Nicht nur die Ukraine, sondern auch US-Armee steckt in Rekrutierungskrise

US-Spezialeinheiten bei einer Übung in der Nähe von Winnyzja, Ukraine, am 21. September 2020. Bild: Mackenzie Mendez, U.S. Air Force / Public Domain

Liebesbeziehung der US-Amerikaner zur Armee ist beendet. Grund: Das Militär versagt und täuscht. Das hat ernste Folgen für den Soldatennachschub. Gastbeitrag.

Seit einigen Jahren beklagt eine Phalanx von Pentagon-Beamten und hochrangigen Offizieren im Ruhestand den Mangel an Amerikanern, die bereit sind, in der US-Armee zu dienen.

Justin Overbaugh ist Oberst der US-Armee mit vielen militärischen Erfahrungen, inklusive Rekrutierung.

Besonders akut ist das Problem für die Army, die größte der US-Streitkräfte, die in den letzten zwei Jahren ihr Ziel um 25.000 Rekruten verfehlt hat. Die Situation ist so ernst, dass Experten behaupten, es gefährde die Freiwilligenarmee, eine Institution, die seit einem halben Jahrhundert das US-amerikanische Militär mit Personal versorgt.

Warum versagt die Armee, eine Organisation, die sich ihrer Errungenschaften rühmt, bei dieser grundlegenden Aufgabe? Die Ausreden konzentrieren sich meist auf die Marktdynamik wie schrumpfende Rekrutierungspools, mangelndes Wissen der US-amerikanischen Jugend über die Möglichkeiten des Dienstes und die Auswirkungen von COVID-19.

Diese Faktoren sind zweifellos relevant, aber sind sie die eigentliche Ursache für das Versagen der Armee?

Rekrutierungskampagnen

Die derzeitigen Verantwortlichen scheinen das zu glauben. Nach dem Scheitern im Jahr 2022 hat die Armee ihre Bemühungen verstärkt, junge Menschen für den Dienst zu gewinnen.

Das und eine Kampagne, um "falsche Vorstellungen" über das Leben als Soldat zu widerlegen, waren die Hauptschwerpunkte des 104 Millionen Dollar schweren Werbebudgets der Armee im Jahr 2023.

Darüber hinaus investierte die Armee schätzungsweise 119 Millionen Dollar in den Vorbereitungskurs für zukünftige Soldaten. Dieses neue Programm ermöglichte es jungen US-Amerikanern, die aufgrund niedriger Eignungsnoten oder hoher Körperfettwerte zunächst disqualifiziert wurden, ihre Noten zu verbessern.

Nach Angaben der Armee schlossen über 8.800 Rekruten den Kurs ab und nahmen an der Grundausbildung für den Kampf teil. Letztendlich hat jedoch keine dieser Initiativen dazu geführt, dass die Streitkräfte ihre Quoten erreicht haben.

Marktdynamik nicht die eigentliche Ursache

Wenn die Marktdynamik nicht die eigentliche Ursache der Krise ist, was ist es dann? Ich glaube, dass die Armee ihre Rekrutierungsziele nicht aufgrund eines schwierigen Marktumfelds nicht erreicht, sondern weil ein großer Teil der US-Öffentlichkeit das Vertrauen in die Armee verloren hat und sie nicht mehr als eine Institution ansieht, in die man persönlich investieren sollte.

Der Soziologieprofessor Piotr Sztompka definiert Vertrauen als "eine Wette auf das mögliche zukünftige Handeln anderer". Er unterteilt Vertrauen in zwei Komponenten: Überzeugungen und Engagement.

Im Wesentlichen bringt jemand Vertrauen dem entgegen, an was man als etwas Zukünftiges glaubt, entsprechend dieser Überzeugung handelt die Person. Dies ist von direkter Bedeutung für die Rekrutierung: In einem Umfeld, in dem das Vertrauen groß ist, melden sich die Menschen eher zum Dienst, weil sie eine begründete Erwartung auf einen zukünftigen Nutzen haben.

