zurück zum Artikel

Neutrinos: Nun jagt auch China Geisterteilchen

Uwe Kerkow
komplexe Messtechnik in einer Glaskugel

Fotodetektor für Neutrino-Nachweise. Foto: VPales, shutterstock

China hat einen großen Neutrino-Detektor mit hoher Messgenauigkeit gebaut. Nun kann Peking auch auf diesem Gebiet eigenständige Grundlagenforschung aufbauen.

Jetzt hat auch China den Bau Neutrinodetektors in 700 Meter Tiefe abgeschlossen [1]. Die kugelförmige Anlage, die die schwer fassbaren Teilchen nachweisen soll, besteht aus Acryl und hat einen Durchmesser von 35,4 Metern. Sie befindet sich in einer Granitschicht in Kaiping, einer Stadt in der Provinz Guangdong im Süden Chinas

Der Bau des Projekts, das von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und den Behörden der Provinz Guangdong initiiert wurde, hatte bereits 2015 begonnen [2]. Die Installation des Detektors wird voraussichtlich bis Ende November abgeschlossen sein. Der Regelbetrieb ist ab August 2025 geplant.

Neutrinos sind elementare subatomare Teilchen ohne elektrische Ladung und mit sehr geringer Masse. Sie entstehen zum Beispiel beim radioaktiven Betazerfall. Da sie nicht elektrisch geladen sind, haben Neutrinos keine ionisierende Wirkung. Mit Materie wechselwirken sie nur durch die schwache Kraft.

Neutrinos sind die Geisterteilchen der modernen Physik

Es sind daher die durchdringendsten subatomaren Teilchen [3], die eine enorme Anzahl von Atomen durchdringen können, ohne eine Reaktion auszulösen. Nur eines von zehn Milliarden Neutrinos, das die Materie über eine Strecke durchquert, die dem Durchmesser der Erde entspricht, reagiert mit einem Proton oder einem Neutron.

Weil sie durch alles schlicht hindurchfliegen, ist ihr Nachweis unglaublich schwierig und deshalb werden meist auch imposante Anlagen für ihren Nachweis gebaut. Andererseits strahlt die Sonne so viele dieser Elementarteilchen ab, dass pro Sekunde etwa 100 Milliarden von ihnen jeden unserer Daumennägel durchqueren [4]. Aufgrund dieser extrem großen Zahlen werden Nachweise doch wieder möglich.

Immerhin ein Prozent ihrer Energie gibt unsere Sonne in Form von Neutrinos ab.

Neutrinodetektoren unterirdisch …

Viele Neutrinodetektoren sind unterirdisch errichtet worden, um sie vor kosmischer Strahlung und anderer Hintergrundstrahlung abzuschirmen. Der Nachweis ist nur indirekt und mit extrem empfindlicher Messtechnik möglich.

Bekannt geworden ist vor allem der Super Kamiokande [5] in Japan, weil man darin so tolle Fotos machen kann. Dieser Detektor in Japan besteht aus einer Kugel, die mit 50.000 Kubikmeter Wasser gefüllt werden kann. Das Wasser ist von Fotodetektoren umgeben, die Wechselwirkungen zwischen den Neutrinos und den Wasseratomen aufspüren.

Weitere unterirdische Detektoren befinden sich etwa in Kanada [6], in Italien [7] und den USA [8]. Sie unterscheiden sich vor allem durch die Medien, die verwendet werden, um die geisterhaften Teilchen "einzufangen", also zu Wechselwirkungen zu veranlassen. Neben Wasser kommt dafür auch Schweres Wasser zum Einsatz sowie fester Kunststoff oder spezielle Flüssigszintillatoren.

… oder unter Wasser

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Neutrinodetektoren in natürlichem Wasser oder in Eisformationen unterzubringen. In diese Kategorie fällt zum Beispiel KM3NeT [9], ein Tiefsee-Neutrino-Teleskop, das an drei Standorten im Mittelmeer etwa fünf Kubikkilometer Wasser auf Neutrino-Wechselwirkungen prüft. Auch Russland betreibt eine ähnliche Anlage – tief unten im Baikalsee [10].

Imponierend ist auch IceCube [11], ein Detektor tief unter dem Südpol, der einen Kubikkilometer klares, altes Eis überwacht. Wechselwirken von Neutrinos mit dem Eis, entstehen Lichtquanten, die nachgewiesen werden können. An diesem Projekt ist auch Deutschland maßgeblich beteiligt.

Präzise Untersuchung von Neutrinos verschiedener Herkunft geplant

Das Jiangmen-Neutrino-Observatorium [12] soll mindestens 30 Jahre lang betrieben werden und verschiedenen Zwecken dienen. Geplant sind sowohl der Nachweis von Reaktorneutrinos aus den Kernkraftwerken Yangjiang und Taishan als auch Beobachtungen von Supernova-Neutrinos sowie von solaren, atmosphärischen und Geoneutrinos.

