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Neue Ermittlungen zu toter NSU-Zeugin

Grafik: TP

In Baden-Württemberg sind Behörden und der Untersuchungsausschuss nach wie vor mit dem Polizistenmord von Heilbronn befasst - Streifenwagen vor dem Anschlag in Tatortnähe?

Wurde eine Zeugin bedroht, weil sie im Untersuchungsausschuss von Baden-Württemberg Aussagen gemacht hat? Und wenn ja von wem? Dieser Frage geht seit kurzem die Kriminalpolizei Karlsruhe, Abteilung Staatsschutz, nach. Das Brisante: Die Zeugin, die 20 Jahre junge Melisa M., starb nur wenige Wochen nach ihrem Auftritt vor dem NSU-Ausschuss in Stuttgart an einer Lungenembolie.

Der Todesfall hatte sich bereits im März 2015 ereignet. In einer Fernsehdokumentation vom April 2017 wurde er zusammen mit weiteren unnatürlichen Todesfällen im Kontext NSU thematisiert. Dabei berichtete der Nachbar der Toten von Bedrohungen Melisas durch SMS-Nachrichten, die aus dem Ausland gekommen sein sollen.

Gegen Unbekannt

Das neue Ermittlungsverfahren wurde wegen Bedrohung einer Zeugin (Melisa M.) eingeleitet und richtet sich gegen Unbekannt. Es soll vom Innenministerium veranlasst worden sein und auf eine Initiative des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Stuttgart vom September 2017 zurückgehen. Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) bestätigte das in der öffentlichen Presserunde am Ende der letzten Ausschusssitzung, wenn auch erst auf Nachfrage. Zunächst hatte er erklärt, davon nichts zu wissen.

Drexler hatte die TV-Dokumentation über den Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, Titel: "Tod einer Polizistin", kurz nach Ausstrahlung in der ARD vehement angegriffen und erklärt, alle Todesfälle von Zeugen seien "mit größtmöglichem Aufwand aufgeklärt" und der "Verdacht von Fremdverschulden jeweils plausibel ausgeräumt" worden. Das sehe er immer noch so, sagte Drexler, es gehe jetzt darum, den möglichen Bedrohungen einer Zeugin nachzugehen.

Im März noch abgelehnt

Im März 2015 hatte der Untersuchungsausschuss es noch abgelehnt, dem Tod der Zeugin Melisa M. nachzugehen, weil das, so wörtlich, nicht vom Untersuchungsauftrag gedeckt sei.

Mit dem Tod von Melisa M. hängen unmittelbar zwei weitere Todesfälle zusammen. Die junge Frau war die Freundin des Neonazi-Aussteigers Florian H., der 21-jährig im September 2013 in seinem Auto verbrannte, wenige Stunden bevor er vom Landeskriminalamt (LKA) zum Thema NSU befragt werden sollte. Florian hatte gegenüber seiner Familie und Freunden angegeben, er wisse, wer die Polizistin Michèle Kiesewetter ermordet habe, allerdings nicht Böhnhardt und Mundlos. Und auf der Anklagebank in München säßen, was den Polizistenmord angehe, die Falschen.

Nicht einmal ein Jahr nach Melisa starb, im Februar 2016, ihr Lebensgefährte Sascha W., 31 Jahre alt. Er soll sich umgebracht haben. Sascha hatte Melisa zur Zeugenaussage vor dem Untersuchungsausschuss, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, begleitet und selber ein paar Angaben zur Neonazi-Szene im Raum Heilbronn - Eppingen gemacht. (vgl. Nächster Todesfall im NSU-Komplex [1]).

Von Sascha will der Nachbar auch über die Bedrohungen Melisas erfahren haben.

Zu konkreten Ermittlungsschritten macht die zuständige Staatsanwaltschaft in Karlsruhe keine Angaben.

Passend zum Untersuchungsauftrag der Landtagskommission

Die Todesfälle, vor allem der von Florian H., passen strenggenommen zum Untersuchungsauftrag der Landtagskommission. Der Ausschuss hält den Polizistenmord von Heilbronn zwar für aufgeklärt und sieht analog zur Bundesanwaltschaft in Böhnhardt und Mundlos die alleinigen Täter, sucht aber nach Unterstützern, vor allem in den Reihen von Neonazis im Land, die wiederum in engem Kontakt zur Szene in Thüringen und Sachsen standen.

