Newroz und die Lage der Kurden in der Türkei

Seite 4: Newroz im Schatten der eskalierenden militärischen Auseinandersetzung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schon in der Woche vor Newroz zeichnete sich ab, dass die türkische Regierung mit aller Härte gegen die kurdische Bevölkerung sowie alle Personen, die ihnen verdächtig erscheinen, diese zu unterstützen, vorgehen wird.

Zunächst traf es den britischen Akademiker Chris Stephenson, der seit 25 Jahren in Istanbul lebt und an der dortigen Bilgi Universität lehrt. Stephenson wollte an einem Prozess gegen drei Kollegen teilnehmen, die sich der Initiative "Akademiker für den Frieden" angeschlossen hatten, am 16. März 2016 verhaftet wurden und wegen Terrorpropaganda angeklagt sind. Bei der Durchsuchung am Eingang des Gerichts wurden Flugblätter für ein Newroz-Fest in Stephensons Tasche gefunden, der Wissenschaftler umgehend verhaftet und in Abschiebehaft genommen.

Kurz darauf wurde eine Delegation am Flughafen in Antalya festgesetzt. Diese bestand aus vier Menschenrechtsaktivistinnen, die im Auftrag der beiden Linken-Bundestagsabgeordneten Jelpke und Hunko verschiedene Newroz-Feierlichkeiten beobachten sollten. Dieser Auftrag endete ebenfalls im Abschiebeknast.

Fast im ganzen Land waren die Newroz-Feiern verboten. Trotzdem sammelten sich in Istanbul und vielen anderen Städten insgesamt hunderttausende Menschen, die sich "ihr" Fest nicht nehmen lassen wollten. In Istanbul ging die Staatsmacht mit Gewalt, u.a. mit massivem Einsatz von Tränengas, gegen die Demonstrierenden vor. Dabei kam eine Person ums Leben. Eine Autopsie soll nun die genauen Umstände des Todes klären.

Am vergangenen Freitag fand in Immersiv eine Kundgebung statt, an der Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzender der pro-kurdischen HDP, teilnahm. In Dersim verlief die Kundgebung friedlich und die Polizei verzichtete darauf, das Verbot gewaltsam durchzusetzen. In Hatay wurde eine kleine Kundgebung von der Polizei aufgelöst und ein Dutzend Menschen wurden festgenommen. Am vergangenen Samstag nahmen tausende Menschen an einer Kundgebung in Van teil, die ebenfalls trotz Verbot stattfinden konnte.

Batman: Kundgebung mit massiver Polizeipräsenz

Auch in Batman, einer kurdischen Stadt mit ca. 500.000 Einwohnern, war das für vergangenen Sonntag geplante Newroz-Fest verboten. Auch hier sammelten sich trotzdem Menschen, und auch hier sollte Demirtaş sprechen. Eine Gruppe von deutschen Aktivistinnen, die die Geschehnisse in Batman beobachtete, beschreibt die Ereignisse folgendermaßen:

... Nach ca. zwei Stunden machten wir uns gemeinsam mit Selahattin Demirtaş und ca. 50 Autos auf den Weg in die Stadt. Dabei wurden wir zwei Mal von schwer bewaffneten Militärs und Polizisten daran gehindert, in die Stadt zu gelangen. Neben gepanzerten Polizeifahrzeugen waren auch schwere Truppentransporter im Einsatz. Die Militärs bzw. Polizisten waren zum Großteil vermummt. Nach ca. einer Stunde erreichten wir die Innenstadt Batmans, wo trotz Verbots eine Newroz-Kundgebung stattfinden sollte. Die Polizei- und Militärpräsenz war auch hier sehr schwer. Zahlreiche Wasserwerfer, gepanzerte und mit Maschinengewehren ausgestattete Fahrzeuge, Polizeitrupps und zivile "Sicherheitskräfte" säumten die Plätze und sperrten Straßen ab.

Trotz dieser angespannten Lage versammelten sich ca. 2000-3000 Menschen, um den Reden zum Newroz-Fest zu folgen. Selahattin Demirtaş warf in seiner Rede den politischen Verantwortlichen eine ignorante und perspektivlose Konfrontationspolitik vor. Den Widerstand der Bevölkerung Batmans gegen die Repressionen stellte er in Zusammenhang mit dem Widerstandsgeist des Newroz-Festes.

