Neuheidnische Moslems gegen christliche Taliban
Ein halbes Jahr vor den Wahlen bekriegen sich in Kenia Banden anhand ethnischer Trennlinien
Als vor fünf Jahren Daniel arap Moi abgewählt wurde, jubelten die Medien der Industriestaaten und sahen in Kenia bereits Demokratie und Wohlstand ausbrechen. Der Wahlsieger Mwai Kibaki und seine National Rainbow Coalition (NARC) entpuppten sich aber schon sehr bald als ähnlich korrupt wie ihre Vorgänger. Im Corruption Perceptions Index (CPI) von Transparency International liegt Kenia immer noch an 142. Stelle von 163 Ländern. Und auch die ethnischen Spannungen nehmen wieder zu – in Form von Banden, die die Slums der Hauptstadt Nairobi beherrschen.
Kikuyu und Luo
Die Bevölkerung Kenias ist zu 70 Prozent christlich. 20% sind Moslems – in der Mehrheit Sunniten, die vor allem im Nordosten und an der Küste leben. Zehn Prozent hängen ausschließlich traditionellen Religionen an. Amtssprachen sind Englisch und Kiswahili, die Verkehrssprache Ostafrikas, die an der Küste teilweise auch Muttersprache ist. In Großstädten existiert auch eine spezielle Slum-Variante des Kiswahili, das "Sheng". Bei den Muttersprachen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen stoßen die drei großen Sprachfamilien Afrikas aufeinander: Neben niger-kordofanischen Bantusprachen werden in Kenia auch in großer Zahl nilo-saharanische und afro-asiatische kuschitische Sprachen wie Rendille, Oromo und Somali gesprochen.
Die Kikuyu sind mit etwa 24 % der Bevölkerung die größte Volksgruppe. Sie sprechen eine Bantusprache wie auch die Luhya (mit 14 % die zweitgrößte Ethnie), die Kamba, die Taita und die Giriama. Die Luo sind mit 13 % Bevölkerungsanteil die drittgrößte Volksgruppe Kenias. Sie sprechen ebenso wie die Kalenjin, die Pokoot, die Turkana, die Maasai und die die Samburu eine nilo-saharanische Sprache, leben am Viktoriasee und sind eng verwandt mit dem Acholi im Norden Ugandas, aus denen sich die "Lord's Resistance Army" (LRA) rekrutiert.
Die künstlich gezogenen Grenzen, die Aufteilung des Landes der englischen Farmer und klimatische Veränderungen führten und führen zu zahlreichen ethnischen Spannungen innerhalb Kenias. Zwar verlor der Pansomalismus mit dem Ende der Staatlichkeit Somalias auch in Kenia an Attraktivität, doch die von den Kikuyu als diskriminierend empfundene Majimbo-Politik unter Präsident Moi führte in den 1990er Jahren in den drei westlichen Provinzen zu Auseinandersetzungen zwischen Kikuyu, Kalenjin, Luo und Luhya bei denen insgesamt 2000 Menschen getötet und 400.000 vertrieben wurden.1 Gegenwärtig herrscht im Grenzgebiet zwischen nomadischen Rendille, Borana-Oromo und Gabbra-Oromo ein durch Dürre angeheizter bewaffneter Streit um Vieh, Weideland und Wasserrechte. Neben diesen "traditionellen" Streitigkeiten hat sich aber auch eine neue Dimension der Konflikte eröffnet – nicht auf dem Land, sondern in den Städten, wo sich Banden anhand ethnischer Trennlinien bekriegen. Die wichtigsten dieser Gruppen sind die Mungiki (Mwingiki), die sich aus Kikuyu, und die "Taliban", die sich aus Luo rekrutieren. Während bei den explizit neuheidnischen Mungiki teilweise eine gewisse Nähe zum Islam zu Beobachten war, sind die hauptsächlich aus Luo bestehenden "Taliban" paradoxerweise ganz überwiegend christlich und gaben sich den Namen angeblich nur, weil sie als möglichst harte Kerle erscheinen wollten.
"Mungiki" ist das Kikuyu-Wort für "Masse". Anfang der 90er soll sich die Bewegung im Rift Valley aus der synkretistischen Freikirche Tent of the Living God entwickelt haben. Zu Bedeutung aber gelangten die Mungiki erst in den Slums von Nairobi. Dort erwarb sich die Gruppe bald den Ruf einer Mafia-ähnlichen Organisation. Schon gegen Ende der Ära Moi wurden ihnen Angriffe auf Polizisten, Überfälle auf Busse, Schutzgelderpressungen und Gräuel bei Auseinandersetzungen mit gegnerischen Banden vorgeworfen. Ein wichtiges Ereignis war das so genannte "Massaker vom 3. März 2002" – eine Nacht, in der Mungiki im Slum Kariobangi-Nord einen Rachefeldzug gegen die "Taliban" durchführten, wobei 21 Menschen zu Tode kamen. Daraufhin wurden die Mungiki verboten.
Informelle Privatisierung von Sicherheit
Auf die Existenz der Gruppe und auf ihre Kontrolle der Slums hatte das Verbot allerdings höchstens zeitlich begrenzte Auswirkungen. Möglich wurde dies unter anderem durch den desolaten Zustand der Polizei in Nairobi. Sicherheit ist in der kenianischen Hauptstadt privatisiert – sei es durch private Dienste in den besseren Vierteln, korrupte Polizeibeamte in den Vierteln, die von ihnen kontrolliert werden, oder Gruppen wie die Mungiki und die "Taliban" in den Slums wie Mathare oder Dandaura. Je weniger zahlungskräftig die jeweilige Bevölkerungsschicht ist, desto mehr funktioniert das informell privatisierte Gewaltmonopol anhand ethnischer Trennlinien - eine Entwicklung, wie sie in vielen afrikanischen Großstädten zu beobachten ist - sei es bei der Youruba-Miliz O'oduua Peoples's Congress in Lagos oder bei den Jeunes Patriotes in Abidjan.
