Neugruppierung der politischen Linken in Venezuela

Eduardo Samán. Bild: RevolucionSalman

Venezolanische Linke stellt eigenständige Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen auf - die Regierung blockt

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Eduardo Samán neuer Hoffnungsträger für Einigung der bisher zerstreuten regierungskritischen Linken bei Lokalwahlen am 10. Dezember. Der Ex-Minister unter Chávez gilt als Leitfigur im Kampf gegen korrupte und neokoloniale Wirtschaftsstrukturen im Pharmabereich und im Handel. Wahlbehörde CNE behindert Aufstellung Samáns und weiterer linker Kandidaten. Ein Überblick.

Dieser Kandidat für den Hauptstadtbezirk Libertador birgt Sprengstoff, nicht nur in der Millionenmetropole Caracas: Wie die Zeitung Correo del Orinoco bereits am 5. November berichtete, erhält die regierende Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) von Präsident Nicolas Maduro mit dem ehemaligen Minister Eduardo Samán nun vielleicht zum ersten Mal einen bedeutenden Gegenspieler aus dem linken Lager.

Staatliche Fernsehsender verbannten den früher gern gesehenen Ex-Minister jedenfalls bereits aus ihrem Programm. Die Wahlbehörde CNE behinderte gar tagelang seine Eintragung als gemeinsamer Kandidat auf den Wahlzetteln. Aus Protest organisierten die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) und die Partei Heimatland für Alle (PPT) am 11. November eine Demonstration mit Kundgebung vor dem CNE in Caracas.

"Die kommunistische Partei kniet nicht vor dem Imperialismus, und auch nicht vor der Regierung", rief PCV-Generalsekretär Oscar Figuera bei der Kundgebung vor den Toren der Wahlbehörde. Am 14. November gab das CNE schließlich nach und hob die Einschränkungen gegen Samán auf. "Wir werden in den öffentlichen Medien blockiert, und in einigen Privatsendern, die Angst bekommen haben, angefangen bei Globovisión", sagte Samán am 12. November auf der Buchmesse FILVEN und fügte hinzu: "Wir wissen nicht, wer dahintersteckt, ob das die Pharma- oder Fleischindustrie ist."

"Die kommunistische Partei kniet nicht vor dem Imperialismus, und auch nicht vor der Regierung", rief PCV-Generalsekretär Oscar Figuera bei der Kundgebung vor den Toren der Wahlbehörde am 11. November in Caracas. Samán ist Dritter v. links.

Neue Einigkeit - links der Regierung

Nachdem zwischen PCV und PSUV die Verhandlungen über die Aufstellung eines gemeinsamen Kandidaten gescheitert waren, einigte sich der PCV mit den Parteien PPT und Volkswahlbewegung (MEP) am 8. November auf die gemeinsame Aufstellung Samáns. Schon Anfang Juni hatte Samán seinen Austritt aus dem PSUV und den Wechsel zum PPT des ex-Guerillero Rafael Uzcátegui erklärt, auch aus Protest gegen die Ausschaltung innerparteilicher Demokratie in der "Einheitspartei". Aus dem PPT stammen auch wichtige Säulen der Chávez-Jahre wie Alí Rodríguez Araque und Rafael Ramírez, die mit Maduros Präsidentschaft zunehmend isoliert worden sind.

Mit Eduardo Samán konkurrieren ehemalige Teile des PSUV-nahen, linken Wahlbündnisses GPP erstmals an zentraler Stelle gegen die Regierung.

In seiner Tätigkeit bei der Verbraucherbehörde INDEPABIS und als Handelsminister hatte Samán in den Jahren 2008-2010 mehrfach korrupte Wirtschaftsstrukturen öffentlich gemacht, bis auch Chávez ihn schließlich entließ - ohne weitere politische Begründung. Samán nahm damals seinen Sturz gelassen hin und zog es vor zunächst weiter "Parteisoldat" zu sein und gemeinsam mit Chávez' Regierung die Reihen gegen die rechte Opposition zu schließen.1 Auch weiterhin betont Samán, durch seine Kandidatur keinesfalls die rechte Opposition stärken zu wollen, die die Wahlen ohnehin größtenteils boykottiert.2

