Neuinfizierte pro Test - eine zweite Maßzahl als Ergänzung zu R
Statistische Analysen zur Coronavirus SARS-CoV-2-Pandemie
Mit zwei Fallstudien, einmal für Deutschland und einmal für einen Vergleich zwischen Bayern und Deutschland, soll empirisch aufgezeigt werden, dass es sinnvoll ist, die im Zentrum der epidemiologischen Untersuchungen stehende Reproduktionszahl R durch eine zweite Maßzahl zu ergänzen.
Erste Fallstudie
Bei Analysen zu Ländervergleichen1 fällt auf, dass in den einzelnen Staaten unterschiedlich häufig auf das Corona-Virus getestet wird, was zwangsläufig die Fallzahlen relativiert. Bezogen auf die Einwohnerzahl testet Dänemark mehr als das Doppelte, die Niederlande hingegen nur die Hälfte von Deutschland.
NIT2 ist definiert als die Anzahl der Neuinfizierten (nach Meldedatum) dividiert durch die Anzahl der Tests in einem Zeitbereich. Da das Robert-Koch-Institut die Anzahl der Tests nur wöchentlich3 veröffentlicht, ist in der ersten Fallstudie eine Kalenderwoche (kurz KW, Montag bis Sonntag) als zeitlicher Bezug verwendet worden. Die zugehörigen Daten stammen vom Robert-Koch-Institut und vom Helmholtz-Institut, wobei hier eine Betrachtung des Zeitraums von der 14. bis zur 25. Kalenderwoche (30.03.-21.06.2020) durchgeführt wird. Wir konzentrieren uns somit auf den Abschnitt, in dem die Fallzahlen fast nur rückläufig sind. Für diese Zeitspanne sind sie in Abbildung 1 skizziert worden.
Dem werden zunächst in Abbildung 2 und Tabelle 1 die wöchentlichen4 NIT-Werte gegenüber gestellt. Diese Kenngröße verläuft im betrachteten Zeitraum wie eine geometrische Folge mit einem mittleren Quotienten5 von etwa 0,74 (bis KW22) bzw. 0,84 (bis KW25), und zwar ziemlich analog zu den wöchentlichen Neuinfizierten. Daraus kann man zusätzlich schließen, dass Deutschland seine Teststrategie kaum verändert und hauptsächlich verdächtige Personen getestet hat, die nicht nur eindeutige Symptome zeigen, sondern auch aus einem Hotspot kommen oder Kontakt zu einem Infizierten gehabt haben - obwohl die Kapazitäten wesentlich mehr Tests zugelassen hätten. In den untersuchten zwölf Wochen schwankte die wöchentliche Anzahl zwischen 325.000 und 433.000.
An die NIT-Daten ist für den Zeitraum bis zur 22. Kalenderwoche eine einfache Exponentialfunktion vom Typ yt=cqt angepasst worden mit yt=NITt. Die nicht-lineare Interpolation durch Kleinste-Quadrate-Schätzung ergibt für die Parameter c=0,096 und q=0,73. Diese Kurve ist ebenfalls in Abbildung 2 eingezeichnet worden und könnte als Mittelfrist-Prognose für die weitere Entwicklung verwendet werden. Ähnliches lässt sich für die Kurve der wöchentlichen Mittelwerte der Neuinfizierten bis zur 22. Kalenderwoche anpassen (c=38.283 und q=0,70).
Bei der Analyse der NIT-Werte für verschiedene Länder ist uns die Möglichkeit zur Festlegung einer Untergrenze aufgefallen, die etwa bei 1% für die NIT-Werte liegt. Wird dieser Wert in den nachfolgenden Wochen dauerhaft unterschritten, kann man von einer erfolgreichen Eindämmung der Pandemie sprechen. Dieses gilt bereits seit Längerem für Südkorea (0,27%) oder Australien (0,05%) und Neuseeland (0,05%) sowie in Europa etwas kürzer für Dänemark (0,36%), Österreich (0,41%) und Norwegen (0,61%). In Klammern sind die NIT-Werte von Anfang Juni angegeben. Deutschland schafft es erstmalig in der 22. Kalenderwoche (siehe Tabelle 1). Man erkennt, dass in beiden Abbildungen der Messwert für die 25. Kalenderwoche deutlich von den Exponentialkurven abweicht und somit ungewöhnlich hoch ist.