Florian H. war etwa ein Jahr lang Teil dieser Szene in Heilbronn und Umgebung. Er kam mit Leuten in Kontakt, die seit Jahrzehnten dabei sind. Insgesamt ein Milieu, in dem sich nicht nur west- und ostdeutsche Rechtsextremisten, sondern auch V-Personen von Verfassungsschutz oder polizeilichem Staatsschutz mischten.

Eine dieser Figuren ist Michael Dangel aus Heilbronn, 49 Jahre alt. Er war bei zahlreichen rechtsgerichteten Gruppierungen aktiv - Republikaner, DVU - und gründete selber immer wieder welche. Darunter auch einen sogenannten "Geheimbund", in dem die heutige Verteidigerin des Angeklagten Ralf Wohlleben sowie ihr damaliger Freund Michael Stingel mitmachte. Schneiders und Stingel lebten später einige Zeit in Jena, wo sie unter anderem engen Kontakt zu Wohlleben und André Kapke, ebenfalls NSU-Beschuldigter, hatten.

Die Existenz des "Geheimbundes" stritt Dangel gegenüber dem Untersuchungsausschuss ab. Belegt ist das allerdings durch veröffentlichte Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg. Das LfV hatte in der Gruppe einen Spitzel platziert, VM "Rose", mutmaßlich eine Frau.

War da mehr?

Mit diesen Akten konfrontiert haben die Abgeordneten den Zeugen Dangel allerdings nicht.

Stand die Heilbronner Szenegröße Dangel lediglich unter Beobachtung des Verfassungsschutzes - oder war da mehr? In einer früheren Sitzung rutschte einem Kriminalbeamten eine verhängnisvolle Formulierung heraus: Er sprach über Dangel, und dass er nicht wisse, wie der mit "Klarnamen" heiße. Möglich, dass er den Klarnamen mit dem Decknamen verwechselte, es würde aber bedeuten, dass der Mann einen Decknamen besaß.

Der Verdacht, Dangel könnte für eine Behörde gearbeitet haben, bekommt durch eine seltsame Begebenheit, die auch in der Ausschusssitzung zur Sprache kam, neue Nahrung. Bei einer Vernehmung durch das LKA im November 2013 übergab er den Kriminalbeamten Ordner mit Unterlagen aus seiner politischen Vergangenheit. "Ungewöhnlich" fand das der Ausschuss. Dangel erklärte es - nicht weniger seltsam - mit "offensiver Informationspolitik". Damit die Polizei sehen konnte, was er alles gemacht habe.

"Vielleicht, weil ich so verbohrt war"

Die direkte Frage, ob er eine V-Person war, verneinte der Rechtsextremist. Doch auf die weitere Frage, ob er von einer Behörde angesprochen worden sei, folgte eine einigermaßen kryptische Antwort: Er sei in 30 Jahren nicht einmal auf eine Zusammenarbeit angesprochen worden, so Dangel. Das habe ihn überrascht und sei fast beschämend, weil "praktisch alle" angesprochen worden seien. Eine Erklärung hatte er nicht: "Vielleicht, weil ich so verbohrt war."

Hat sich Dangel als Kontaktperson angeboten?, wollte der Ausschuss von der Vertreterin des LKA wissen und die antwortete so lakonisch wie mehrdeutig: "Mir nicht."

Journalisten machten während der Ausschusssitzung Wahrnehmungen: Unter den Zuschauern saß, wie schon bei vergangenen Sitzungen, nicht nur ein LfV-Beamter der Abteilung Rechtsextremismus, sondern auch ein Vertreter der Abteilung Beschaffung, sprich: verantwortlich für V-Mann-Führung. Wem oder was galt sein Interesse?

Michael Dangel unterhielt Verbindungen nach Jena, wo das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe herkam. Die Ost-West-Wanderungen in den 90er Jahren waren beachtlich: Mundlos und Zschäpe reisten nach Ludwigsburg, ebenso Zschäpes Cousin Stefan A. Er musste vor dem Untersuchungsausschuss bereits Platz nehmen. Dagegen Enrico Rickmann aus Chemnitz, Neonazi und zugleich V-Mann des Verfassungsschutzes - bisher vom Ausschuss nicht vorgeladen.