Mittlerweile haben allerdings insbesondere solche ökonomischen Strukturprobleme wie die von Konzernen, Banken und Oligarchen organisierte Korruption, wie auch Samán sie mit prominenter Stimme immer wieder kritisierte, sichtbar zur rasanten Verarmung großer Teile der venezolanischen Volksklassen beigetragen.3 Der Verlust der sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära hat in den vergangenen Jahren die Wähler- und Aktivistenbasis des PSUV erodieren4 lassen und die Regierung, die eng mit internationalen Investoren zusammenarbeitet, in eine tiefe politische Krise gestürzt.

Alternative zum neokolonialen Krisenmanagement

Einer der Gründe, warum das trotz der Massenproteste von April dieses Jahres nicht zu einer dauerhaften Stärkung der rechten Oppositionsallianz "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD) führen konnte, die viele Beobachter erwartet hatten, war deren Mangel eines Alternativprogramms zur Kürzungspolitik. Wovon IWF-Strategen und MUD-Ökonomen nur träumen können, wird teils längst von der Regierung praktiziert.

Seit Ausbruch der Ölkrise 2014 ist die "sozialistische" Regierung nämlich zum kapitalistischen Krisenmanagement übergegangen - Sonderwirtschaftszonen, Erdölprivatisierungen und Reallohnsenkungen von bis zu 60% inklusive. Solche Maßnahmen revidieren weite Teile von Chávez' Erdöl- und Sozialreformen und sollen die im Rahmen der kapitalistischen Krise und des Neokolonialismus vertieften Strukturprobleme von Venezuelas Wirtschaft "lösen" und ein so genanntes "produktives Modell" verwirklichen.

Abbildung der Investitionen russischen Kapitals in der venezolanischen Erdölindustrie, Quelle: Präsentation von Maduros damals neuem Ölminister, Eulogio del Pino, auf der Russian Oil & Gas Industry Week 2016

"Produktiv" ist dieses "Modell" allerdings in erster Linie für die internationalen Großbanken aus Ost und West, die zuletzt Profite von über 40% jährlich aus Venezuelas Dollarschulden pressten. Ausländische Rohstoffkonzerne wie CNPC (China), Rosneft, Gazprom (Russland), Odebrecht (Brasilien), Gold Reserve (Kanada), Repsol (Spanien) und einheimische Monopolgruppen wie Cisneros zählen zu den Hauptprofiteuren der Wirtschaftsreform und der neuen Schürfrechte.

Abbildung des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA: Sonderwirtschaftszonen im Erdölgürtel nördlich, und im Bergbaubogen südlich des Orinoco bilden seit Februar 2016 die neue Gesetzesgrundlage für die Öffnungspolitik der Maduro-Regierung gegenüber ausländischen Konzernen, vor allem aus Russland, Kanada und China. Das Ziel ist u.a. die Schleifung von Arbeiterrechten und Umweltschutz und die Privatisierung der gigantischen Rohstoffreserven des Landes.

Daran haben die Karrierepolitiker der MUD-Parteien und die hinter ihr stehenden Oligarchen prinzipiell nichts auszusetzen5, was auch die jüngste Wiederannäherung von Teilen der AD mit dem PSUV begünstigt haben dürfte.

Beinahe zwei Drittel der venezolanischen Erdölproduktion werden dabei mittlerweile von russischen und chinesischen Konzernen kontrolliert, wie Experten vermuten.

Teile der zerstrittenen MUD wollen den regime change und die Rückfahrt in den US-Hinterhof, andere Teile eine ausgehandelte Beteiligung an der Macht und damit am Milliardengeschäft mit Erdöl-, Bergbau-, Kredit- und Währungsdeals der Regierung, bei dem das Volk zunehmend leer ausgeht.