Tabelle 1: Daten Deutschland zur Fallstudie 1 | |||||||||
KW | Neuinf. | Tests | NIT | R4 | R7 | RH | Spanne R4 | Spanne R7 | Spanne RH |
14 | 38.093 | 408.348 | 9,33 | 0,94 | 0,93 | 1,33 | 0,17 | 0,05 | 0,3 |
15 | 27.625 | 380.197 | 7,27 | 0,82 | 0,83 | 0,9 | 0,16 | 0,1 | 0,24 |
16 | 18.656 | 331.902 | 5,62 | 0,8 | 0,79 | 0,63 | 0,21 | 0,08 | 0,23 |
17 | 13.521 | 363.890 | 3,72 | 0,82 | 0,82 | 0,67 | 0,12 | 0,03 | 0,12 |
18 | 7.982 | 326.788 | 2,44 | 0,82 | 0,82 | 0,54 | 0,13 | 0,05 | 0,12 |
19 | 6.400 | 403.875 | 1,58 | 0,89 | 0,89 | 0,63 | 0,2 | 0,04 | 0,4 |
20 | 5.122 | 432.666 | 1,18 | 0,9 | 0,89 | 0,72 | 0,19 | 0,11 | 0,14 |
21 | 3.873 | 353.467 | 1,1 | 0,85 | 0,87 | 0,7 | 0,23 | 0,11 | 0,17 |
22 | 3.245 | 405.269 | 0,8 | 0,93 | 0,91 | 0,78 | 0,4 | 0,07 | 0,34 |
23 | 2.378 | 340.986 | 0,7 | 0,97 | 0,94 | 0,72 | 0,51 | 0,11 | 0,37 |
24 | 2.268 | 325.416 | 0,7 | 1,05 | 1,06 | 0,88 | 0,51 | 0,18 | 0,19 |
25 | 3.898 | 377.544 | 1,03 | 1,5 | 1,44 | 1,34 | 1,77 | 0,53 | 0,96 |
Zu Vergleichszwecken mit den R-Werten soll für die wöchentlichen Neuinfizierten, die in der 14. Kalenderwoche 38.093 betragen, die Reduktion der Werte auf etwa 10% der Ausgangslage (in der 21. Kalenderwoche auf 3.873) betrachtet werden. Ähnlich sieht es für die NIT-Maßzahl aus: von 9,33% in der 14. Kalenderwoche auf 0,83% in der 22. Kalenderwoche. Somit ergibt sich eine Verringerung auf etwa ein Zehntel nach gut sieben Wochen für die Neuinfizierten und nach knapp acht Wochen für NIT.
Die Definition der Reproduktionszahl R bei Epidemien beinhaltet den Mittelwert der Anzahl der Ansteckungen durch einen Infizierten. Beim Robert-Koch-Institut werden dazu die beiden Schätzmethoden R4 und R7 verwendet, die als Quotient von neuen zu alten gleitenden Durchschnitten (Summen) der Ordnung 4 bzw. 7 berechnet werden. Dabei wird die ursprüngliche, allseits bekannte Zeitreihe der Neuinfizierten nach Meldedatum nunmehr auf das jeweilige Erkrankungsdatum umgeordnet, das bei etwa 60% der Erkrankten von Anfang an medizinisch schon festgelegt ist. Bei den übrigen 40% wird dieses Datum über eine erfahrungsbedingte Verteilung ermittelt (Imputation6). Zusätzlich erfolgt noch eine Korrektur des Übermittlungsverzugs der Neuerkrankten (Nowcasting7). Außerdem werden die letzten vier Werte dieser neuen Zeitreihe "Neuinfizierte nach Erkrankungsdatum" noch als provisorisch betrachtet und nicht in die Berechnung der R-Werte einbezogen. R4 bestimmt sich aus dem Quotienten der Summe von vier aufeinander folgenden Werten und den vier daran anschließenden, weiter zurück liegenden Werten. Diese Variante neigt zu Ausreißern und größeren Schwankungen (in Tabelle 1 beträgt die Spannweite der sieben Werte innerhalb einer Woche zwischen 0,12 und 1,77 und im Mittel 0,39).
