Neue Stadtquartiere: Wie steht es mit der Lebendigkeit?
"wagnisART", München. Bild: TP
Die Ansprüche fliegen hoch: Stadtquartiere versprechen soziale Vielfalt, Nachhaltigkeit und moderne Wohnkonzepte. Die Realität ist aber anders. Woran das liegt.
Mit ihrer Wohnungsplanung nach bauwirtschaftlicher Manier haben die deutschen Metropolen in der Nachkriegszeit eher nicht so gute Erfahrungen gesammelt. Als in den letzten Jahren die Wohnungsfrage erneut akut wurde, nahm man sich also vor, es besser zu machen. Deswegen will man von Satellitenstadt oder Großsiedlung nichts mehr wissen.
Nun ist allerorts vom "Quartier" die Rede. Das kling schon mal weniger kapitalistisch als die Immobilie, ist zugleich aber konkreter und besser gestaltbar als das Viertel oder der Stadtteil.
Was ein Stadtquartier ist
Doch was ist das eigentlich, ein Stadtquartier? Es hat eine doppelte Dimension: Es ist ein physischer Bereich einer Stadt und zugleich eine gesellschaftliche Entität. Im urbanen Sozialgefüge stellt es das Feld dar, in dem Kommunikation, Austausch, Bekanntschaft, Nachbarschaft, vielleicht sogar Freundschaft entstehen können; auf jeden Fall eine persönliche Verbundenheit, die zur gegenseitigen Verantwortung und zu sozialem, durchaus auch zu politischem Engagement führt.
Architektonisch ist es jene überschaubare Gruppe von Häusern, Höfen, Straßen, auch von Plätzen und Parkanlagen, die sich in der Stadt strukturell abzeichnet, einen eigenen Charakter besitzt und wo sich eine solche zwischenmenschliche Verbundenheit herausbilden kann, ja deren Herausbilden sogar gefördert wird.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es weitestgehend selbstverständlich, neue Stadtgründungen und Stadterweiterungen in Quartiere zu gliedern. Oft behielten die Dörfer, die eingemeindet wurden, ihren Namen und ihre Eigenschaften.
London, Berlin, Barcelona
In London gaben die Eigentumsgrenzen der privat entwickelten Estates die Struktur vor; in Berlin schlüsselte James Hobrecht seinen Erweiterungsplan in Teilbereiche auf, die er jeweils mit einem Platz und einer Kirche versah; sogar Ildefonso Cerda, der die Plangrundlage für die Entwicklung von Barcelona als nivellierte, homologe Stadt für eine nicht-hierarchische Gesellschaft schuf, strukturierte seine völlig gleichmäßige Blockstruktur durch Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser zu einer funktionalen Komposition kleinteiliger Stadtelemente.
Das änderte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dies aber abrupt. Das Bebauungsmodell der Siedlung, das nicht vom Straßen- und Platzraum ausging, sondern von der einzelnen, möglichst günstig orientierten Wohnung, löste das des Quartiers ab.
Die Veränderung
Funktional ging es ausschließlich um Wohnen, das von dem anderweitig untergebrachten Arbeiten getrennt und nur durch die unmittelbar notwendigen Wohnfolgeeinrichtungen ergänzt wurde; typologisch um Komplexe, die idealerweise im Grünen lagen und an die historische Stadt nur widerwillig anknüpften.
Gebäudestrukturen wurden lediglich durch Reihung und Stapelung gleicher (oder annähernd gleicher) Raum- und Außenwandelemente gebildet. Zurecht ist einmal gesagt worden, dass die Malaise dieses Städtebaus viele Wurzeln hätte, wovon eine der tiefsten und kräftigsten darin zu liegen scheine, dass niemand sich selbst noch andere, deren Eigenart ihm vertraut sei, darin wiederfinde.
Was er dagegen wiederfände, sei allenfalls die Dominanz einer technischen Perfektion und ökonomischen Rationalität, die zumindest im Bereich der Wohnbauten offenbar nur eindimensionale Lösungen zulasse und alle funktionale und ästhetische Komplexität mit einer egalisierenden Haut überziehe.
Die Dichte nimmt zu
Das will man heute tunlichst vermeiden. Was seit den 1990er-Jahren insbesondere auf innerstädtischen Konversions- und Brachflächen stattfand, hat in jüngerer Zeit auch an den Rändern der Großstädte an Bedeutung gewonnen: Massiver Neubau.
Bemerkenswert dabei ist, dass die Dichte in den letzten Jahren zugenommen hat. Im Schnitt entstehen mehr Wohnungen auf weniger Fläche und tendenziell auch mehr gemeinschaftliche Wohnformen und -angebote für ältere Menschen – eine durchaus erfreuliche Entwicklung, weil knappe Flächen effizienter genutzt werden.
