Netanjahu hat den Gaza-Krieg bereits verloren, aber wird er nachgeben?
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Bild: Jolanda Flubacher / CC BY-NC-SA 2.0 Deed
Israels Regierung ist in der ZwickmĂŒhle. Auf die Forderungen der Hamas möchte sie nicht eingehen, eine Invasion fĂŒhrt ins Nichts. Ein Gastbeitrag zum militĂ€risch-politischen Machtkampf um Gaza.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hatte sich oft damit gebrĂŒstet, dass seine Armee bereit sei, alle Bedrohungen fĂŒr Israels "Sicherheit" zu bewĂ€ltigen und zu beseitigen.
Auch das israelische MilitĂ€r hat zur israelischen Hasbara [Ăffentlichkeitsarbeit Israels im Ausland] beigetragen, dass Tel Aviv in der Lage wĂ€re, mehreren Bedrohungen an allen Fronten zu begegnen, vom Gazastreifen ĂŒber das Westjordanland bis hin zum Libanon und Syrien.
Doch der Angriff der Hamas auf zahlreiche israelische Ziele am Samstag um genau sechs Uhr morgens Ortszeit in PalĂ€stina hat ihn auf ganzer Linie und entwĂŒrdigend eines Besseren belehrt. Weder Netanjahu noch seine Armee waren tatsĂ€chlich in der Lage, sich einer einzigen palĂ€stinensischen Gruppe entgegenzustellen, die allein und unter Belagerung operierte.
Es wird einige Zeit dauern, bis all das bei den politisch Verantwortlichen in Israel, den MilitÀrs, Medien und der Gesellschaft ankommt. GegenwÀrtig versucht Netanjahu jedoch verzweifelt zu zeigen, dass Israel weiterhin ein mÀchtiges Land und eine regionale Macht ist, die den oft gepriesenen Status einer "unbesiegbaren" Armee verdient.
Aber alle seine Optionen sind nahezu unmöglich.
Es ist offensichtlich, dass die Hamas und spĂ€ter der Islamische Dschihad daran interessiert gewesen sind, so viele Israelis â sowohl Soldaten als auch Siedler â wie möglich gefangenzunehmen.
Das bedeutet, eine neue Verteidigungslinie zu schaffen, die die israelische militĂ€rische Reaktion einschrĂ€nken und Israel schlieĂlich zu Verhandlungen zwingen wĂŒrde.
Doch was der palĂ€stinensische Widerstand von Netanjahu will, ist ein zu hoher Preis fĂŒr den umstrittenen Premierminister.
Eine ErklĂ€rung nach der anderen, angefangen mit der des obersten Befehlshabers der Kassam-Brigaden, Mohammed Deif, gefolgt von Ismail Haniyya, dem Chef des politischen BĂŒros der Hamas, und spĂ€ter von Ziad al-Nakhla vom Islamischen Dschihad, zeigt, dass die palĂ€stinensischen Forderungen sowohl klar als auch prĂ€zise sind: die Freilassung aller Gefangenen, die Achtung der Unantastbarkeit der heiligen StĂ€tten der PalĂ€stinenser in Jerusalem, die Beendigung der Belagerung des Gazastreifens und mehr.
Oder auch nicht.
Diese Forderungen sind zwar vernĂŒnftig, aber fĂŒr Netanjahu und seine rechtsextreme Regierung fast unmöglich zu erfĂŒllen. Wenn er nachgibt, wird seine Regierung schnell zusammenbrechen und die israelische Politik erneut ins Trudeln bringen.
Dieser Zusammenbruch scheint so oder so unmittelbar bevorzustehen.
Was kÀme nach einer Gaza-Eroberung?
Der extremistische Minister fĂŒr nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir ist fast vollstĂ€ndig von der politischen BĂŒhne verschwunden. Das ist eine wichtige Entwicklung.
Eine der Errungenschaften des Widerstands im Gazastreifen ist die Marginalisierung solcher notorischen Politiker, die ungestraft gegen unbewaffnete palÀstinensische Zivilisten in Jerusalem, in der Al-Aqsa-Moschee und sogar in den zahlreichen israelischen GefÀngnissen vorgegangen sind.