Leider kann jeder, der heute einen Dienst in Erwägung zieht, auf zahllose Beispiele dafür verweisen, dass die Armee ihren Teil der Abmachung nicht einhält. Ob es sich nun um den Mangel an angemessenen und sicheren Unterkünften für Soldaten und ihre Familien handelt, das Dauerthema sexueller Übergriffe, die Unfähigkeit, die Selbstmordrate zu senken, eine genaue Buchführung über Eigentum und Gelder oder sogar um die Entwicklung eines echten körperlichen Eignungstests – die Armee und das Verteidigungsministerium scheitern dabei, Fortschritte zu erzielen.

Das Versagen, Kriege zu gewinnen

Diese Unzulänglichkeiten sind zwar katastrophal, verblassen aber im Vergleich zum eigentlichen Versagen der Armee: dem Versagen, Kriege zu gewinnen.

In seinem Buch "Why America Loses Wars" erinnert uns Donald Stoker daran, dass Gewinnen im Krieg bedeutet, "das Erreichen des politischen Ziels, für das der Krieg geführt wird". Gemessen an diesem Maßstab hat die Armee in den letzten zwei Jahrzehnten eindeutig bei ihrer raison d'être, ihrem Daseinsgrund, versagt, nämlich die Kriege der Nation zu führen und zu gewinnen.

Dieses Versagen hatte einen katastrophalen Preis: den Verlust von mehr als 900.000 Menschenleben, den Tod von mehr als 7.000 US-Soldaten und die Vergeudung von acht Billionen Dollar. Darüber hinaus haben die USA auf internationaler Ebene an Einfluss eingebüßt, und die Gewalt nimmt zu.

In Anbetracht der oben aufgeführten Schäden ist es kein Wunder, dass die amerikanische Bevölkerung in den letzten Jahren deutlich an Vertrauen in die Institution und ihre Führung verloren hat, was die mangelnde Bereitschaft, sich freiwillig zum Dienst zu melden, erklären könnte. Im Grunde genommen sieht es so aus, als ob die Einberufung zum Militär eine wirklich schlechte Wette wäre.

Veteranen-Vertrauen schwindet

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage unter Militärangehörigen hat ergeben, dass die Begeisterung für den Militärdienst ebenfalls deutlich nachgelassen hat, was den Schaden noch vergrößert. Auch wenn Fragen der Lebensqualität als Grund zur Besorgnis angeführt werden, darf man die Auswirkungen gescheiterter Kriege auf diesen Trend nicht außer Acht lassen.

Der Abzug aus Afghanistan im Jahr 2021, bei dem die Taliban nach 20 Jahren die Kontrolle über das Land übernommen haben, hat dazu geführt, dass sich die Veteranen verraten und gedemütigt fühlen und andere nicht ermutigen, ihren Lebensweg einzuschlagen.

Anstatt zu versuchen, die schwierige Marktdynamik zu überwinden, sollte sich die Armee daher sofort dazu verpflichten, sich zu verbessern. Sie kann damit beginnen, dass sie ihre erheblichen Versäumnisse und ihre verblüffende Unfähigkeit, der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber ehrlich zu sein, eingesteht.

Es gibt viele Offiziere im Ruhestand, die diese systematischen Fehler öffentlich erkannt haben, aber diese Art von Offenheit und Verantwortungsbewusstsein muss sich unter den gegenwärtig hochrangigen Offiziellen im gesamten Verteidigungssektor und im politischen Establishment verbreiten.

US-Militär nur für "Dominanz auf dem Schlachtfeld" aufgebaut

Sobald Ehrlichkeit wieder zu einem Grundwert geworden ist und das Heer die Tatsache zur Kenntnis genommen hat, dass es versagt hat, kann es damit beginnen, den Grund dafür zu erforschen.

Einfach ausgedrückt: Die Armee scheitert, weil sie zum Scheitern verurteilt ist. Sie sollte in Afghanistan und im Irak Ziele erreichen, die sie gar nicht erreichen konnte.