Auch Ex-Chavisten wie Evans und Rivero kandidieren gegen die Regierung

In die wachsende politische Lücke zwischen sozialistischer Phraseologie der "bolivarischen" Generäle und Geldschieber und kapitalistischer Realität versucht nicht nur Eduardo Samán vorzustoßen. Auch zwei weitere selbständige Kandidaten aus dem ehemals einheitlichen chavistischen Lager haben in den letzten Tagen eilig ihre Kandidatur angekündigt, bürokratischen Hürden wie der von der Regierung auf 48 Stunden verkürzten Einschreibungsfrist zum Trotz. Parteilose Kandidaten sollten in dieser Frist gar 60.000 Unterschriften für den Bereich des Hauptstadtbezirks Libertador vorweisen, weshalb dort alle Kandidaten auf Partei- bzw. Bündnislisten angewiesen waren.

Nicmer Evans, bislang eines der Gesichter der links-chavistischen Sozialistischen Flut (MS), die sich bereits vor Jahren vom PSUV losgesagt hatte, tritt ebenfalls als Kandidat bei den Bürgermeisterwahlen an, allerdings mit dem Wahlticket der christlichen Partei Neue Vision für mein Land (NUVIPA); er war bereits Anfang Juli auch aus MS ausgetreten. Bei aller Kritik an der Regierung befürworten oder tolerieren mittlerweile auch er und Teile seines Umfelds soziale Kürzungsmaßnahmen ("ajuste") und eine partielle Erdölprivatisierung. 6

Der zunächst von den Tupamaros (MRT) aufgestellte eigenständige Kandidat Oswaldo Rivero, unter dem Spitznamen "Cabeza 'e Mango" bekannt als Moderator der links-chavistischen TV-Sendung "ZurdaKonducta" im Regierungssender VTV, wurde mittlerweile von seiner Partei wieder zurückgezogen: Samán hat ihm daraufhin eine Zusammenarbeit als "zweiter Mann im Boot" angeboten, ausdrücklich auch für den Fall eines Wahlsieges.

Mit Protest und Solidarität gegen Repression

Die Nachricht von der Samán-Kandidatur, die unter #UnSamanParaCaracas bei Twitter bereits am 9. November zu den nationalen Top-Themen aufstieg, bedeutet eine neue Hoffnung für große Teile der Bewegung für nationale und soziale Befreiung.

Samán kündigte an, mit Hilfe der chavistischen Basis die Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt gewinnen zu wollen. Er stellte in Tweets und Videobotschaften Versuche der Regierung an den Pranger, das Bündnis zu einem Rückzug der eigenständigen Kandidatenaufstellung zu bewegen, wie im Falle Riveros geschehen: Wegen des wachsenden Drucks sei es nun nicht mehr klar, ob die MEP an seiner Aufstellung als Kandidat festhalte. Ein Sieg Samáns gegen die Regierungskandidatin Erika Farías ist mindestens möglich, wie erste Umfragen auf Twitter nahelegen.

Kurz nach Bekanntwerden seiner Kandidatur, sehen erste Stimmungsbilder Eduardo Samán im Rennen für die Bürgermeisterwahl von Caracas im Dezember weit vor den anderen Kandidaten.

Nach seinen Angriffen auf korrupte Strukturen neokolonialer Ausbeutung u.a. im Pharma- und Transportsektor, die vor allem US-Konzernen und einheimischen Oligarchen die Taschen füllen und zur grassierenden Medikamentenknappheit beitragen, war Samán 2013 zum Ziel eines Mordanschlages geworden. Sein Bruder Ragid wurde bereits im Juni des Vorjahres ermordet. WikiLeaks-Depeschen, in denen sein Name nach Angaben des Nachrichtenportals LaTabla allein von 2004 bis 2011 mindestens 22 Mal auftaucht, zeigen ein großes Interesse der US-Botschaft an den kritischen Aktivitäten Samáns.

Gegen einen Gesetzesentwurf von Samán, der die Einschränkung der Steuer- und Kapitalflucht von Großkonzernen über Patente und Lizenzen unter dem Schlagwort des "geistigen Eigentums" anging, mobilisierte der Verband internationaler Pharmakonzerne in Venezuela (CAVEME) im Jahr 2010 demnach erfolgreich Widerstand: "Alle sind sich einig, dass dieses Gesetzesvorhaben eine Sauerei ist", heißt es in einer geleakten US-Depesche von Seiten CAVEMEs, die weiter schildert, wie daraufhin Samáns Entwurf von Chávez' Regierung stillschweigend durch einen konzernfreundlichen ersetzt wird.

