Nepal: Wochen der Wahrheit

Mark Engeler

Kathmandus Durbar Square im zweiten Lockdown. Bild: Mark Engeler

Nichts bringt die wahren Strukturen besser ans Licht als eine Krise. Diese Erfahrung macht man in Nepal innerhalb weniger Jahre gerade mit Corona zum zweiten Mal

Als am 25. April 2015 im Himalaya die Erde mit einer Stärke von 7,8 erbebte und nur 17 Tage später erneut mit 7,3, waren politische Führung und Regierung nicht in der Lage, ihren Bürgern nur im Geringsten beizustehen. Im Gegenteil, sie schienen wie die morschen Tempel zu kollabieren.

Verschärft wurde die Situation wenige Monate später durch einen diplomatischen Streit mit Indien, in dessen Folge das Binnenland, zum Teil selbst verschuldet, ein halbes Jahr wirtschaftlich blockiert wurde. Ein Großteil der Bevölkerung vor allem in den Städten lebte zu der Zeit wegen der Nachbeben in Behelfsunterkünften und unter schwierigsten Umständen. Wie viele zusätzliche Opfer zuerst Regierungsversagen und später politische Unfähigkeit forderten, wird wie eigentlich immer in Nepal nie in konkrete Zahlen gefasst werden können.

Doch hieß auch damals zumindest zeitweise der Premierminister Khadga Prasad (KP) Sharma Oli und eigentlich hätten diese Ereignisse Reformen anstoßen müssen, die Gesellschaft und Politik endlich grundlegend verändern. Diese Annahme, das darf vorweggenommen werden, erwies sich als falsch.

Die erste Welle

Die erste Covid-Welle überstand das Land ziemlich schadlos, 260.000 Infektionen und knapp 1.900 Tote bis zum 31.12.2020 bei einer Bevölkerung von ungefähr 30 Millionen sind relativ betrachtet ein Erfolg und scheinen ein Beleg für gute Regierungsarbeit zu sein. Nur sind die Zahlen mit größter Vorsicht zu genießen, eine vielfach höhere Dunkelziffer ist wahrscheinlich.

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Kathmandus Hauptgeschäftsstraße "New Road" im 2. Lockdown. Bild: Mark Engeler

Landesweit reichen die Testkapazitäten bis heute nicht aus, und als man in den urbanen Zentren die Infrastruktur geschaffen hatte, war die erste Welle verebbt. In den ländlichen Gegenden gingen Menschen mit Covid-Symptomen kategorisch nicht zum Testen, entweder gab es die Möglichkeit nicht oder aus Angst vor negativen soziale Folgen.

Ärzte, die offensichtliche Corona-Fälle unter ihren Patienten hatten, meldeten diese nicht den Behörden. Der im März 2020 am selben Tag wie in Indien verhängte Lockdown war wie beim großen Nachbar kaum aufrechtzuerhalten und überaus löchrig. Auch in Nepal hat die Mehrheit der Menschen nicht die Reserven, ohne staatliche Unterstützung monatelang untätig daheim zu sitzen.

Ebenso war und ist es unmöglich, die Grenzen zu Indien zu schließen, praktisch alles, was man in Kathmandu und im Rest des Landes benötigt, kommt per LKW aus dem Nachbarland, vor allem auch ein großer Teil der Grundnahrungsmittel.

Die Pandemie gebändigt hat vor allem ein Umstand: Das geringe Durchschnittsalter von 24 Jahren. Für die meisten Nepalis war die erste Form von Covid keine Gefahr und in der Regel verlief eine Infektion unbemerkt. Trotzdem war im April und Mai 2020 die Infrastruktur überstrapaziert. In Kathmandu und anderen Großstädten waren alle Klinikbetten belegt. Weitere Kranke und Verdachtsfälle wurden weder getestet noch behandelt.

Die zweite Welle

Auf die zweite Covid-Welle starrte man in Kathmandu wie das Karnickel auf die Kobra. Zu 100 Prozent war klar, dass das, was sich in Indien seit März 2021 anbahnte, nur wenig zeitlich verzögert auf eigenem Boden geschehen würde. Man war tatsächlich vorgewarnt, man hatte ein paar Wochen mehr Zeit, um Vorkehrungen zu treffen. Doch geschlossen wurden nur die Schulen vom 30. März bis 2. April … nicht etwa zur Corona-Prävention, sondern wegen der Luftverschmutzung, die Kathmandu kurzzeitig den Titel "Stadt mit der schlechtesten Luft weltweit" einbrachte.

Diese Gesundheitsgefährdung besteht parallel weiter. Mit dem zweiten Covid-Lockdown wartete man bis zum 29. April, zu diesem Zeitpunkt war das Drama in Indien schon voll im Gange. Es war wieder einmal zu spät.

Die zweite Welle auf dem indischen Subkontinent dauert an und vermutlich wird es aus Mangel an belastbaren Zahlen, durch aktiven staatlichen Boykott oder Vernachlässigung und allgemeiner Kopf-in-den-Sand-stecken-Mentalität wie bei der ersten Welle nicht möglich sein, wissenschaftlich und eindeutig festzustellen, was überhaupt auf dem Boden der Tatsachen vor sich geht (dieses Problem ist allerdings global).