Die Professoren Leo Blanken und Jason Lapore weisen darauf hin, was jedem hochrangigen Verteidigungsbeamten inzwischen klar sein sollte: dass das US-Militär trotz seiner beeindruckenden Fähigkeiten in den Konflikten, die nicht unsere Existenz gefährdeten und in denen wir in den letzten zwei Jahrzehnten militärisch intervenierten, nur von begrenztem Nutzen ist.

Das liegt daran, dass das US-Militär für die "Dominanz auf dem Schlachtfeld" aufgebaut wurde und sich darin auszeichnet, aber mit der Aufstandsbekämpfung, dem Wiederaufbau und dem Aufbau demokratischer Institutionen betraut wurde – Aufgaben, für die es weder ausgebildet noch vorbereitet war.

Militär weigert sich, Bilanz zu ziehen

Diese Enthüllungen sind nicht neu, Militärbeamte in oberen Rängen hätten die Dynamik von Anfang an erkennen können, und offen gesagt, haben sie das auch. Von General Shinsekis ignorierten Warnungen über die Truppenstärke zu Beginn der Irak-Invasion bis hin zu den fortlaufenden Einschätzungen während des Irak- und des Afghanistan-Kriegs scheint es im gesamten Verteidigungsapparat (zumindest hinter verschlossenen Türen) klar gewesen zu sein, dass das US-Militär die politischen Ziele der Nation nicht erreichen konnte und werde.

Trotzdem versicherten hochrangige Verteidigungsbeamte der amerikanischen Öffentlichkeit, dass das US-Militär "Fortschritte" bei der Verwirklichung seiner Ziele mache, bis zu dem Punkt, an dem das Gegenteil offensichtlich wurde.

Doch genau in dem Moment, in dem die US-amerikanische Öffentlichkeit Rechenschaft fordert, werden viele der gleichen hochrangigen Offiziellen, die es versäumt haben, die festgelegten Ziele zu erreichen, stattdessen mit lukrativen Posten in der Rüstungsindustrie und im Ausland belohnt.

Da sich das Militär weigert, sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen, ist es nicht verwunderlich, dass die US-Gesellschaft das Wertvollste, was sie hat, ihre Söhne und Töchter, der Armee vorenthält.

Vertrauen als zentrale Ressource

Im Führungshandbuch der US-Armee heißt es, dass "Vertrauen die Grundlage der Beziehung der Armee zum amerikanischen Volk ist, das sich darauf verlässt, dass die Armee der Nation ethisch, effektiv und effizient dient".

Um das Vertrauen der US-Amerikaner zurückzugewinnen und die Rekrutierungskrise zu lösen, muss die Armee das tun, was alle anderen unternehmen müssen, wenn Beziehungen zerbrochen sind: Verantwortung übernehmen und mit Taten, nicht mit Worten, zeigen, dass man es mit Veränderung ernst meint.

Hochrangige Armeeverantwortliche könnten bei sich anfangen, indem sie die "unhinterfragten Annahmen, die die Grundlage der ... amerikanischen großen Strategie bilden", kritisch prüfen, die Modelle für die berufliche Entwicklung von Militäroffizieren neu bewerten und verstehen, wie falsch ausgerichtete militärische Anreizstrukturen dem Erreichen politischer Ziele entgegenwirken.

Unabhängig von der Herangehensweise sollte der Schwerpunkt darauf liegen, der Nation den oben erwähnten ethischen, effektiven und effizienten Dienst zu erweisen.

Wenn das Heer diese Chance jedoch ungenutzt verstreichen lässt, werden die Behauptungen, dass das Militär und das Verteidigungssystem im weiteren Sinne in der Lage sind, die Kriege der USA entscheidend zu gewinnen, unglaubwürdig, da die Öffentlichkeit verständlicherweise nicht bereit sein wird, persönlich in das Heer zu investieren.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Justin Overbaugh ist Oberst der US-Armee und verfügt über Erfahrungen in den Bereichen Kampftruppen, Sondereinsätze, Nachrichtendienst und Talentakquise. In seiner 25-jährigen Laufbahn leitete er Einsätze in Afghanistan, im Irak und in Europa und war von 2017 bis 2019 Kommandeur des Tampa Recruiting Battalion.