Aus dem Grund ist man beim Robert-Koch-Institut nunmehr zum R7 übergegangen. Dabei wird der Quotient folgender Summe gebildet. Die erste besteht aus den aktuelleren aufeinanderfolgenden sieben Werten. Die zweite Summe besteht ebenfalls aus sieben Folgewerten, die drei Zeitpunkte später beginnen. Das heißt, es gibt eine Überschneidung von vier Tagen im mittleren Bereich. Diese sogenannte Generationszeit stellt die Ansteckungsphase dar. Wie man aus Tabelle 1 ersieht, sind die entsprechenden Spannweiten der Einzelwerte innerhalb einer Woche jetzt wesentlich kleiner (zwischen 0,03 und 0,53 mit einem Mittel von 0,13), wobei R7 deutlich stabilere Schätzungen ermöglicht und im Gegensatz zu R4 kaum Wochentagseffekte aufweist. Da das Robert-Koch-Institut die Zeitreihe der Neuinfizierten nach Erkrankungsdatum täglich - insbesondere bei den letzten Messwerten - modifiziert, wird die extreme Spannweite von 1,77 für R4 und 0,53 für R7 in der 25. Kalenderwoche sicher noch reduziert.
Diese beiden R-Werte können trendmäßig die Entwicklung der Epidemie abbilden.8 Sie werden einem Zeitpunkt messtechnisch zugeordnet, beschreiben jedoch das Infektionsgeschehen in einem Intervall der Vergangenheit, und zwar bei R4 etwa 8 bis 13 Tage und bei R7 etwa 8 bis 16 Tage zurück. In beiden Fällen werden für R noch 95%-ige Prognoseintervalle angegeben.
Die zugehörigen Wochenmittel R4 und R7 unterscheiden sich in der relevanten Zeit zwischen der 14. und 22. Kalenderwoche kaum. Mit geringen Differenzen liegen sie im Durchschnitt bei 0,86. In den drei Wochen danach stiegen sie stark an, und zwar auf ein Gesamtmittel von 0,93 (siehe Tabelle 1 und Abbildung 3).
Zusätzlich wurden die R-Werte des Helmholtz-Instituts aufgenommen, die mit RH bezeichnet sind. Diese werden aus den Neuinfizierten nach Meldedatum über ein umfangreiches epidemiologisches Mehrgleichungssystem ermittelt.9
Es wird dort ebenfalls ein zugehöriges 95%-iges Prognoseintervall angegeben. Diese R-Werte könnten vermutlich dichter am Infektionsgeschehen sein als die beiden Versionen des Robert-Koch-Instituts - wie wir gleich sehen werden. Es hat bisher jedoch noch niemand den theoretischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Schätzmethoden dargestellt. Empirisch sind die RH-Werte häufig kleiner als R4 oder R7. In Tabelle 1 gilt das für alle Wochenmittel mit Ausnahme der ersten beiden. Das Gesamtmittel von RH fällt mit 0,77 (bis KW22) bzw. 0,82 (bis KW25) ebenfalls deutlich kleiner aus. Die Variation von RH ist in unserer Studie etwa auf dem Niveau von R4 (siehe Tabelle 1).