Im November 2006 kam es erneut zu heftigeren Auseinandersetzung zwischen Mungiki und "Taliban", als die Mungiki in einem Slum eine höhere "Steuer" auf Chang’aa, ein verbotenes alkoholisches Getränk, durchsetzen wollten. Die Brauer und Brenner weigerten sich und engagierten die gegnerische Gruppe, was kriegsähnliche Zustände zur Folge hatte.
Im Juni 2007 stürmte die Polizei das Mathare-Slum von Nairobi, um Gangmitglieder festzunehmen. Begründet wurde der Einsatz von der Regierung mit dem Verweis auf mindestens 12 Mungiki-Morde in den vorangegangenen Wochen, darunter zwei Polizisten. Die Leichen seien verstümmelt und enthauptet worden, um Angst und Schrecken zu verbreiten und so den Machtbereich der Gruppe zu festigen und auszuweiten. Bei dem Einsatz, bei dem der Polizei exzessiver Gewalteinsatz vorgeworfen wurde, kamen mindestens 21 Menschen ums Leben. Auf Flugblättern wurde daraufhin angekündigt, für jeden getöteten Mungiki 10 Polizisten zu töten. Tatsächlich explodierte kurz nach der Razzia in Nairobi die erste Bombe seit den Botschaftsanschlägen von 1998, die 2 Menschen tötete und 33 verletzte.
Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass das erneute harte Vorgehen gegen die militanten Kikuyu-Nationalisten ausgerechnet Innenminister John Njoroge Michuki verantwortete – ebenfalls ein Kikuyu. Tatsächlich ist der Frontverlauf mittlerweile nicht mehr so einfach wie unter Moi. Fühlten sich die Kikuyu unter der eher nilotisch dominierten Regierung politisch ins Abseits gedrängt, so ist mittlerweile eher das Gegenteil der Fall: Auch der derzeitige Präsident Mwai Kibaki gehört der Volksgruppe an aus der sich die Mungiki rekrutieren. Daneben wird viel über die "Mount-Kenia-Mafia" spekuliert, ein informelles Netzwerk von Kikuyu-Politikern. Doch die Interessen dieser Kikuyu-Elite sind nicht unbedingt dieselben wie diejenigen der Mungiki. Zum Teil scheint das harte Vorgehen der Regierung gegen die Kikuyu-Nationalisten in jedem Fall dem Wahlkampf geschuldet, in dem sich die Elite von den radikalen und gewalttätigen Kikuyu-Nationalisten distanzieren will.
Neotraditionalismus
Hinzu kommt, dass die Mungiki nicht nur Kikuyu-Nationalisten sind - sie sind auch eine explizit neotraditionalistisch ausgerichtete Gruppe, die gegen alles vorgeht, was sie für "weiße" Einflüsse hält - etwa Homosexualität und Scheidung. Andererseits nahmen die Mungiki bereitwillig alles an afro-amerikanischen und afro-karibischen Einflüssen auf, was die Populärkultur zu bieten hatte: vom Gangsterrap bis zum Reggae, der die Straßen der von Kikuyu besiedelten Slums beschallt. Darüber hinaus sehen sich die Mungiki in der Tradition von Mau-Mau-Rebellen aus den 1950er Jahren, was sie auch anhand der häufig getragenen Dreadlocks deutlich zu machen versuchen.
Der Neotraditionalismus verträgt sich nicht unbedingt gut mit Frauenrechten und führte auch schon dazu, dass Mungiki Frauen, die Hosen trugen, öffentlich entkleideten. Ein besonders kontroverses Thema ist der Einsatz der Gruppe für die Mädchenbeschneidung. 1999 startete die kenianische Regierung einen "Nationalen Aktionsplan zur Abschaffung der Genitalbeschneidung", und 2002 trat der “Childrens Act” in Kraft, der sie bei Mädchen unter 16 mit Strafe bedroht. Gegen diese Politik gingen die Mungiki unter anderem dadurch vor, dass sie Zwangsbeschneidungen androhten. Das Element der Beschneidung ist auch ein wichtiger Gegensatz der Kikuyu zu den Luo: Anders als die meisten Völker Kenias kennen die Luo nämlich traditionell keine Beschneidung.
Die Mungiki beriefen sich bei ihren Forderungen (ebenso wie andere problematische Gruppen) auf die Religionsfreiheit. Und tatsächlich beklagte die US-Regierung in ihren Berichten zur Religionsfreiheit in anderen Ländern, dass Kenia "Mitglieder der Mungiki verfolgt und regelmäßig festnimmt und inhaftiert". Gegen den Religionscharakter spricht allerdings der Übertritt von Ndura Waruinge und dreizehn anderer Mungiki-Anführer zum Islam. Wie sich die Mythen und Riten der traditionellen Kikuyu-Religion mit den Ansprüchen aus Koran und Sunna vertragen sollen, blieb vielen ein Rätsel – und so stand der traditionelle kenianische Islam dem Vorhaben eher skeptisch gegenüber, weshalb die vierzehn den Übertritt in einer schiitischen Moschee in Mombasa vollzogen. Allerdings hielt die Konversion nicht allzu lange: Ndura alias "Ibrahim" Waruinge wechselte erneut die Religion. Als Christ nennt er sich jetzt "Hezekiah" und will sich im Dezember als Abgeordneter des Kibera-Slums in das Parlament wählen lassen.