Doch eine neue Koalition in Israel wĂŒrde Netanjahus Mission noch mehr erschweren. Das Kabinett hat bereits den Kriegszustand erklĂ€rt, und potenzielle neue Minister wollen, dass Netanjahu sich verpflichtet, diese KriegserklĂ€rung mit der Vernichtung der Hamas zu verbinden. FĂŒr immer.
Sie sagen, dass es der erste echte Gaza-Krieg sei. Sie wollen, dass es der letzte ist.
Aber wenn Netanjahu weiterhin Zivilisten im Gazastreifen durch Luftangriffe und Granatenbeschuss tötet, wie er und andere israelische FĂŒhrer es bei frĂŒheren MilitĂ€roperationen getan haben, wird weder die Hamas noch irgendeine andere Gruppe beseitigt werden.
Der palĂ€stinensische Widerstand ist keineswegs bereit, sich als leichtes Ziel fĂŒr israelische Kampfflugzeuge, Drohnen und ScharfschĂŒtzen zu prĂ€sentieren. Ihre Operationen finden fast ausschlieĂlich im Untergrund statt.
Daraus folgt, dass die Zerschlagung des Widerstands eine massive Landinvasion erfordern wĂŒrde.
Der Widerstand hat nicht nur alle Szenarien, einschlieĂlich der Landinvasion, eingeplant. Man weiĂ, dass eine Invasion des Gazastreifens mit Sicherheit zu Tausenden von israelischen Toten fĂŒhren wird, ganz zu schweigen von den Zehntausenden palĂ€stinensischen Toten.
AuĂerdem haben sich israelische Soldaten als unfĂ€hig erwiesen, KĂ€mpfe am Boden zu fĂŒhren. Die Hamas hat das in den letzten Tagen bewiesen, ebenso wie die Hisbollah im Libanon im Jahr 2000 und erneut 2006.
Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass Israel in der Lage sein wird, eine solche Invasion durchzufĂŒhren, was wird man dann tun, wenn der Gazastreifen erobert ist?
Im Jahr 2005 musste die israelische Armee aufgrund des heftigen Widerstands im gesamten Gazastreifen fliehen. Sie evakuierte ihre Truppen und verlegte schnell ihren Standort, wobei sie den Gazastreifen aus allen Richtungen einkreiste, was zu der bekannten Belagerung von heute gefĂŒhrt hat.
Damals war der Widerstand viel schwÀcher, weniger organisiert und weit weniger bewaffnet als heute.
Wenn Israel wieder die Kontrolle ĂŒber den Gazastreifen ĂŒbernimmt, wird es tĂ€glich und möglicherweise noch jahrelang gegen denselben palĂ€stinensischen Widerstand kĂ€mpfen mĂŒssen.
Es ist unklar, welche Richtung Netanjahu einschlagen wird. Aber so oder so, was auch immer in den kommenden Tagen und Wochen geschehen wird, Israel hat den Krieg in vielerlei Hinsicht verloren.
Lassen Sie das auf sich wirken.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Dort findet er sich im englischen Original [1]. Ăbersetzung: David GoeĂmann [2].
Ramzy Baroud ist Journalist und Herausgeber der Palestine Chronicle. Er ist der Autor von fĂŒnf BĂŒchern. Sein neuestes ist "These Chains Will Be Broken: Palestinian Stories of Struggle and Defiance in Israeli Prisons" [3]. Baroud ist Non-Resident Senior Research Fellow am Center for Islam and Global Affairs (CIGA) der Istanbul Zaim University (IZU). Seine Homepage ist: www.ramzybaroud.net [4].
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9330921
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.commondreams.org/opinion/netanyahu-has-lost-gaza-war
[2] https://www.telepolis.de/autoren/?autor=David+Goe%C3%9Fmann%2C+Amy+Goodman
[3] https://www.amazon.com/These-Chains-Will-Broken-Palestinian/dp/1949762092
[4] https://www.amazon.com/These-Chains-Will-Broken-Palestinian/dp/1949762092
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