Nicht um alle Toten in der Ukraine darf getrauert werden

Vertrocknete Blumen vpr dem durch den Brandanschlag am 2. Mai ausgebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa. Bild: U. Heyden

Die Gedenkstätte für die Opfer des Massakers im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai wurde geräumt

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Vor der Botschaft der Niederlande in Kiew wurden Berge von Blumen für die Opfer des Flugzeugabsturzes in der Ost-Ukraine niedergelegt. Doch in Odessa wurde ein von Anwohnern improvisierter Gedenkplatz für die Opfer des Brandes im Gewerkschaftshaus am 2. Mai (Die Tragödie von Odessa) schon zweimal geräumt.

Die erste Räumung in der Nacht auf Sonnabend wurde von Mitarbeitern der Stadtreinigung und des "Euromaidan" durchgeführt. Den improvisierte Gedenkort vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus mit seinen Blumen, Kerzen und Info-Stellwänden hatten Aktivisten und Angehörige derjenigen geschaffen, die bei dem Massaker am 2. Mai im Gewerkschaftshaus getötet wurden (Gab es Drahtzieher der Tragödie von Odessa?). An diesen Ort der Trauer kamen täglich Passanten, um sich an Stellwänden über die Vorgänge am 2. Mai und die Biografie der Toten zu informieren.

Am Sonntag, nach der ersten Räumung, versammelten sich vor dem Gewerkschaftshaus erneut Regierungsgegner, legten wieder Blumen für die Umgekommenen nieder und befestigten an einem Flaggenmast in zwei Metern Höhe mit Ketten ein christliches Kreuz aus Metall. Daraufhin riefen die Anhänger des Euromaidan über soziale Netzwerke dazu auf, die Gedenkstätte erneut zu räumen, was in der Nacht auf Montag dann tatsächlich auch geschah.

Gedenkstätte vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus vor der Räumung. Bild: U. Heyden

Unklar blieb, wer hinter der ersten Räumung am Sonnabend genau steckte. Wie die Aktivistin Irina, eine ehemalige Stewardess, berichtete, erklärte der Bürgermeister, als man ihn in einer Sprechstunde zur Rede stellte, die Polizei haben die Gedenkstätte geräumt. Die Polizei habe erklärt, die Reinigungskräfte der Stadt hätten auf Anweisung des Bürgermeisters gehandelt.

Soja Kasanschi, eine ehemalige Maidan-Aktivistin, die nach dem Machtwechsel in Kiew zur Vize-Gouverneurin von Odessa ernannt wurde, erklärte via Facebook, sie sei kategorisch gegen neue Denkmäler und Gedenkstätten in der Stadt. Stattdessen müsse man den Soldaten in der Ost-Ukraine und den Verwundeten helfen. Vor der Räumung der Gedenkstätte am Gewerkschaftshaus hatte die Vize-Gouverneurin die Euromaidan-Anhänger aufgefordert, sich mit Aktionen zurückzuhalten. Radikale Aktionen würden dem Image der Stadt und dem Tourismus schaden. Tatsächlich leidet Odessa in diesem Sommer daran, dass die russischen Touristen ausbleiben. Viele Hotels sind unterbelegt.

Die Stimme der Opposition klingt noch schwach

Die Menschen in Odessa wagen nicht, über das offen zu reden, was am 2. Mai passierte, als mehrere tausend Angehörige des Rechten Sektors das Gewerkschaftshaus mit Molotow-Cocktails angriffen, es in Brand setzten und dann in dem vierstöckigen Gebäude mit Pistolen und Schlagstöcken über ihre Gegner herfielen. Offiziell gab es im Gewerkschaftshaus 48 Tote. Regierungskritiker sprechen von über 200 Toten.

Angehörige von verhafteten Regierungskritikern vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus haben Angst, ihre Gesichter zu zeigen. Bild: U. Heyden

Doch in den letzten Monaten hatten - vor allem an den Wochenenden - viele Menschen die Gedenkstätte vor dem Gewerkschaftshaus besucht. Mitte Juli organisierten regierungskritische Aktivisten vor dem Gewerkschaftshaus einen Flashmob zur Solidarität mit der Zivilbevölkerung in der Ost-Ukraine. Die Polizei griff nicht ein. Als jedoch Aktivistinnen auf dem Internationalen Kino-Festival von Odessa in Anspielung auf ein Theaterstück von Aleksandr Puschkin Plakate hochhielten mit der Aufschrift "Gelage während der Pest", wurden sie sofort von der Polizei abgedrängt.

Gedenkstätte. Bild: U. Heyden

Die Angehörigen derjenigen Regierungskritiker, die am 2. Mai während der Straßenkämpfe in der Innenstadt - noch vor dem Brand im Gewerkschaftshaus - verhaftet wurden, leben heute in Angst. Zehn Regierungskritiker sitzen in Haft, 40 stehen unter Hausarrest, wie ein UN-Bericht vom 15. Juni vermerkt.

Vom Rechten Sektor ist Niemand in Haft

Nur zwei Mitglieder des Rechten Sektors stehen wegen der Vorfälle am 2. Mai in Odessa unter Hausarrest. Ukrainische Regierungsmitglieder und ukrainische Medien bezeichneten das Vorgehen des Rechten Sektors gegen die "Separatisten" im Gewerkschaftshaus am 2. Mai in den letzten Monaten als "Rettung" für Odessa. Die Gerichtsverfahren gegen die Inhaftierten haben bisher nicht begonnen.

Inzwischen abgeräumte Stellwand mit Lebensläufen der im Gewerkschaftshaus Getöteten. Bild: U. Heyden

Mit politischen Äußerungen sind die Regierungskritiker in Odessa vorsichtig geworden. Alle drei Tage verhafte der Geheimdienst SBU Personen, die des Separatismus verdächtigt werden, erzählt die 28 Jahre alte Lidia, welche den Brand im Gewerkschaftshaus auf dem Dach des Gebäudes überlebt hat und aus Angst vor Verhaftung ihren wirklichen Namen nicht in einer Zeitung lesen will. Viele junge Aktivisten und Überlebende des Brandes sowie Teilnehmer der Demonstration in der Innenstadt am 2. Mai seien untergetaucht oder lebten in anderen Städten, erzählt Lidia.

Immer wieder kommt es vor, dass Regierungskritiker in Odessa tätlich angegriffen werden. Am Sonntag wurde Aleksandr Polischuk, der Sohn des bekannten Stadtrat- und KPU-Mitglieds, Wasili Polischuk, unweit seines Hauses von Unbekannten in schwarzer Kleidung mit Knüppel überfallen. Als Passanten nach der Polizei riefen, machten sich die Angreifer aus dem Staub. Ursache des Überfalls sei vermutlich die Aufklärungsarbeit von Vater und Sohn über die Tragödie vom 2. Mai gewesen, meinte Aleksandr Polischuk gegenüber dem örtlichen Internet-Portals timer.od.ua. Aufsehen erregte auch der tätliche Angriff von Euromaidan-Aktivisten gegen einen Auto-Halter, der hinter der Windschutzscheibe seines Fahrzeuges das schwarz-orangene St. Georgs-Bändchen befestigt hatte, das Kennzeichen derjenigen Ukrainer, die Russland gegenüber freundlich eingestellt sind.