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Netanjahus Spiel mit dem Feuer

Oliver Eberhardt

Benjamin Netanjahu, Archivbild (2015): Büro des Premierministers/Foreign and Commonwealth Office/OGL v1.0

In Israel sitzen jetzt Rechtsextreme in der Regierung und sorgen im In- und Ausland für Unruhe. Befürchtet werden Repressionen nicht nur gegen die palästinensische Bevölkerung.

Die befürchteten Ausschreitungen blieben erst einmal aus, doch Aufruhr herrscht trotzdem: Schon wenige Stunden, nachdem Itamar Ben Gvir am Dienstag unter massivem Polizeischutz den Haram al Scharif /Tempelberg in Ost-Jerusalem besucht hatte, ging bei den Vereinten Nationen in New York die Forderung nach einer Sondersitzung des Sicherheitsrats [1] ein.

Die Antragsteller: China. Und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Die UNO-Vertretungen der beiden Staaten leiteten zwar nur formal die Anträge Jordaniens und der Palästinensischen Autonomie-Regierung weiter.

Doch dass sich ausgerechnet die Regierung der VAE als Mittlerin bereitfand, dass Jordanien eine Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrats beantragt, ist ein Signal, das im israelischen Außenministerium große Sorgen hervorrief.

Jahrelang hatte man dort auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Golfstaat hingearbeitet; erst im November wurde ein umfassendes Wirtschaftsabkommen unterzeichnet. Noch viel länger hatte man die 1994 offiziell aufgenommenen Beziehungen zum Nachbarland Jordanien gepflegt [2].

Nun steht man vor einem Scherbenhaufen, der von Tag zu Tag größer zu werden droht. Regierungschef Benjamin Netanjahu, erst seit wenigen Tagen im Amt, musste kurzfristig eine für die kommende Woche geplante Reise in die VAE absagen. Denn Ben Gvir ist nicht nur irgendein Politiker. Er gehört dem Parteienbündnis "Religiöse Zionisten" an, das mindestens rechtsextrem ist.

Das Parteienbündnis "Religiöse Zionisten"

Die Funktionäre treten für eine Annektierung der palästinensischen Gebiete, einen massiven Siedlungsbau, gegen Frauen- und Schwulenrechte, für einen stärkeren Einfluss der Regierung auf die Medien, ein. Viele von ihnen fielen in den vergangenen Jahrzehnten mit rassistischen Aussagen und Hassreden gegen Araber und Schwule auf.

Ben Gvir selbst ist von Haus aus Anwalt, der selbst Dutzende Male wegen Aufstachelung zum Hass angezeigt und mindestens einmal verurteilt wurde. Auf der Liste seiner Mandanten stehen nahezu ausschließlich jüdische Israelis, die wegen Gewalttaten gegen Araber angeklagt sind.

2014 verteidigte er einen der Männer, die laut Anklage einen 16-jährigen arabischen Jugendlichen misshandelt und angezündet hatten. 2015 wurde er Verteidiger eines Mannes, der im palästinensischen Duma das Haus einer Familie in Brand gesteckt haben soll.

Drei Menschen starben; die Angeklagten wurden verurteilt. Und jedes Mal ließ Ben Gvir keinen Zweifel daran, dass er nicht aktiv wurde, weil jeder Angeklagte das Recht auf Verteidigung hat, sondern weil er das aus Überzeugung macht.

Bei der Parlamentswahl am 01. November vergangenen Jahres errang sein Parteienbündnis 14 der 120 Sitze, trat in Koalitionsverhandlungen mit dem Likud des bis Juni 2021 mehr als zehn Jahre lang als Regierungschef amtierenden Benjamin Netanjahu und den beiden ultra-orthodoxen Parteien ein.

Er bekam von Netanjahu so ziemlich jeden Wunsch erfüllt. In den Ministerien für Verteidigung und innere Sicherheit wurde ein kaum durchschaubares Konstrukt aus teilweise völlig eigenständigen Parteien geschaffen.

Ben Gvir: Ausgeweitete Befugnisse für Polizei und Einsatzkräfte

Und Ben Gvir wurde Polizeiminister mit ausgeweiteten Befugnissen nicht nur über die Polizei im Staatsgebiet, sondern auch über die Einsatzkräfte in den besetzten Gebieten.

Eine seiner ersten Amtshandlungen: der Besuch auf dem Haram al Scharif / Tempelberg, der sowohl Juden als auch Muslimen heilig ist, und zu den komplexesten Gebieten im israelisch-palästinensischen Konflikt gehört.