Notiz: Die Gruppe von uns, die den lokalen Parlamentsabgeordneten begleitete, wurde im Laufe des Nachmittags Zeug_in massiver Polizei- und Militärgewalt. Wasserwerfer schossen unablässig mit Wasser, dem ätzende Stoffe beigesetzt waren, in die Menschenmenge in der Innenstadt. Polizist_innen in Uniform und in Zivil jagten Menschen durch die Straßen und schossen mit Tränengasgeschossen in die Menschenmenge. Dabei wurde unsere Beobachter_innengruppe gezielt mit Trängengasgeschossen beschossen, als sie aus dem lokalen Gebäude der HDP heraus die Auseinandersetzungen beobachtete.

Bewaffnete "Sicherheitskräfte" in Zivil zielten mit ihren Maschinengewehren auf unsere Gruppe. Zudem wurde mehrmals mit scharfer Munition in die Luft geschossen. Unsere Beobachter_innengruppe wurde Zeugin einer Verhaftung. Besonders irritierend war die Präsenz komplett vermummter und zivil gekleideter männlicher und weiblicher Personen, die mit Knüppeln oder Maschinengewehren bewaffnet gegen die feiernden Menschen vorgingen.

Newroz-Beobachtung

Friedliche Massenkundgebung in Amed

Trotz all der Berichte über gewalttätige Polizeieinsätze in verschiedenen türkischen und kurdischen Städten konnten etwa 250.000 Menschen unbehelligt ihren "neuen Tag" in Amed begehen. Das bestätigte der kurdische Schauspieler Vural Tantekin gegenüber Telepolis. Die Stimmung sei super und die Lage entspannt, so der in Amed lebende Künstler, der auf seiner Facebook-Seite Fotos von der zentralen Feier postete.

Bleibt zu hoffen, dass die Staatsmacht sich tatsächlich zurückhält, und nicht die Menschen, die oft weite Wege in Kauf nehmen, um in Amed dabei sein zu können, auf ihrem Heimweg attackiert. Auch das gehört zu den leidvollen Erfahrungen, die die kurdische Bevölkerung an ihrem "neuen Tag" in der Vergangenheit machen musste.

Falsche Fragen gestellt

Auch in den 1980er und 1990er Jahren, der Hochzeit des bewaffneten Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der PKK, ging Repression gegen linke und fortschrittliche Kräfte im ganzen Land Hand in Hand mit den militärischen Operationen und der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und Zerstörung ihres Lebensraums.

Auch diese unselige Tradition ließ Erdogan im vergangenen Jahr wieder aufleben. Neben der Inhaftierung der "Akademiker für den Frieden" haben vor allem Medien das Augenmerk der AKP-Regierung auf sich gezogen. Zunehmend versucht die Regierung, die Medien unter ihre Kontrolle zu bekommen. So ließ sie den Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung "Cumhürriyet", Can Dündar, und seinen Kollegen Erdem Gül verhaften. 92 Tage saßen die beiden Männer in Untersuchungshaft, weil Erdogan fand, sie hätten das Falsche geschrieben.

Vor allem aber haben sie falsche Fragen gestellt, nämlich ob es sich bei einem als Hilfslieferung deklarierten LKW-Konvoi nach Syrien im Frühjahr 2015 in Wahrheit um eine getarnte Waffenlieferung handelte. Bei ihrem Bericht bezogen die beiden Journalisten sich auf einen Bericht der Staatsanwaltschaft. Trotzdem wurden sie der Spionage und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt, und in U-Haft genommen. Diese wurde vom obersten Verfassungsgericht der Türkei für "nicht rechtens" befunden, so dass die beiden unter Protest Erdogans aus der U-Haft entlassen wurden. Am kommenden Freitag beginnt ein Prozess gegen Dündar und Gül, bei dem sie sich wegen der gegen sie erhobenen Vorwürfe verantworten müssen. Beiden droht jeweils bis zu 15 Jahren Haft.