Wie ein US-Diplomat bemerkt, stammte das derart korrigierte Gesetz - weiterhin "in chavistischer Sprache verfasst" - aus der Feder einer Kanzlei der Familie von Rafael Ramírez, Chávez' langjährigem Vertrauten und Ölminister. Kurz darauf war Samán auch aus seinem Regierungsamt entlassen worden; eine Kandidatur bei den Parlamentswahlen musste er 2010 unter Druck aus dem Präsidentenpalast kurz darauf räumen.

Bereits 2002 war Samán als Mitglied der Regierungsdelegation bei der Aushandlung der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA bekannt geworden, deren Zustandekommen später auch an Venezuelas Widerstand scheiterte. Samán kämpfte für eine konsequent kritische Haltung seines Landes gegen das Monopol von nordamerikanischen Konzernen "über 90 Prozent aller Patente des Kontinents". Bei Abkommen wie dem TTIP-Vorbild ALCA gehe es mit dem Konzept des "intellektuellen Eigentums" um die gesetzliche Absicherung einer "für den Kapitalismus zunehmend zentralen Form des Privateigentums", langfristig "um die Etablierung einer Art globaler Verfassung".7 Kämpfe im Inneren der Regierungsparteien hatten damals zu einer Ab- und baldigen Wiedereinsetzung Samáns in seiner Funktion als Leiter der Behörde SAPI geführt, die für geistige Eigentumsrechte in Venezuela zuständig ist.

Neugruppierung mit Perspektiven

Samán kann sicher auch mit Unterstützung aus der Verfassunggebenden Versammlung rechnen, zumal sich die im Mai in der Antifaschistischen und Antiimperialistischen Volksfront (FPAA) zusammengeschlossenen Parteien und Organisationen, zu denen auch PCV und PPT gehören, anders als die rechte Opposition aktiv an den Wahlen zu diesem Parallelparlament beteiligt haben. Sie verfügen nun über Abgeordnete und laute Stimmen im neuen Super-Gremium.

Werbung zum landesweiten Treffen der FPAA vom Mai 2017. Noch ist unklar, ob die FPPA geschlossen hinter Samán steht; PCV und PPT haben ihn aufgestellt.

Sprecher der Plattform "Chavismo Bravío", die zahlreiche links-chavistische Basisorganisationen und VV-Abgeordnete zusammenschließt, geben allerdings zu bedenken, dass Samán für den Bürgermeisterwahlkampf über keine Organisation verfügt, die ihn über die letzten Jahre begleitet hätte. Bislang eher ein Einzelkämpfer, könne er in den vier Wochen bis zur Wahl keine mit dem PSUV vergleichbaren Strukturen aufbauen.

Kräfte wie die im PSUV organisierte "Corriente Marxista Lucha de Clases" rufen öffentlich zur Unterstützung Samáns auf; auch Roland Denis und Teile der "Corriente Revolucionaria Bolívar y Zamora" signalisieren Unterstützung. Und auch außerhalb von Caracas bewegt sich das linke Koordinatensystem, wie z.B. im Bundesstaat Lara: Anhänger des linken eigenständigen Kandidaten Ángel Prado demonstrierten dort zuletzt am 10. November gegen die Verweigerung von dessen Zulassung durch die Wahlbehörde - ein ganz ähnlicher Fall wie der Samáns, scheint es.

Da sich die Versorgungskrise weiter Teile der Bevölkerung jeden Monat weiter verschärft und 2018 die wichtigen Präsidentschaftswahlen anstehen, ist diese Neugruppierung der politischen Linken in Venezuela von besonderer Bedeutung. Die Reorganisierung der venezolanischen Protestbewegung unter den neuen Bedingungen kann mit einer Einigungsfigur, die sogar der regierungsnahe Kommentator Walter Martínez in seiner TV-Sendung DOSSIER jüngst als den "Heiligen Gral" im Kampf gegen Korruption und Medikamentenmafia bezeichnete, möglicherweise gelingen.