Es ist bemerkenswert, dass in den meisten Medien theoretisch nur rudimentär auf die Reproduktionszahl bezogen auf einen Zeitbereich eingegangen wird, obwohl sie empirisch überall zur Anwendung kommt und in aller Munde ist. Fast immer wird R nur qualitativ interpretiert. R-Werte auf Dauer größer als 1 bedeuten Gefahr, weil unser Gesundheitssystem durch die exponentiell wachsende Zahl von Erkrankten überfordert werden könnte. Werte von R kleiner 1 sind positiv zu sehen, weil die Zahl der Neuinfizierten exponentiell kleiner wird. Der Spezialfall R=1 signalisiert ein konstantes Infektionsgeschehen. Insbesondere die Schwankungen der Tageswerte von R4 (RH ist nicht so bekannt) beunruhigen viele Menschen. Wenn sie später mit weiteren Daten beim Robert-Koch-Institut von über 1 auf knapp unter 1 revidiert werden, erzeugt das zusätzliches Misstrauen. Quantitative Aussagen, insbesondere zur Beschreibung der Dynamik über eine längere Zeit, können nur von Spezialisten vorgenommen werden, weil man dazu einen Modellsimulator benötigt, der praktisch von den Medien - vielleicht wegen der Komplexität - nicht diskutiert wird. Eine lobenswerte Ausnahme bildet Zeit-Online10 mit einem Simulator, der auf Basis eines epidemiologischen Modells für konstante R unter speziellen Nebenbedindungen den Krankheitsverlauf nachbildet.
Man könnte nun versuchen, mit Hilfe des Simulators von Zeit-Online heraus zu finden, welcher mittlere R-Wert den Rückgang der Neuinfizierten in der Kalenderwoche 14 auf etwa ein Zehntel des Basiswertes in der Zeit von sieben Wochen entspricht. Für R=0,6 ergibt der Simulator eine Zeitspanne von knapp sieben Wochen, für R=0,7 sind es etwa zehn Wochen. Das bedeutet, dass von den drei R-Werten der RH-Wert mit einem Mittel von 0,77 dem empirischen Verlauf mit einer geschätzten Zeitspanne von etwa zölf Wochen am ehesten nahe kommt, allerdings klar zu groß ist. Das gilt erst recht für das Mittel von R4 und R7 über die 14. bis 22. Kalenderwoche mit 0.86. Denn für R=0,8 ergibt der Simulator eine Zeitspanne von knapp drei Monaten oder dreizehn Wochen und für R=0,9 von etwa sieben Monaten oder dreißig Wochen für die Reduktion des Ausgangswertes in der 14. Kalenderwoche auf ein Zehntel. Somit weisen die R-Werte des Robert-Koch-Instituts eine viel stärkere Abweichung zur Entwicklung der Neuinfizierten auf und beschreiben diese in dem betrachteten Zeitabschnitt nur mäßig. Die neue NIT-Maßzahl zeigt mit einer Zeitspanne von acht Wochen weitaus die beste Einschätzung im Vergleich mit den R-Werten.
In der 22. bis 24. Kalenderwoche sinken die wöchentlichen Neuinfektionen sukzessive auf neue Tiefstände. Während die mittleren wöchentlichen NIT-Werte diesen Sachverhalt exakt widerspiegeln, erhöhen sich die drei mittleren R-Werte von Woche zu Woche. Bedingt durch den bisher stärksten lokalen Ausbruch von Infektionen in einer Fleischfabrik im Landkreis Gütersloh steigen alle vier Maßzahlen in der 25. Kalenderwoche deutlich an (siehe Tabelle 1).