Eine kompakte Bebauung trägt dazu bei, Freiräume in den Quartieren zu schaffen und zu erhalten. Positiv ist auch, dass man sich augenscheinlich unterschiedliche Nutzungen bemüht und die Monotonie reinen Wohnens vermeiden will.
Konzeptvergaben fördern die Planung und Umsetzung solcher Vorhaben: Durch sie werden Grundstücke nicht nach Höchstpreis, sondern für den besten Entwurf vergeben. Freilich ist es wünschenswert, dass dieses Instrument eine noch deutlich stärkere Verbreitung findet.
Was sich in neuen Stadtquartieren zeigt
Der freifinanzierte Wohnungsbau für Mieter sowie selbstnutzende Eigentümer ist die häufigste Form des Wohnungsbaus in neuen Stadtquartieren. Wohnungen im mittleren und höheren Preissegment überwiegen. Allerdings hat auch der geförderte Wohnungsbau an Bedeutung gewonnen, während sich die Relevanz des Einfamilienhauses verringerte.
Zudem weisen zahlreiche Quartiere gemeinschaftliche Wohnformen und -angebote für ältere Menschen auf. Grün- und Freiräume spielen überall eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Quartiere. Es zeigt sich aber, dass die Anbindung der neuen Quartiere an Bus und Bahn und an das Radverkehrsnetz meist zu kurz kommt.
Wenig Fortschritt offenbart sich auch bei der kleinräumige Nutzungsmischung – obgleich sie doch für Weltoffenheit und Lebendigkeit im Quartier sorgt.
Sie fußt freilich auf dem Thema Arbeit, weniger auf dem Aspekt der Versorgung – es braucht also auch einen produzierenden Betrieb vor Ort, nicht nur einen Discounter.
Wohlfühl-Oasen: Alles Fremde und Unangenehme raus aus dem Sichtfeld
Andererseits bevorzugen die Bewohner eine Wohlfühl-Oase: Alles Fremde und Unangenehme soll aus dem Sichtfeld geschafft, jedwede Störung vermieden werden.
Im Grunde diskutiert man nicht mehr, wozu eigentlich eine Stadt da ist. Mit der Vorstellung, man müsse alles, was ein bisschen dreckig oder unbequem ist, vergraben oder wegschieben, entsteht keine Urbanität.
Zürich
Ein beispielhaftes und zukunftsweisendes Projekt, das viele Anforderungen an neue Stadtquartiere vereint, ist auf dem Hunziker Areal am Rande Zürichs entstanden. Die Genossenschaft "mehr als wohnen" setzte hier neue Maßstäbe für Planung, Bau und Betrieb von Neubauquartieren und für künftiges Wohnen. Die Gebäude weisen durch ihre Tiefe und Anordnung zueinander eine besondere städtebauliche Qualität auf.
Die 370 Wohneinheiten haben viele unterschiedliche Grundrisse. Die städtebauliche Gestalt, die Organisation des Zusammenlebens und die ökologischen Kennwerte setzen hohe Maßstäbe. Das mehrfach ausgezeichnete Projekt zeigt auf, wie im Zusammenspiel mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Wohn- und Quartiersqualitäten entstehen.
München
Gemeinschaft und nachbarschaftliches Zusammenleben sind auch Merkmale eines Münchner Beispiels. Das auf dem Domagkareal in Schwabing realisierte Projekt "wagnisART" zeigt vorbildhaft, wie sich gemischte und bezahlbare Wohnquartiere errichten lassen, die mit hohem ökologischen Standard punkten und ein hohes Maß an Lebensqualität versprechen.
Die Genossenschaft errichtete fünf Wohnhäuser mit insgesamt 138 Wohnungen, die zwei Innenhöfe umschließen. Brücken im dritten und vierten Obergeschoss verbinden die Bauwerke miteinander. Die Erdgeschosse sind nutzungsgemischt, öffentliche und private Räume sind intelligent miteinander verknüpft.
Das Projekt wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Städtebaupreis 2016.
Die Bewohnerinnen und Bewohner bestimmten maßgeblich die städtebauliche Planung und das Nutzungskonzept. Die Wohneinheiten wurden zu jeweils einem Drittel mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus, des geförderten Mietwohnungsbaus und frei finanziert gebaut. Der Mix macht den Wohnraum erschwinglich. Nicht zuletzt der Dorfplatz sowie Gemeinschafts-Dachgärten bieten attraktive Begegnungsorte.