Die chinesischen Quellen betonen, dass der Jiangmen-Flüssigszintillator-Detektor über derzeit weltweit höchste Energieauflösung von drei Prozent (bei 1 MeV) verfügt. Das bedeutet, dass auch die Massen der nachgewiesenen Neutrino-Treffer genauer bestimmt werden können als bisher.

Der Hauptzweck des Observatoriums besteht aber darin, den Wissenschaftlern zu helfen, die Neutrinomassen-Hierarchie besser zu verstehen - ein Schlüsselfaktor bei der Untersuchung der physikalischen Modelle des Universums und seiner Entwicklung.

Auffällig ist, dass China in den letzten Jahren sehr rasch für alle Zweige der physikalischen Grundlagenforschung eigene Anlagen errichtet hat – von der Radioastronomie über die Kernfusion und mehrere Teilchenbeschleuniger bis zum Projekt in Kaiping.

China baut eigene Anlagen

Auch wenn der chinesischen Politik keineswegs Paranoia nachgesagt werden sollte, könnte ein Grund dafür darin zu suchen sein, dass das Klima im Westen gegenüber chinesischer Forschung immer feindseliger wird – vor allem in den USA [13], zunehmend aber auch in Europa [14].

Z.B. werden auch am Teilchenbeschleuniger des CERN Neutrinos eingefangen [15] und untersucht. Und gerade hat das bei Genf gelegene, im europäischen Verbund betriebene Forschungsvorhaben beschlossen, die Kooperation mit etwa 500 russischen Wissenschaftlern am 30. November zu beenden [16].

Was also hätte China vom Westen wohl zu erwarten, vor allem, wenn eine beteiligte Seite den Konflikt um Taiwan zuspitzt?

Warum Neutrinos jagen?

Die Jagd auf Neutrinos ist aus mehreren wichtigen Gründen für die Physik und unser Verständnis des Universums bedeutend [17]. Neutrinos bieten einzigartige Einblicke in kosmische Ereignisse wie Supernovae und das Innenleben von Sternen, auch in das unserer Sonne. Sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Untersuchung des Ursprungs der Materie und der Entwicklung sichtbarer Strukturen im Universum.

Die Neutrinoforschung trägt dazu [18] bei, unser Verständnis des Standardmodells der Teilchenphysik zu vervollständigen. Im Zuge dieser Forschung können Neutrinos vielleicht auch dabei helfen, zu erklären, warum das Universum von Materie und nicht von Antimaterie dominiert wird.

Vorstellbare Anwendungen

Die Neutrinoforschung ist zwar noch weitgehend theoretisch, könnte aber zu praktischen Anwendungen führen [19], wie die Überwachung der nuklearen Proliferation, bei Untersuchungen der Erdkruste auf Mineralvorkommen und der Entwicklung neuer Kommunikationsformen ‒ möglicherweise sogar für den interstellaren Einsatz.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9979384

Links in diesem Artikel:
[1] https://tvbrics.com/en/news/china-builds-world-s-largest-transparent-spherical-neutrino-detector-700-meters-underground/
[2] https://english.news.cn/20230616/191b740b54ba416bb896a0d43caf1074/c.html
[3] https://www.britannica.com/science/neutrino
[4] https://neutrinos.fnal.gov/sources/solar-neutrinos/
[5] https://www-sk.icrr.u-tokyo.ac.jp/en/sk/
[6] https://sno.phy.queensu.ca/
[7] https://borex.lngs.infn.it/about-borexino/
[8] https://news.fnal.gov/wp-content/uploads/nova.pdf
[9] https://www.km3net.org/
[10] https://baikalgvd.jinr.ru/
[11] https://www.icecube-gen2.de/projekt/index_ger.html
[12] http://juno.ihep.cas.cn/
[13] https://www.universityworldnews.com/post.php?story=20240711122935490
[14] https://sciencebusiness.net/news/international-news/restricting-international-research-largely-european-and-north-american
[15] https://home.cern/news/news/experiments/preparing-next-era-neutrino-research
[16] https://www.swissinfo.ch/eng/science/cern-to-expel-500-russian-scientists-from-november-30/87643637
[17] https://www.pbs.org/newshour/science/what-is-a-neutrino-and-why-should-anyone-but-a-particle-physicist-care
[18] https://www.businessinsider.com/why-you-should-care-about-neutrinos-2013-12
[19] https://neutrinos.fnal.gov/faq/what-are-the-benefits-of-neutrino-research/