Nach internationalem Recht ist Ost-Jerusalem, dessen Wahrzeichen die goldene Kuppel des Felsendoms ist, durch Israel besetzt. Anfang der 1980er-Jahre wurde der arabische Teil der Stadt einseitig annektiert. Verwaltet wird die Anlage durch Jordanien, das sich als eine Art Schutzmacht versteht.

In den vergangenen Jahrzehnten kam es immer wieder zu schweren Ausschreitungen zwischen der israelischen Polizei und der arabischen Bevölkerung, bei denen mehrere Hundert Menschen getötet wurden, von denen die weitaus meisten arabische Zivilisten waren.

Auslöser waren unter anderem der Bau eines Tunnels unter der Anlage Ende der 1990er-Jahre, oder der Einbau von Metalldetektoren. Und auch der Besuch von nationalistischen Israelis sorgt immer wieder für Konfrontationen.

Denn dabei geht es vor allem darum, Hoheitsansprüche zu signalisieren; ultraorthodoxe Juden indes betrachten den Aufenthalt in der Anlage als nach jüdischem Recht verboten.

Auch Ben Gvir ließ keinen Zweifel daran, dass er den Gang durch die Anlage vor allem als Provokation verstanden wissen will. Und: Dass er sich von niemandem reinreden lässt, auch nicht von Netanjahu, der ohne seine 14 Abgeordnete keine Mehrheit im Parlament hätte bilden können. Denn Netanjahu steht seit längerem wegen Korruption vor Gericht; außer seinen aktuellen Partnern haben alle Fraktionen im Parlament eine Koalition mit ihm ausgeschlossen.

Doch was er für die Rückkehr an die Macht zu geben bereit war, hat selbst jene erstaunt, die ihn schon sehr lange kennen – ebenso sehr wie, dass die Abgeordneten in seiner Fraktion dabei mitmachen. Denn dass nun rechtsextreme Politiker mit einer langen Historie der Hetze und Aufstachelung auf Schlüsselpositionen mit enormen Einfluss auf Polizei, Militär und Bildung sitzen, lässt viele das Schlimmste befürchten.

Die Vorhaben der neuen Regierung

Unternehmen, Kommunalverwaltungen, Organisationen, Militärs, Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft üben seit Wochen massive Kritik an der neuen Regierung, während Netanjahu besänftigt: Er werde schon dafür sorgen, dass die Befürchtungen nicht eintreffen.

Doch die tatsächlichen Entwicklungen sprechen dagegen. In den kommenden Wochen sollen, so die Vereinbarung mit den "Religiösen Zionisten" ohne Genehmigung gebaute Siedlungen in den besetzten Gebieten an das Strom- und Wassernetz angeschlossen werden; außerdem will man zwei Siedlungen im Norden des Westjordanlands wieder aufbauen, die 2005 von der Regierung Ariel Scharons geräumt wurden.

Die ganz große Sorge ist, dass die neue Regierung unter dem Druck der Ultra-Rechten einen Krieg im Gaza-Streifen oder gegen den Iran losbricht. Und dass der dann sehr viel härter geführt werden könnte, als das, was bisher da war.

Furcht vor Repressionen gegen Palästinenser und Schwule und Lesben

Befürchtet wird aber auch, dass die Repressionen gegen die palästinensische Bevölkerung und gegen Schwule und Lesben in Israel selbst zunehmen könnten. So will es die neue Regierung Unternehmen und medizinischen Versorgern erlauben, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren.

In den kommenden Tagen wird sich nun zunächst einmal der UNO-Sicherheitsrat mit Ben Gvirs Besuch auf dem Haram al Scharif / Tempelberg befassen. Mit einer Resolution wird nicht gerechnet; vielleicht könnte eine Pressemitteilung draus werden. Denn so wirklich viel Engagement dagegen ist nirgendwo zu erkennen.

Die US-Regierung, bislang eine der besten Partnerinnen Israels auf der internationalen Bühne ist längst auf Distanz gegangen, ebenso wie die alten und neuen Verbündeten in der Region. Auch im israelischen Außenministerium ist die Gegenwehr eher gering.

Dem Vernehmen nach versucht man dort zwar zu verhindern, dass es überhaupt zur Sondersitzung kommt. Doch die Begründung ist eher dünn: Mitte Januar sei doch eine reguläre Sitzung des Sicherheitsrats geplant [3], da könne sich doch jeder zu Wort melden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7448973

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.timesofisrael.com/un-security-council-slated-to-meet-on-widely-decried-temple-mount-visit-by-ben-gvir/
[2] https://edition.cnn.com/2023/01/04/middleeast/israel-uae-ben-gvir-mime-intl/index.html
[3] https://www.jpost.com/israel-news/article-726616