene oder keine Partei wählen, Regen gutes oder schlechtes Wetter finden.
In der alltäglichen Kommunikation ist häufig allerdings nicht unstrittig, ob es sich bei einer Aussage um eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsbekundung handelt. Ist ein konkretes Haus rein sachlich betrachtet bereits eine Villa? Oder bringt ein Sprecher damit nur seine Meinung zum Ausdruck, dass er es für opulent, luxuriös oder an diesem Ort für irgendwie herausragend hält?
Wie steht es nun um die Bezeichnung eines Menschen als Nazi?
Rechtsprechung: "Tatsächliche Bezugspunkte" nötig
In der Rechtsprechung, die stets nur den Einzelfall betrachtet, wird diese Titulierung immer wieder als Meinungsäußerung gesehen. Trotz ihres stark abwertenden Charakters sei sie dann möglich und keine verbotene Schmähkritik, wenn sie sich "auf ausreichende tatsächliche Bezugspunkte" stütze (OLG Stuttgart 4 U 101/15).
Bekannt geworden ist ein Gerichtsbeschluss, wonach die Bezeichnung Björn Höckes als Faschist von der Stadt Eisenach nicht pauschal verboten werden konnte. Denn die Demonstranten hätten
"in einem für den Prüfungsumfang im Eilverfahren und angesichts der Kürze der für die Entscheidung des Gerichts verbleibenden Zeit in ausreichendem Umfang glaubhaft gemacht, dass ihr Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht, dass es hier um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage hinsichtlich eines an prominenter Stelle agierenden Politikers geht und damit die Auseinandersetzung in der Sache, und nicht - auch bei polemischer und überspitzter Kritik - die Diffamierung der Person im Vordergrund steht" (VG Meiningen 2 E 1194/19).
Fehlen solche Tatsachengrundlagen, ist die Bezeichnung als Faschist oder Nazi hingegen rechtswidrig und kann Schadensersatzansprüche begründen (LG Kassel 5 O 5/22).
"Tatsächliche Bezugspunkte", und hier kommt der Journalismus ins Spiel, können allerdings nicht von weiteren Meinungen gebildet werden. Tatsachen sind eben keine Sache der Meinung, auch nicht einer Mehrheitsmeinung.
Entsprechend muss Berichterstattung, die Meinungsäußerungen referiert, die zu dieser Bewertung gehörenden Fakten benennen. Schließlich ist eine Meinung losgelöst von dem Sachverhalt, den sie bewertet, für die Öffentlichkeit nutzlos: Sie kann keine Orientierung bieten.
Saskia Esken: "Nazi-Partei"
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat am 1. Mai in der österreichischen Nachrichtensendung ZiB 2 die AfD als "Nazi-Partei" bezeichnet. Moderator Armin Wolf tat seinen Job und fragte nach. Auszug:
Wolf: Aber vergleichen Sie jetzt die AfD mit Göbbels?
ZiB 2, ORF, 1. Mai 2024
Esken: Ja. Es ist 'ne Nazi-Partei.
Wolf: Finden Sie das nicht maßlos übertrieben?
Esken: Nein.
Wolf: Weil
Esken: Weil ganz klar das völkische Denken vergleichbar ist, die Bestrebungen, die Demokratie zu untergraben. Vergleichbar ist menschenfeindliche Haltungen gegenüber allen möglichen Gruppen in unserer Gesellschaft (...), Ausgrenzung, Spaltung. Das sind ernsthaft die Gefahren für unsere Demokratie, die wir abzuwenden haben.
Wolf: Niemand in der AfD schlägt vor, Konzentrationslager zu bauen oder andere Parteien zu verbieten und die Demokratie abzuschaffen.
Ob das von Esken Vorgetragene nun als Tatsachenbegründung oder wenigstens Bezugspunkte eines Werturteils genügt, mag dahinstehen, aber ORF-Journalist Wolf hat immerhin danach gefragt.
Einige Kommentatoren sehen jedenfalls in Eskens Äußerung eine Verharmlosung des Nationalsozialismus und dessen Menschheitsverbrechen, so Ferdinand Knauß bei Cicero.
Der Focus fasst eine Video-Kommentierung seines Korrespondenten Ulrich Reitz so zusammen:
Reitz kritisiert Eskens Aussagen als "frei von jeder Geschichtsbildung". "Es ist ein Stück weit Geschichtsklitterung, weil hier der Nationalsozialismus einfach verharmlost wird." Zwar gebe es in Deutschland eine "innere Gefährdung der Demokratie, die darin besteht, dass Verfassungsfeinde sie erledigen können". Aber die AfD sei keine nationalsozialistische Partei.