Vom Robert-Koch-Institut wird den Neuinfizierten ein Erkrankungsdatum zugeordnet, um die R4- und R7-Reproduktionszahlen berechnen zu können. Aktuell ist dabei in der 25. Kalenderwoche am 16.06.2020 mit etwa 1.200 Erkrankten eine stark hervorragende, isolierte Spitze aufgetreten. Bei den Neuinfizierten nach Meldedatum liegt erstmals am 17.06.2020 mit 580 infizierten Personen ein deutlich höherer Wert vor.
Wenn dieser Spitzenwert für die Erkrankungen im Zähler der jeweiligen Quotienten von R4 und R7 steht, werden hohe bis sehr hohe R-Werte ermittelt, wie aus den Lageberichten des Robert-Koch-Instituts vom 20. bis 23. Juni 2020 zu ersehen ist. Diese ursprünglich sehr hohen R-Werte (zwischen 2 und 3) sind inzwischen nach täglicher Neubestimmung des Erkrankungsdatums reduziert worden. Man könnte diese Zahlen als korrektes Anzeigen des großen Ausbruchs in Gütersloh interpretieren, wenn nicht das Robert-Koch-Institut immer wieder darauf hinweist, dass seine aktuellen R-Werte das Geschehen von vor 8-13 Tagen (bei R4) bzw. 8-16 Tagen (bei R7) beschreiben. Damit tritt bei den Betrachtern eine gewisse Verwirrung ein, zumal die beiden R-Werte, wenn die isolierte Spitze im Nenner steht, sehr stark abfallen. Dieses Phänomen kann man deutlich für R4 ab dem 24. Juni und für R7 etwas später aus den entsprechenden Lageberichten des Robert-Koch-Instituts mit Werten klar unter 1 entnehmen. Solche starken Unterschiede bei den Einzelwerten binnen einer Woche von etwa 1,7 bei R4 und 0,5 bei R7 sind schwer zu vermitteln.11 Die RH-Werte des Helmholtz-Instituts sind aktuell etwas tiefer und gleichmäßiger und werden kaum revidiert.
In der 25. Kalenderwoche steigt der wöchentliche NIT-Wert mit 1,03% wieder knapp über die wichtige 1%-Grenze.12 Wenn man deutschlandweit die täglichen Testzahlen hätte, würde man mit einem gleitenden Siebener-Durchschnitt, wie später in diesem Aufsatz für Bayern gezeigt wird, eine passende tägliche NIT-Kurve erhalten, die weniger volatil ist als die der R-Werte.
Zweite Fallstudie
Das Bundesland Bayern (BY) veröffentlicht13 sogar die Anzahl der täglichen Tests und ist somit für weiterführende Analysen wie in der ersten Fallstudie besonders geeignet. Es ist, bezüglich der beiden historischen Kriterien kumulierte Todesfälle und kumulierte Fallzahlen, auf dem letzten Platz im Ranking aller Bundesländer.14
Abbildung 4 zeigt die wöchentlichen Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner in Bayern und Deutschland von Kalenderwoche 14 bis 25. Dabei sieht man, dass die Kurve für Bayern anfangs deutlich höher liegt, sich bis zur Kalenderwoche 22 von oben an die Kurve für Deutschland annähert, und danach diese sogar unterschreitet. Während die Kurve für Deutschland wegen des starken Ausbruchs der Neuinfektionen in einer Großschlachterei in Nordrhein-Westfalen in der 25. Kalenderwoche ansteigt, verringern sich die Inzidenzen für die Neuinfizierten in Bayern stetig. Die Kurve für die Maßzahl "wöchentliche Neuinfizierte pro Test" verläuft sehr ähnlich, mit dem kleinen Unterschied, dass NIT in Bayern schon ab der Kalenderwoche 21 kleiner ausfällt als die entsprechenden Werte in Deutschland (vergleiche Abbildung 5 und Tabelle 2). Das heißt, in Bayern ist seit der 14. Kalenderwoche die (positive) Entwicklung sogar schneller verlaufen.