"Noie Werte" und "Triebtäter"

Genauso wenig wie Andreas Graupner, der sogar seinen Wohnsitz an den Neckar verlegte und in der rechtsextremen Band "Noie Werte" mitmachte. Auch Jan Werner, führender Blood and Honour-Kader aus Chemnitz, zog an den Neckar. Werner ist einer der neun weiteren NSU-Beschuldigten.

Im Nachbarort ließ sich der Deutschland-Chef von Blood and Honour (B&H) nieder, Stephan Lange, kürzlich als Quelle des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) enttarnt - und bisher vom Ausschuss nicht vorgeladen. Ebenfalls in dem Ort wohnte Markus F., eine zentrale Neonazi-Größe von Baden-Württemberg und ebenfalls mutmaßlich in Verbindung mit Sicherheitsbehörden - auch er bisher vom Ausschuss nicht vorgeladen. Dasselbe gilt für Jug P., gegen den das BKA wegen Waffengeschäften ermittelte - bisher nicht vorgeladen..

Vorgeladen war diesmal Holger W. aus Baden-Württemberg, in den 90ern Gitarrist in der rechtsradikalen Band "Triebtäter". Bandmitglied war unter anderem Roland Sokol, der später V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) BaWü wurde und inzwischen verstorben ist. Von 2001 bis 2011 lebte W. in Jena und Apolda, immerhin zehn Jahre lang.

Seine Befragung durch den Ausschuss war allerdings wenig ergiebig, weil wenig fundiert. Wesentliche Akten fehlen den Abgeordneten, nach Sokol haben sie nicht einmal gefragt. W. erklärte, Ende der 90er Jahre bei Partys in Thüringen auch das Trio getroffen zu haben. Ins Bild passte schließlich seine Antwort auf die Frage einer Abgeordneten: Ob er Kontakte zum Trio unterhielt, das hätten ihn die Ermittler des LKA bisher nämlich nie gefragt.

Welche Rolle das rechtsextreme Ost-West-Geflecht während der Mordserie von 2000 bis 2007 spielte, ist bisher unklar. Zumal Zweifel bestehen an der (Allein-) Täterschaft von Böhnhardt und Mundlos beim Polizistenmord in Heilbronn. Das könnte die Bedeutung des Trio-Umfeldes schmälern und eine andere Perspektive nahe legen: War das Trio - umgekehrt - vielleicht selber Teil des Täterumfeldes?

Erster Unterschlupfgeber

Einer der mithelfen könnte aufzuklären, ist Thomas Starke, der sich heute Thomas Müller nennt. Er war aktiv in der Neonaziszene in Chemnitz, war einmal mit Beate Zschäpe liiert, lieferte Sprengstoff, war erster Unterschlupfgeber für das Trio nach dessen Flucht von Jena nach Chemnitz im Januar 1998 - und er wurde im November 2000 als V-Person des Landeskriminalamtes Berlin angeworben. Bis zum Auffliegen des NSU im November 2011 war Starke eine konspirative Quelle des Staatsschutzes.

Laut LKA in Stuttgart war der Aktivist eine Schlüsselfigur für die Verbindungen der ostdeutschen Neonaziszene nach Baden-Württemberg. Er kann nicht persönlich vernommen werden, weil die Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn führt und er ein Aussageverweigerungsrecht besitzt, das er vor dem OLG in München auch in Anspruch genommen hat. Mindestens achtmal soll Starke bisher vom BKA vernommen worden sein - viermal als Zeuge und viermal als Beschuldigter.

Von der Polizeibehörde ausgebremst

Was sagte er dabei aus, was weiß er? Das will der Ausschuss nun von Vernehmern des BKA hören. Allerdings werden die Parlamentarier seit Monaten von der Polizeibehörde ausgebremst. In die Juni-Sitzung schickte sie einen Vertreter, der Vieles nicht beantworten konnte, Auskünfte zur V-Mann-Tätigkeit Starkes verweigerte er gleich ganz. Hinterher übten die Abgeordneten offen Kritik am BKA, sprachen von "Torpedierung" ihrer Arbeit und zogen "Aufklärung- und Kooperationswillen" des Amtes in Zweifel (vgl. Bundesanwaltschaft, BKA und LKA sabotieren NSU-Ausschuss [2]).

