Nein, Herr Schroeder, Ostdeutsche sind keine behinderten Tiere!
AfD-Hoch im Osten sorgt für Aufregung. Manche Westdeutsche greifen zu beleidigenden Vergleichen. Ist das noch Satire? Ein Kommentar.
In knapp einer Woche wählt Brandenburg einen neuen Landtag und auch hier könnte die Alternative für Deutschland (AfD) stärkste politische Kraft werden. Aktuelle Prognosen sehen sie bei über 28 Prozent der Stimmen.
Entsprechend groß ist die Aufregung im links-grünen Lager, noch größer das Unverständnis, warum Ostdeutschland mehrheitlich blau wählt. Die AfD sei die Rache Ostdeutschlands, war in den vergangenen Wochen immer wieder zu lesen.
Jakob Augstein meinte in einem Podcast, die Ossis wollten die Westdeutschen mit der Wahl der AfD ärgern. Und der "Satiriker" Florian Schroeder verglich die Ostdeutschen mit behinderten Tieren ("Mondkälbchen") und meinte, dass sie viel zu lange mit Samthandschuhen angefasst worden seien.
Debatte um AfD-Wahlerfolg: Intellektueller Limbo?
Ohne Frage, die Debatte der vergangenen Wochen glich bisweilen einem intellektuellen Limbo. Und wer ihn am Ende gewinnen wird, ist noch unklar – niemand weiß, ob sich nicht noch jemand finden wird, der das Niveau der Debatte noch weiter in Richtung Boden ziehen wird.
Jan Böhmermann hat in der Zeit gut vorgelegt. Alte Gräben müssen zugeschüttet und neue aufgerissen werden, schrieb er. Auf der einen Seite stehen dann die "Menschen von gestern", auf der anderen Seite des Grabens die "Menschen von heute und morgen".
Und wie ein Hohepriester bestimmt er, wer zu den Auserwählten gehört: Alle, die seinem Programm folgen. Gendern ist also toll, aber Sahra Wagenknecht ist autokratisch. Man muss anerkennen, dass es mehr als zwei Geschlechter und unendlich viele Geschlechtsidentitäten gibt oder dass Russland besiegt werden muss. Für Abweichler wird es aber "ganz finster".
Im Spiegel folgte Florian Schroeder, der auch beim Limbo ein würdiger Anwärter auf das Siegertreppchen ist. Es sei jetzt notwendig, etwas Wählerbeschimpfung zu betreiben, meint er. Als wenn Ostdeutsche das nicht kennen würden: Ostbeauftragte der Bundesregierung haben sich damit nicht zurückgehalten, auch ein ehemaliger Bundespräsident hat sich damit seine Lorbeeren verdient. Ganz zu schweigen von den westdeutschen Intellektuellen, die nach der sogenannten Wiedervereinigung ihre Unwissenheit über die verblichene DDR im Rundfunk zur Schau stellten.
Schroeder wärmt jetzt ziemlich alle Klischees über Ostdeutsche wieder auf, die in den vergangenen 34 Jahren – vornehmlich von Westdeutschen – verbreitet wurden. Demnach müssen die Ostdeutschen ein wenig dumm sein, weil ja die gebildeten Frauen und Männer abgewandert sind. Zurückgeblieben sind frustrierte Männer, die keine Frau bekommen und deshalb nach Sündenböcken suchen.
Lesen Sie auch
Von Stasi bis AfD: Die unvergänglichen Klischees über Ostdeutschland
311.000.000 Texte analysiert: So blickt unsere Presse auf Ostdeutschland
Journalistische Voreinstellungen: Gefühlte Fakten beim Blick auf Ostdeutschland
Chipkrise bei Intel: Magdeburger Fabrikbau um zwei Jahre verschoben
Historikerin zur AfD: Glaubwürdige konservative Alternative könnte Aufstieg stoppen
Wer die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wählt, sei offenbar mit der Freiheit überfordert, so Schroeder. Und man solle sich nicht anstrengen, sie zurückgewinnen zu wollen, sondern sich um die anderen kümmern. Außerdem könnten ja AfD- und BSW-Wähler nach Russland oder Ungarn auswandern.
AfD-Wählerschaft: Mehrheit in Westdeutschland
Täten sie dies, dann hätten aber auch die westdeutschen Bundesländer ein gewaltiges Problem. Schließlich lebt der Großteil der AfD-Wählerschaft in Westdeutschland. Bei der Bundestagswahl im Jahr 2021 erhielt die AfD fast 64 Prozent ihrer Zweitstimmen in den alten Bundesländern, Westberlin nicht mitgerechnet.
Ein ähnliches Bild zeigte sich bei der Wahl zum EU-Parlament in diesem Jahr. In allen westdeutschen Bundesländern gaben mehr Menschen der AfD ihre Stimme als zur Bundestagswahl 2021 oder zur EU-Wahl 2019. In Westdeutschland (außer West-Berlin) konnte die AfD rund 66 Prozent ihrer Stimmen einsammeln.
Sind die gebildeten Menschen auch aus Westdeutschland abgewandert – und wohin? Kommen auch in Westdeutschland immer weniger Menschen mit der Freiheit klar? Warum legt man ihnen nicht nahe, nach Russland oder Ungarn umzusiedeln? Und sollte man ihnen gegenüber auch die Samthandschuhe ausziehen?
Diese Fragen können vermutlich verneint werden. Westdeutsche würden mit Sicherheit auch nicht mit behinderten Tieren verglichen werden. Und das sollte uns eher zu denken geben: Warum sind manche "Satiriker", Politiker und Journalisten auch nach 34 Jahren nicht in einem geeinten Land angekommen?