Focus.de
Robert Treichler, stellvertretender Chefredakteur von Profil schreibt: "Kaum jemand hält den NSDAP-Vergleich für schlüssig."
Damit begebe sich Saskia Esken in die Rolle einer politischen Gegnerin, der alle Mittel recht seien, "um eine Partei, die in diesem Jahr auf drei Siege bei Landtagswahlen zusteuert, zu bekämpfen".
Damit schade sie auch allen, "die aus guten Gründen vor der AfD warnen".
Hendrik Wüst: "Die AfD ist eine Nazi-Partei"
Wie Eskens Gleichsetzung von NSDAP und AfD juristisch zu werten ist, wird möglicherweise noch geklärt, jedenfalls ist die österreichische Staatsanwaltschaft mit der Aussage befasst.
Derweil hat sich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) die Aussage der SPD-Frau zu eigen gemacht und "bringt es (...) auf den Punkt", wie die taz wenig distanziert schreibt (Videoschnipsel von der Demo, Wüst im "Bericht aus Berlin").
Nils Minkmar: "Nazis raus"
Bereits kurz vor Eskens Statement im österreichischen Fernsehen schrieb Nils Minkmar, Autor und Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (SZ):
Während all der vielen, vielen Stunden, in denen der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahlen schon interviewt wurde in TV-Sendungen und Podcasts, in all den Runden, in denen der Vorsitzende dieser Partei schon zu Gast war, um über dies und jenes zu plaudern, gab es nicht einen einzigen Augenblick, an dem man der Wahrheit über diese Partei nahegekommen wäre.
Nils Minkmar: "Nazis raus", SZ, 30. 4.2024
Ob Minkmar all die "vielen, vielen Stunden" gesehen und gehört hat? Da gab es z.B. kürzlich den über fünfstündigen Podcast Jung & Naiv mit dem AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah. Daraus beispielhaft nur eine Sequenz. Es ging zuvor kurz um Bundeswehreinsätze in Mali, Afghanistan und der Straße von Taiwan:
Tilo Jung: Wann sollten deutsche Soldaten denn eingesetzt werden?
Maximilian Krah: Ausschließlich bei Angriffen auf das Bundesgebiet selbst oder auf das Nato-Territorium, da haben wir eine Beistandsverpflichtung.
Jung: Aber du bist doch gegen die Nato.
Krah: Ich bin nicht gegen die Nato.
Jung: Du bist nicht gegen die Nato?
Krah: Ich bin nicht gegen die Nato.
Jung: Was?
Krah: Wer sagt, dass ich gegen die Nato bin?
Jung: Das überrascht mich jetzt.
Krah: Die Nato ist zurzeit das einzige Verteidigungsbündnis ...
Jung: Du schießt doch ständig gegen die USA.
Krah: Ich bin nicht gegen den Nato. Ich bin in den USA ausgebildet. Im Gegensatz zu allen Leuten, die hier einen auf großen USA-Versteher machen, habe ich einen (MBA)-Abschluss. Das heißt also diejenigen, die mir vorwerfen, ich sei irgendwie antiamerikanisch, waren vielleicht mal als Tourist im Disneyland. Ist okay, ja, so reden sie ja auch.Also ich sage ganz klar: Ich habe an den USA viel zu kritisieren, ich kritisiere auch die Politik der USA, das ist doch überhaupt keine Frage. Ich glaube auch, dass diese Politik oftmals mittlerweile nicht im deutschen Interesse ist. Aber zum heutigen Zeitpunkt - das habe ich immer gesagt - ist die Nato das einzige Verteidigungsbündnis, das überhaupt da ist. Aber, und jetzt kommt das große Aber, die Vereinigten Staaten werden sich in den nächsten Jahren von Europa weg entwickeln, sie tun es bereits jetzt. Das heißt also, Europa muss lernen, für seine Sicherheit selbst zu sorgen.
Insofern: ja heute ist die Nato alternativlos. Aber wir müssen anfangen in die Zukunft zu denken und zu fragen, was müssen wir tun für den Fall, dass die europäisch-amerikanischen Beziehungen sich in eine Richtung entwickeln, die für uns nachteilig ist. Das ist das, was ich sage. Aber ich habe zu keinem Zeitpunkt den Austritt Deutschlands aus der Nato gefordert.
Jung & Naiv, Folge 701
Jung: Die AfD schon.