Doch im Falle Nepals ist eindeutig, dass die Letalität der zweiten Welle nicht allein auf die Aggressivität von B.1.617 zurückgeht, sondern humane - politische - Ursachen besitzt. Denn der Staat, der wichtigste gesellschaftliche Akteur in Krisenzeiten, fällt völlig aus.

Von einer politischen Krise zur nächsten

Premierminister Oli, seit 15. Februar 2018 zum zweiten Mal nach 2015/16 an der Macht, steuerte sein Land mit mehr Glück als Verstand durch die erste Welle. Gegen Ende letzten Jahres nahmen die Konflikte in seiner Partei, der NCP(Nepal Communist Party), erheblich zu. Die NCP war erst anlässlich der Wahlen im Herbst 2017 entstanden, als Fusion aus CPN-UML (Nepal Communist Party, Unified Marxist-Leninist, der Partei Olis) und dem früheren Erzrivalen CPN-MC (Nepal Communist Party, Maoist Centre), den Maoisten, der Partei von Pushpa Kamal Dahal aka Prachanda.

Die NCP hatte die bisher größte Mehrheit im Parlament, über die je eine demokratisch gewählte Regierung verfügte: mehr als 2/3 der Sitze. Nichtsdestotrotz sah sich Premierminister Oli am 20. Dezember zu einem ungewöhnlichen, und wie sich später zeigte, verfassungsfeindlichen Schritt genötigt.

Er löste "sein" eigenes Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Seit diesem Tag ist die Politik, die sowieso zum Großteil mit sich selbst beschäftigt ist, für die Bürger nicht mehr ansprechbar und fällt als Akteur und Krisenmanager aus. Am 23. Februar erklärte das Oberste Gericht Olis Auflösung für verfassungswidrig und setzte das Parlament wieder ein.

Im Normalfall führt ein solches Urteil zum Rücktritt von Premierminister und des Präsidenten, der die Gesetzesvorlage unterzeichnet. In Kathmandu sahen sich weder Premierminister Oli noch die mit ihm verbündete Präsidentin Bidyha Devi Bhandari dazu verpflichtet. Am gleichen Tag erklärte das Oberste Gericht die Fusion von CPN-UML und CPN-MC für illegal (es ist nicht einfach nachzuvollziehen, wie das veranlasst werden konnte) und trennte die NCP in ihre beiden früheren Parteien auf.

Turbo-Intrigantenstadel

Seit dem 23. Februar versucht das wiedereingesetzte Parlament, die Regierung Olis zu stürzen, und es gelingt nicht. Rechnerisch sollte sie dazu theoretisch die Möglichkeit haben, weil nun die Maoisten unter ihrem Vorsitzenden Prachanda und eine Dissidentengruppe innerhalb der UML zu ihr gehören. Jedoch ist Oli über das ganze Parteienspektrum hinweg so gut vernetzt, dass sich bei Abstimmungen praktisch in allen Parteien Fraktionen für und gegen ihn bilden.

Dies verleitete ihn zu einem ganz ungewöhnlichen Manöver: Um seine Gegenspieler bis auf die Knochen zu blamieren, stellte er am 10. Mai im Parlament die Vertrauensfrage und bewerkstelligte seine eigene Niederlage. Nur um drei Tage später - verfassungsgemäß - von der Präsidentin wieder zum Premierminister berufen zu werden, weil seine UML nach wie vor die stärkste Partei ist.

Es könnte jedoch ein böses Nachspiel geben. Oli muss nun bis zum 14. Juni ein zweites Mal die Vertrauensfrage stellen. DAFÜR bekommt er wahrscheinlich so wenig die Mehrheit wie am 10. Mai. Fällt er durch, bleiben als einziger verfassungsrechtlicher Weg nur Neuwahlen. Genau dieses Ziel verfolgt er seit Ende Dezember. Wie aber Wahlen unter Lockdown und Covid-Bedingungen aussehen sollen, kann sich niemand vorstellen.

Dank dieser Verwicklungen hat die politische Klasse seit annähernd drei Monaten den Rest des Landes aus den Augen verloren und kaum im Vorbeigehen registriert, was sich in Indien zusammenbraut. Nur dies erklärt absurde Maßnahmen wie die Schließung der Schulen für vier Tage Ende März, Anfang April "zum Schutz der Augen und Atemwege von Kindern und Jugendlichen".

Die Verwaltung ist paralysiert und konnte den kleinen Zeitvorsprung nicht nutzen. Nun fehlt es auch in Nepal an Flaschensauerstoff und weiteren einfachsten Hilfsmitteln. In Kathmandu und vielen anderen Städten nehmen die Hospitäler keine weiteren Patienten mehr auf. Es ist ein Desaster mit Ansage und wieder erwischt es den Staat auf dem falschen Fuß.

Die Wurzeln des Übels

Weder Politik noch Gesellschaft haben aus der Misere nach dem Doppelerdbeben 2015 gelernt, was sich jetzt abspielt, ist ein schmerzliches Déjà-vu.

