"Neue Wahrnehmung, wie dreckig es einigen Menschen in Deutschland geht"

Seite 2: "Deswegen lehnen wir Christian Lindners Vorstoß ab"

Damit nennen Sie ja zumindest konkrete Zahlen, das haben Sie dem Bundessozialminister voraus. Die FDP übrigens fordert stattdessen eine Steuerreform. Wären Sie dafür zu haben, wäre das für Sie ein gangbarer Weg?

Ulrich Schneider: Im Moment nicht. Dieser Vorschlag entspricht dem, was die FDP stets vorzugsweise ins Auge fasst: Dass man den sogenannten Mittelstandsbauch abbaut, die kalte Progression bekämpft. Und das ist sicherlich auch nachvollziehbar.

Denn der Hintergrund ist, dass gerade bei steigender Inflation jede Lohnerhöhung, die die Gewerkschaften erkämpft haben, von der Progression zum Teil wieder aufgefressen wird. Und wenn dann die Inflation noch steigt, hat man trotzdem weniger Kaufkraft als vorher. Das ist das, was Lindner angehen will. Grundsätzlich habe ich dafür Verständnis.

Folgt nun ein Aber?

Ulrich Schneider: Ja, denn es ist der falsche Zeitpunkt. Im Moment ist schlechterdings durch die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie, durch die Entlastungspakete und auch angesichts der allgemeinen Preissteigerung einfach nicht der finanzielle Spielraum vorhanden, hier diese Steuererleichterungen vorzunehmen. Deswegen lehnen wir Christian Lindners Vorstoß ab.

Letzte Frage, Herr Schneider, wenn wir das Ganze nun mal ein wenig distanziert betrachten: Wir kommen von der einen Krise, der Pandemie, in die nächste Krisensituation mit erheblichen geo- und energiepolitischen Verwerfungen.

Von den letzten Transferleistungen, die von einer Bundesregierung in der Coronakrise veranlasst worden sind, haben in der Coronakrise maßgeblich große Konzerne profitiert, die Lufthansa etwa, während viele Pflegekräfte nach wie vor auf Zahlungen warten. Was lässt Sie hoffen, dass das nun anders läuft?

Ulrich Schneider: Wir haben eine andere Regierung. Sagen wir mal so: Während der GroKo und in der Coronakrise mussten Bezieher von Sozialhilfe und Grundsicherung ein geschlagenes Jahr lang waren, bevor sie überhaupt mal zehn Atemschutzmasken bekommen haben.

Das muss man sich mal vorstellen. Die haben bis zum Januar 2021 gewartet, bevor sie diese Schutzmittel zur Verfügung gestellt bekommen haben. Bei dem großen Konjunkturentlastungspaket im Sommer 2020 sind Grundsicherungsbezieher mit keinem einzigen Euro bedacht worden.

Nun muss man sehen: Wir haben es in der Ampel-Koalition insbesondere durch die Grünen offensichtlich auch eine stärkere Lobby für Menschen, die Grundsicherung beziehen. Das merkt man schon. Und das macht auch Hoffnung, dass sich einiges verändert.

Wir haben durch die Coronakrise und auch angesichts der Preissteigerungen in der Öffentlichkeit plötzlich eine neue Wahrnehmung, wie dreckig es einigen Menschen in Deutschland geht. Diese öffentliche Wahrnehmung kann dazu beitragen, dass die Politik da einfach zielgenauer wird und arme Menschen nicht so systematisch von Entlastungen ausnimmt, wie das in der Großen Koalition der Fall war.