Tabelle 2: Daten Bayern zur Fallstudie 2 | |||||
KW | Neuinf. | Tests | NIT | RH | Spanne RH |
14 | 10.866 | 69.976 | 15,53 | 1,61 | 0,57 |
15 | 7.577 | 65.684 | 11,54 | 0,96 | 0,47 |
16 | 4.715 | 64.379 | 7,32 | 0,55 | 0,24 |
17 | 3.057 | 71.290 | 4,29 | 0,6 | 0,19 |
18 | 1.745 | 61.147 | 2,85 | 0,51 | 0,12 |
19 | 1.291 | 69.134 | 1,87 | 0,51 | 0,33 |
20 | 1.088 | 77.322 | 1,41 | 0,71 | 0,22 |
21 | 770 | 77.222 | 1,0 | 0,62 | 0,19 |
22 | 627 | 82.213 | 0,76 | 0,72 | 0,23 |
23 | 313 | 65.491 | 0,48 | 0,49 | 0,32 |
24 | 261 | 68.137 | 0,38 | 0,65 | 0,28 |
25 | 254 | 74.401 | 0,34 | 0,72 | 0,35 |
Die wöchentlichen Neuinfizierten sind hier bereits nach sechs Wochen auf ein Zehntel reduziert worden (siehe Tabelle 2). Eine Begründung dafür könnte die um etwa 20% höheren Testzahlen in Bayern sein. Wenn man für Deutschland und Bayern mit den Werten aus Tabelle 1 und 2 für die Kalenderwochen 14 bis 22 jeweils die wöchentlichen Tests pro 100.000 Einwohner berechnet und daraus die jeweiligen Mittelwerte bestimmt, erhält man für Deutschland 456 und für Bayern 545 wöchentliche Tests pro 100.000 Einwohner. Das könnte im Zusammenhang mit den früher häufig in Bayern auftretenden lokalen Ausbrüchen stehen. Die neue Maßzahl NIT auf wöchentlicher Basis bildet diesen Sachverhalt korrekt ab.
Für Bayern liegen uns nur die täglichen R-Werte des Helmholtz-Instituts vor.15 Die wöchentlichen Mittelwerte RH sind - bis auf die ersten beiden Wochen - immer etwas kleiner als die entsprechenden Werte für Deutschland, was schon ein Hinweis auf eine schnellere Verbesserung ist. In beiden Regionen wird nur in der 14. Kalenderwoche ein deutlich über 1 liegender Wert erreicht.
Wenn man wie in der ersten Fallstudie versucht, mit dem Simulator einen mittleren R-Wert zu finden, der nunmehr die Fallzahlen schon nach sechs Wochen auf ein Zehntel des ursprünglichen Bestandes verringert, so müsste dieser etwas unter 0,6 liegen. Da der Durchschnitt der RH-Werte für Bayern in dieser Zeitspanne 0,75 beträgt, kommt man auf gut elf Wochen. Das ist wie in der ersten Fallstudie wieder deutlich zu hoch, aber wegen der hohen Volatilität der Schätzung von R noch akzeptabel. Außerdem sieht man, dass selbst mittlere Abweichungen von R starke Unterschiede im Bezug auf die Zeitspanne bewirken. Die neue Maßzahl NIT ist wieder wesentlich besser, weil sie eine korrekte Einschätzung ermöglicht.
Die täglichen NIT-Einzelwerte für Bayern bieten zwar weitere Informationen, schwanken jedoch zu stark. Daher ist es sinnvoller, jedem Tag einen gleitenden Siebener-Durchschnitt für NIT zuzuordnen. Dieser ist als Quotient aus der Summe der sieben zurückliegenden Werte (unter Einschluss des aktuellen Wertes) für die täglichen Neuinfizierten und der entsprechende Summe der täglichen Tests zu berechnen.