Zur Oktober-Sitzung jetzt sollte der Hauptsachbearbeiter erscheinen. Doch auch mit diesem Zeugen, Kriminaloberkommissar Thomas Baaden, setzte sich das Spiel fort. Auch er musste bei vielen Fragen passen.

Untersuchungsausschuss (UA): Hatte Starke nach 2001 noch Kontakt zum Trio?
Zeuge Baaden: Habe ich nicht mehr eindeutig vor Augen.
UA: Es soll eine Schlägerei zwischen Starke und Mundlos gegeben haben?
Zeuge: Sagt mir nichts.
UA: Welche Beziehung hatte Starke zu Ralf Marschner?

Zeuge: Kann ich leider nicht sagen.
UA: Hatte Starke Kontakte nach Stuttgart?
Zeuge: Kann ich nicht sagen.

Auch bei dem Thema V-Person erlebte man eine Wiederholung.

UA: War Ihnen bekannt, dass Starke V-Person des LKA Berlin war?
Zeuge Baaden: Laut Aussagegenehmigung habe ich keine Berechtigung, die Frage zu beantworten.

Selbst in nicht-öffentlicher Sitzung soll der BKA-Mann keine Frage beantwortet haben. Der Ausschuss überlege nun, hieß es, ob er den Quellen-Führer Starkes beim LKA Berlin als Zeugen vorlädt.

An der Frage, was Thomas Starke wusste, hängt die, was der Staatsschutz wusste.

Der NSU und der Verfassungsschutz - zwei untrennbare Komponenten, wie es scheint. Auffällig ist: je mehr man gräbt, desto mehr hat man es mit dem Inlandsgeheimdienst zu tun. Was will der Verfassungsschutz sechs Jahre nach dem Auffliegen des NSU?

Der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten Michèle Kiesewetter und Martin Arnold am 25. April 2007 in Heilbronn scheint dabei immer weiter weg zu treiben.

Der Abgleich der Telefondaten aus der Funkzelle des Tatortes Theresienwiese ist immer noch nicht erschöpfend vorgenommen worden, die Bundesanwaltschaft weigert sich weiterhin, entsprechende Ermittlungen zu veranlassen. Und das obwohl - oder weil? - die Existenz einer Telefonnummer, die im Zusammenhang mit der terroristischen Sauerlandgruppe stand, am Tatort inzwischen bestätigt wurde.

Neuigkeit Streifenwagen

Und doch gab es in der Ausschusssitzung eine Neuigkeit: Zum ersten Mal wurde eine Ermittlerin des LKA nach der Anwesenheit von anderen Streifenwagen der Polizei auf der Theresienwiese kurz vor dem Anschlag gefragt. Mehrere Zeugen hatten unabhängig voneinander in den 40 Minuten vor dem Mord, der um 13.58 Uhr verübt worden sein soll, fünfmal einen Streifenwagen bemerkt, zweimal in unmittelbarer Nähe des späteren Tatortes.

Die letzte Sichtung eines Streifenwagens machte ein Zeuge ziemlich genau fünf Minuten vor den Schüssen mitten auf dem Festplatz. Kiesewetter und Arnold waren da noch auf der Anfahrt. Waren also Polizisten bei dem Überfall auf ihre Kollegen in der Nähe? Die Polizeiautos, ihre Besatzung und möglichen Aufträge sind nicht identifiziert. Kein Beamter hat sich bisher dazu geäußert.

Die Antwort der Kriminalhauptkommissarin gegenüber den Abgeordneten war unambitioniert. Sie habe schon mal davon gehört, es sei wohl mal rumgefragt worden, man sei aber nicht weitergekommen.

Auch das ist eine Auskunft, eine Art Selbstauskunft: Wer ausschließlich Böhnhardt und Mundlos für die Täter hält, wie es die Bundesanwaltschaft vorgibt, muss andere Spuren ignorieren. Die Ermittler sitzen in der Uwe-Uwe-Falle.


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