Neuer Stellenwert der Bundeswehr: Nicht beim Nachwuchs

Deutsche und ukrainische Panzerzüge besichtigen und inspizieren Panzer. Bild (2018): 7th Army Training Command, Grafenwöhr. Lizenz: CC BY 2.0

Zeitenwende-Debatte: Die Affirmation für eine "Ertüchtigung" der Bundeswehr ist groß in der Politik und in den Medienkommentaren, der Armee fehlt es aber an Bewerbern. Trotz oder gerade wegen des Ukraine-Kriegs?

Ein Jahr nach der "Zeitenwende"-Rede von Bundeskanzler Scholz wird heute in den Medien Inventur gemacht.

Zu wenig sei noch bei der Truppe angekommen, lautet ein kritischer Tenor. So kritisiert CDU-Außenexperte Roderich Kieswetter, dass die Truppe ein Jahr verloren habe und nun blanker als Anfang 2022 dastehe.

Von den beschlossenen 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen sei auch noch kein Geld ausgegeben worden, berichtet die Tagesschau.

Lediglich 30 Milliarden Euro seien inzwischen vertraglich gebunden, so Verteidigungsminister Pistorius. Genannt werden in diesem Zusammenhang Großprojekte wie der Kauf des US-Tarnkappenjets F35 und des schweren Transporthubschraubers "CH47", der in die Wege geleitet sei.

Heeresinspekteur Alfons Mais, auf den sich CDU-Mann Kiesewetter bezieht, hält das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro alles in allem für nicht ausreichend, wenn es um die "Vollausstattung der Bundeswehr" gehe.

Verteidigungsminister Pistorius will beim jährlichen Budget nachbessern, um 10 Milliarden Euro, um das von Scholz proklamierte Ziel zu erreichen, "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren".

Aber die große Linie stimmt?

Die Einwände gegen das Sondervermögen, soweit sie aus den großen Parteien kommen, argumentieren nicht grundsätzlich gegen die 100 Milliarden Extrasumme für die Bundeswehr. Nur dass davon "so gut wie nichts verplant" sei, wie es CDU-Fraktionsvize Spahn kritisiert. Oder eben beim Sondervermögen "falsche Prioritäten", gesetzt werden, wie Medienkommentare bilanzieren.

Der grundsätzliche Richtungswechsel jedoch, dass die Bundeswehr aufgerüstet werden muss, stimme, so der andere große affirmative Tenor. Seit der Zeitenwende-Rede des Kanzlers habe sich die deutsche Politik "in mehreren Bereichen grundlegend verändert". So habe sich die Debatte über die Bundeswehr gedreht, diagnostiziert das ZDF:

Durch den Krieg und das Bedrohungsgefühl durch Russland gelten Sicherheitsausgaben nun als richtig und wichtig. Kritik gibt es nun daran, dass das Umsteuern zu langsam geht.

ZDF

Doch so sehr "neue Stellenwert der Bundeswehr" in den Köpfen der Politiker und Kommentatoren offenbar wird, so versteckt ist er, wenn es um den Nachwuchs geht. Ziel ist eine Truppenstärke von 203.000. Nach den jüngsten offiziellen Zahlen zur Truppenstärke liegt die Bundeswehr mit 183.277 aktiven Soldatinnen und Soldaten unter der Zielvorgabe.

Und das ist schon seit einiger Zeit so, wie bei den Vergleichszahlen ersichtlich wird, die beim Blog "Augen Geradeaus" via Links den aktuellen Stand ergänzen. Im Januar 2023 gab es eine leichte Zunahme um knapp 230, der einzig bei den Freiwillig Wehrdienst Leistenden (FWDL) verzeichnet wurde, so die Momentaufnahme.

Rhetorik und Realität

Der Ukraine-Krieg und die damit aufgeflammte Rhetorik von der notwendigen Wehrhaftigkeit und Ertüchtigung der Bundeswehr hat nichts an deren Nachwuchsproblem geändert. Auch wenn es zwischenzeitliche Meldungen gab, die eine andere Tendenz im Sinne des "neuen Stellenwerts der Bundeswehr" nahelegten.

So berichtete etwa ntv davon, dass das Interesse an Bundeswehr seit Kriegsbeginn wachse. Aber das war Ende März letzten Jahres und etwas vorschnell wie auch eine andere Momentaufnahme.

Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges war kurzfristig eine erhöhte Zahl an Interessentinnen und Interessenten, die über das im Internetauftritt der Bundeswehr hinterlegte Kontaktformular oder über unsere Karriere-Hotline Kontakt zu uns aufnehmen, zu verzeichnen.

Sprecherin, Personalmanagement der Bundeswehr, RND, 19.09.2022

Beide Tendenzen hätten sich "inzwischen allerdings wieder normalisiert", so die Sprecherin des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr in Köln im September 2022.

Dagegen stieg die Zahl der Kriegsdienstverweigerer an, wie das RedaktionsNetzwerkDeutschland damals berichtete (siehe auch: Mehr Kriegsdienstverweigerer, weniger Bewerbungen: Die Bundeswehr hat ein Problem).

Augenscheinlich hat sich dieser Trend bis in die Februartage dieses Jahres gehalten.

Die Zahl der Bewerber bei der Bundeswehr ist "tendenziell rückläufig", teilt eine BW-Sprecherin in Köln, Mitte Februar, dem RND neuerdings mit.

Zwar habe die Bundeswehr durch den Ukraine-Krieg eine gesteigerte öffentliche Wahrnehmung erfahren und "kurzfristig auch ein erhöhtes Interesse", aber im Laufe des Jahres seien die Zahlen "wieder auf dem durchschnittlichen Vorkriegs-Niveau von etwa 7.000 Erstberatungen pro Monat" gelegen.

Erklärt wird dies mit "immer spürbarer werdenden Auswirkungen der demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen". Konkretisiert wird dies mit Hinweisen auf sinkende Schüler- und Studienabsolventenzahlen und den wachsenden Bedarf an Mint-Kompetenzen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Auch die "nachlassenden körperliche Leistungsfähigkeiten Jugendlicher" wird als Erklärung herangezogen.

Das erklärt aber nicht die steigende Zahl der Kriegsdienstverweigerer dieser Tage.