Die intellektuelle Elite hat ihr Urteil über Oli längst gefällt und seit seiner gescheiterten Parlamentsauflösung letzten Dezember gibt es in der ganzen Medienlandschaft kaum noch jemanden, der für ihn spricht. Aber ihm allein die Schuld für dieses Komplettversagen anzuhängen wäre für einen Politiker fast zu viel der Ehre. Soviel Schaden kann auch Oli nicht anrichten, selbst wenn er es wollte.

Es genügt jedoch nicht, allein die politische Klasse verantwortlich zu machen, schließlich fallen auch in Kathmandu die Politiker nicht vom Himmel. Das Land war zwar lange eine Monarchie und zeitweise auch eine Diktatur, doch seit 2008 geht zumindest theoretisch alles seinen verfassungsgemäßen Gang. Oli wurde demokratisch und legal vom Volk zum Premierminister des Landes gewählt.

Das ist der wunde Punkt: Warum sieht ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in ihm und seiner UML ihre besten Interessenvertreter? Warum wird er im Herbst 2017 mit großer Mehrheit gewählt, obwohl er es war, der genau zwei Jahre zuvor die verheerende Wirtschaftsblockade durch Indien mitzuverantworten hatte?

Die überwiegende Mehrheit hat schon lange vor Covid resigniert und glaubt nicht mehr an die Reformierbarkeit der Politikerklasse, ob sie nun demokratisch, monarchistisch, kommunistisch, egal welcher Couleur sind.

Die Belange des einfachen Mannes erscheinen kaum auf deren Schirm, daran wird sich nach Meinung vieler bis auf Jahrzehnte nichts ändern. Wenn jemand in die Politik einsteigt, dann nur, um sich zu bereichern. Für viele ist der Staat, der 1768 als feudales Königreich gegründet wurde, trotz unzähliger Systemwechsel der gleiche geblieben.

Solche Analysen treffen im Prinzip die Zehn. Der darin enthaltene Fatalismus ist jedoch selber ein Problem - und eine Ursache für die momentanen Zustände. In Nepal hat sich sozial und ökonomisch seit seiner Öffnung 1950 noch viel mehr geändert als anderorts. Solange die ganze Bevölkerung aus Subsistenzbauern bestand, war es gleichgültig, was die Elite trieb.

Viele Bauern kannten diese nicht einmal als Steuereintreiber. Doch die Gesellschaft ist komplex und arbeitsteilig geworden. So normal es vor 70 Jahren war, in einem abgelegenen Tal ein paar Felder für die eigene Familie zu beackern und die Erträge selber zu verzehren, so normal ist nun ein langjähriger Arbeitsaufenthalt im Ausland, dessen Erträge an die Familie zuhause überwiesen werden. So verständlich und unausweichlich das fahrlässige und inkompetente Agieren der Politiker sein mag, Land und Gesellschaft können sich das nicht mehr leisten.

In guten Zeiten mag es funktionieren, wenn Bevölkerung und Regierung sozusagen getrennte Wege gehen. Bei Erschütterungen fällt das Kartenhaus in sich zusammen, ganz zu schweigen bei Katastrophen wie 2015 und der zweiten Welle von Covid. De facto besitzt das Land momentan keinen Staat.

Wochen der Wahrheit … womöglich

In Nepal fielen seit März 2020 ungefähr 4.500 Menschen der Covid-Pandemie zum Opfer. Auch das ist eine relativ geringe Zahl, wenn auch die Dunkelziffer vielfach höher ist und nicht absehbar, wie sich die Pandemie entwickelt. Das niedrige Durchschnittsalter wird wohl wieder die Bevölkerung vor dem Schlimmsten bewahren.

Die wirtschaftlichen Folgen werden sehr wahrscheinlich deutlich schmerzlicher als während der ersten Welle. Das Land braucht dringend äußere Hilfe bei der Fortführung der Impfkampagne. Deren Beginn war eigentlich vielversprechend, sie flaute jedoch ab.

Niemand kann dem Land dabei helfen, endlich die Regierung auf Vordermann zu bringen, das ist die Pflicht jedes verantwortungsbewussten Bürgers. In der Politik ist es unbedingt Zeit für einen Generationenwechsel.

Khadga Prasad Sharma Oli war 1969 Anführer des sogenannten "Jhapa Aufstands" im Südosten des Landes, der mit Enthauptungen von Großgrundbesitzern in Erscheinung trat, so wie kurz davor die Naxaliten im unmittelbar benachbarten indischen West-Bengalen. Wie viele kommunistische Anführer in anderen Ländern hat er seine Ansichten und Meinungen seit damals kaum geändert.

Mittlerweile missbilligt er selbst große Teile des offiziellen Programms seiner eigenen Partei! Er ist gegen Föderalismus und die Emanzipation der Terai-Bewohner. Er sieht die Welt noch immer wie der Dschungelkämpfer, der er vor über 50 Jahren war. Solches Führungspersonal hat ausgedient.

Der Autor befindet sich Mitte Februar 2021 in Nepal.