Krah: Die AfD nicht. Die AfD hat im Grundsatzprogramm drin, dass Deutschland in der Nato drin bleibt. Und die AfD sagt: Weil die Welt sich verändert, müssen auch wir über mögliche europäische Sicherheitsarchitektur nachdenken, in eigenständige europäische Sicherheitsarchitektur ...
Jung: ... unter deutscher Führung, hatten wir schon ...
Krah: Ja, aber sie sagt nicht, wir sollen aus der Nato raus. Die Mitgliedschaft in der Nato ist Teil des Grundsatzprogramms. Also da wird hier viel Unsinn erzählt.
Nun muss auch das Grundsatzprogramm einer Partei nicht die "Wahrheit" sein, aber falsche Behauptungen aufzudecken sollte der Wahrheit zumindest näherkommen, als wenn sie weiterhin gepflegt werden.
Für die Zeitung nd (ehemals Neues Deutschland) ist es Tilo Jung jedenfalls nicht gelungen, "dass der Rechte durch die bohrenden Fragen, für die Jung bekannt ist, bloßgestellt wird". Denn der Jurist Krah habe sich "betont besonnen und fachkundig" gegeben.
Die Jüdische Allgemeine titelte AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht und bezeichnete Jungs Interview als "Tiefpunkt".
Auch dem Spiegel war das Gespräch eine Erwähnung in der "Lage am Abend" wert, just die Aussagen zur Bundeswehr finden Erwähnung ("Deutsche Soldaten sollen nicht für 'schwachsinnige Interessen fremder Mächte eingesetzt werden'."), nicht allerdings die zur Nato.
Und so fordert Nils Minkmar: "Nazis raus" - aus den Rundfunksendungen und Podcasts. "Die mediale Präsenz der Rechtsradikalen in Gesprächssendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" sei mehr oder weniger Sendezeitverschwendung.
Es ist heute Ausdruck einer rührenden Naivität zu glauben, ein gutes Gespräch in einem Fernsehstudio würde ein Gegenüber aus dem rechtsradikalen Spektrum dazu bringen, die ganze Wahrheit über sich zu gestehen und Pläne für die Zukunft zu offenbaren.
Nils Minkmar
"Gigantische Sphäre" der rechten Medien
Es gebe kein Anrecht, in einer Talkshow zu sitzen, meint Minkmar (zur Gegenposition siehe: "Meinungsfreiheit verlangt journalistisches Gehör").
"Die Sphäre der rechten Medien ist heute groß genug, sie ist sogar gigantisch."
Seit Jahren würden Thesen radikaler Rechter diskutiert, "während die Menschen mit Lösungsvorschlägen und optimistischen Einschätzungen kaum vorkommen". Der Rundfunkbeitrag sollte daher "für sinnvolle Themen und kontroverse Gäste ausgegeben werden, die es gut meinen mit diesem Land".
In seinem Text taucht der Begriff "Nazi" übrigens nur zweimal auf, und zwar bei einem Exkurs in den November 1931. Diese Nazis können mit der Überschriften-Parole allerdings nicht gemeint sein.
Wo groß ist die Gefahr?
In einer Entgegnung schreibt RBB-Journalist Jörg Thadeusz:
Nils Minkmar stellt sich Talkshows als einen Stuhlkreis von Leuten vor, denen ein übergeordnetes Lehrerzimmer ein Unbedenklichkeitszertifikat ausgestellt hat.
Jörg Thadeusz: "Wir müssen reden", SZ, 08.05.2024
Er spricht sich zwar für Pluralität in Talkshows aus, geißelt "unhistorische Nazi-Vergleiche" und ein Kanzleramt, in dem man sich "seit den Merkel-Tagen" den Wähler "als stets gefährdeten Untertan" vorstelle, "der sich vor allem einen Gefallen tun kann: die Angela oder den Olaf mal machen lassen".
Und Thadeusz fragt, was eigentlich wäre, wenn die Zuschauer "in überhaupt keine Gefahr gerieten, wenn sie Tino Chrupalla im Fernsehen erleben" oder "Björn Höcke bei Welt TV beobachten"?
Doch wer nun faktisch korrekt gegenwärtig als "Nazi" zu bezeichnen ist und wo eine mögliche Grenze für das Sagbare in Politik-Talks verläuft, klärt er nicht. Weshalb nun wiederum Thadeusz und SZ der Vorwurf einer NS-Verharmlosung entgegenschallt.
Für eine Verständigung scheint der Nazi-Begriff in seiner Unklarheit derzeit wenig geeignet.