In Abbildung 6 sieht man einen ziemlich glatten Verlauf nach dem Muster einer Exponentialfunktion.16 Seit der 22. Kalenderwoche liegt die Kurve klar unter dem wichtigen R-Richtwert von 1 Prozent, was somit seit Ende Mai auf eine erfolgreiche Eindämmung von SARS-CoV-2 hinweist, trotz mehrfacher, allerdings kleinerer lokaler Ausbrüche in Bayern. Mit NIT-Werten unter 0,4, wie in den Kalenderwochen 24 und 25 nähert sich Bayern europäischen Spitzenwerten wie in Dänemark oder Österreich an.
Fazit
In zwei Fallstudien ist die Qualität unserer Maßzahl NIT (Neuinfizierte pro Test) im Vergleich zur Reproduktionszahl R bestätigt worden.
Für Deutschland ergibt sich eine exponentielle Reduktion der Neuinfizierten von der 14. Kalenderwoche in gut sieben Wochen auf ein Zehntel des Ausgangswertes. NIT läuft fast parallel dazu und kommt auf knapp acht Wochen, um eine entsprechende Verringerung zu erreichen. Von den drei verwendeten Reproduktionszahlen schneidet die Version des Helmholtz-Instituts mit einer geschätzten Zeitspanne von etwa zwölf Wochen noch am besten ab. Die beiden R-Werte des Robert-Koch-Instituts sind deutlich schlechter. Alle drei Varianten fallen im relevanten Zeitbereich zwischen der 14. und der 22. Kalenderwoche zu hoch aus. Auch beim Vergleich mit Bayern, wo die Reduktion auf ein Zehntel bereits nach sechs Wochen ab der 14. Kalenderwoche eintritt, erhält man ein ähnliches Bild. NIT läuft wieder parallel zu den Neuinfizierten und erreicht das korrekte Ergebnis. Der R-Wert des Helmholtz-Instituts ist für Bayern etwas kleiner als für Deutschland und kommt auf eine noch befriedigende Einschätzung von elf Wochen.
Eine zweite, gute Eigenschaft von NIT ist die durch Berechnungen für viele Länder empirisch festlegbare Obergrenze von ein Prozent, die nach unserer Meinung eine beherrschbare Eindämmung der Corona-Pandemie kennzeichnet.
NIT besitzt als Maßzahl eine einleuchtende Definition und ist im Vergleich zu R leichter zu schätzen, insbesondere bei geringen Fallzahlen. Sie beschreibt den Verlauf der Epidemie direkter und mit weniger Verzögerung als R. Ferner erlaubt sie mit der Obergrenze von ein Prozent eine empirisch begründete Klassifikation oder Normierung. Allerdings ist sie nicht zentral in ein bewährtes epidemiologisches Modell17 eingebettet wie die Reproduktionszahl.
Die wichtige, in diesen Untersuchungen aufgezeigte, dynamische Eigenschaft des R-Wertes bei Betrachtung über eine längere Zeitspanne, ist den meisten Medien und Interessierten nicht vertraut, weil sie sich nur in der linearen Welt auskennen. Epidemiemodelle, die R als fundamentale Basisgröße enthalten, sind jedoch von exponentieller, also nicht-linearer Bauart. Gerade diese Vorstellungsschwierigkeit kann durch die hier ins Spiel gebrachte, zweite Maßzahl NIT ausgeglichen werden.
Über die Autoren:
Prof. Dr. Walter Mohr
Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften, Lehr- und Forschungstätigkeiten an Fachhochschulen und Universitäten mit über 50 Veröffentlichungen, insbesondere in den Bereichen Zeitreihenanalyse und Wirtschafts- und Wahlprognosen sowie medizinischen Qualitätsuntersuchungen (eHealth).
Dr. Frank W. Püschel
Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften, Lehrtätigkeiten im Hochschulbereich, Forschungsschwerpunkt auf den Gebieten der Zeitreihenanalyse und Wirtschaftsprognosen. Aktuell tätig in der Geschäftsführung eines Medizinproduktherstellers.