Freiham: Europas größtes Neubaugebiet
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch Freiham. Dabei handelt es sich nicht nur um den jüngsten Stadtteil der bayerischen Metropole, sondern auch um Europas größtes Neubaugebiet. Zukünftig sollen hier, am westlichsten Zipfel der Stadt, über 25.000 Menschen auf einer Fläche von 350 Hektar leben und arbeiten.
Das Areal unterteilt sich in zwei Bereiche: ein Gewerbegebiet im Süden und ein Wohnquartier im Norden, das im Westen von der Autobahn A 99 West begrenzt wird. An der Schnittstelle von Gewerbe und Wohnen liegt der S-Bahn-Halt Freiham. Dort schließt auf Wohnquartiersseite ein im Bau befindliches Stadtteilzentrum an, das zukünftig als städtisches Entree für Freiham dienen soll.
Direkt daneben, Richtung Westen, befindet sich der Bildungscampus Freiham, der bereits 2019 fertiggestellt wurde. Er umfasst verschiedene Schulen, ein sonderpädagogisches Förderzentrum und diverse Sportanlagen.
Als verbindendes Element verläuft ein grünes Band mit verschiedenen Aufenthaltsbereichen zwischen den einzelnen Gebäuden. Zusammen mit der pavillonartigen Architektur bietet der Campus eine lockere und einladende Atmosphäre.
Bislang präsentiert sich das Wohnquartier größtenteils als eine mit Bauzäunen unterteilte Betonwüste, die abrupt in flurbereinigte Flächen übergeht. Strukturiert wird das Ganze durch Wohnparzellen. Im ersten Realisierungsabschnitt, der gerade umgesetzt wird, handelt es sich um eine mal mehr und mal weniger perforierte Blockstruktur mit Innenhöfen.
Die durchschnittliche Dichte ist mit einer Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,7 deutlich höher als in Münchens zweitjüngster Stadterweiterung, der Messestadt Riem aus den 1990er-Jahren, mit einer GFZ von 1,2.
Verschiedene Gebäudetypen mit einer Höhe von vier bis zu acht Stockwerken
Auf den Parzellen sind verschiedene Gebäudetypen mit einer Höhe von vier bis zu acht Stockwerken platziert. Ein zweiter Realisierungsabschnitt soll ab 2028 umgesetzt werden, dort entstehen neben Wohngebäuden weitere Kitas, Schulen und ein Familienzentrum.
Damit das alles bezahlbar bleibt, wurden die Grundstücke in mehreren Abschnitten zunächst an kommunale Wohnungsbaugesellschaften und anschließend an Baugenossenschaften, Baugemeinschaften und Bauträger für preisgedämpfte Mietwohnungen im Erbbaurecht vergeben. Möglich ist das, weil sich der Boden im Besitz der Stadt befindet.
Monotonie und Lebendigkeit
Doch was als ambitionierte Mischung annonciert wird, erweist sich bislang als eher enttäuschend. Denn ein großer Teil von Freiham Nord ist gekennzeichnet von einer Monotonie, die durch die Aneinanderreihung von Kisten mit Lochfassade entsteht.
Da helfen auch unterschiedliche Gebäudehöhen, Vor- und Rücksprünge oder eine Mischung aus Klinker und Putz in verschiedenen Rottönen wenig.
Lebendigkeit entsteht, wenn Menschen einen Anlass haben, sich über den Weg zu laufen. Was einfach klingt, findet heute in vielen Nachbarschaften nicht mehr statt, weil Autos in Tiefgaragen verschwinden, Kinder nicht mehr auf der Straße spielen können, woanders eingekauft, Sport getrieben und Freunde getroffen werden.
Nachbarschaften muss man als Ressourcen für Begegnung begreifen – und gestalten. Und wenn das Quartier über attraktive Freiräume verfügt, die allen gemeinschaftlich für Erholung, Begegnung, zum Spielen und Gärtnern zur Verfügung stehen, bedarf es weniger Wohnfläche und weniger Aktivitäten außerhalb des Quartiers, um sich im Alltag wohlzufühlen.
Dies gilt umso mehr, wenn Freiräume auch das Mikroklima verbessern und die Biodiversität fördern. Zugleich ist es entscheidend, Wohnraumkonzepte zu realisieren, die den wachsenden Anforderungen an Flexibilität, Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit gerecht werden
Eine Formel für das Quartier der Zukunft gibt es zwar nicht; die jeweiligen Anforderungen ergeben sich aus den Gegebenheiten vor Ort. Aber es reicht in keinem Fall, Straßen und Wohnblocks zusammenzuwürfeln und einen schönen Namen dafür zu erfinden.