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Nichtakademikerkinder: Gefangen im Bildungs-Trichter

Der Hochschul-Bildungs-Report bilanziert den Gesamtzustand des Hochschulsystems

Das deutsche Hochschulsystem wird "internationaler, durchlässiger und heterogener". Der Wandel hin zu einem digitalen, flexiblen und optimal berufsorientierten System ist aber "noch lange nicht geschafft". Zu diesem Schluss kommt der Jahresbericht 2017/18 [1] des Hochschul-Bildungs-Report 2020, den der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V. und die Unternehmensberatung McKinsey gemeinsam herausgeben. Im Stifterverband haben sich 3.000 Mitglieder - Dax-Konzerne, Mittelständler, Verbände, Privatpersonen - zusammengeschlossen. Er betreut über seine Tochter Deutsches Stiftungszentrum mehr als 650 Stiftungen mit einem Gesamtvermögen von über 2,9 Mrd Euro.

Der Report legt erstmals Zahlen dazu vor, "wie sich soziale Selektion an den Hochschulen fortsetzt". Alarmierend, so Volker Meyer-Guckel, stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes, sei die Zwischenbilanz insbesondere auch für das Handlungsfeld Lehrer-Bildung: Es gebe immer weniger MINT-Studienanfänger im Lehramt und männliche Grundschullehramtsanfänger. Berufs- und Praxisbezogenheit der Lehrveranstaltungen "werden extrem schlecht beurteilt". In Deutschland fehlten bis zu 95.000 Datenspezialisten sowie 24.000 Lehrer für ein schulisches Pflichtfach Informatik. Für Flüchtlinge werden bis 2020 minimal rund 40.000 Studienplätze benötigt, eventuell auch deutlich mehr.

Acht Empfehlungen

Für die Bildungspolitik der kommenden Jahre hat der umfangreiche Report acht Empfehlungen parat:

  1. Mehr Informatiklehrer ausbilden
  2. Datenanalysekompetenzen in allen Disziplinen sichern: Data Science an Hochschulen ausbauen
  3. Mehr Studierende für einen Auslandsaufenthalt gewinnen
  4. Ausweitung und Flexibilisierung des Angebotes an Quartärer Bildung (wissenschaftliche Weiterbildung sowie Digitalisierung des Studiums) fördern
  5. Praxiswissen und Berufsfeldorientierung bei Studierenden stärken
  6. Chancengerechtigkeit durch lebensnahes BAföG und Weiterführung des Hochschulpakts sichern
  7. Bildungspotenzial der Flüchtlinge nutzen
  8. Frauen schon an der Hochschule auf eine spätere Karriere vorbereiten

Die Experten gehen generell von einem bestehenden "Fachkräftemangel" in dem untersuchten Segment des Arbeitsmarktes aus und zeichnen eine Entwicklung, bei der die klassische Abfolge Schule - Studium - Beruf ergänzt wird durch eine stärkere Durchlässigkeit zwischen beruflicher Praxis einerseits und klassischem Studium, Weiterbildungsphasen bzw. "lebenslangem Lernen" andererseits. Deutsche Hochschulen sollten auch Formen der Digitalisierung nutzen, um ihren Anteil am Weiterbildungsmarkt zu erhöhen, meinen sie. Im Rahmen des Projekts "Offene Hochschule - Life-Long-Learning" seien bislang 110 neue flexible Studienmodelle implementiert worden.

Gleichzeitig liegt den Bildungsexperten am Herzen, dass benachteiligte Gruppen vom System unterstützt werden. So gebe es beispielsweise in Berlin die Regelung einer Bonuszahlung an die Hochschulen für Studienanfänger mit Migrationshintergrund oder aus beruflich qualifizierten Bewerbergruppen ohne Abitur.

Zu langsame Entwicklung

Der Hochschul-Bildungs-Report orientiert sich an messbaren Zielen für das Jahr 2020, die im Dialog mit Experten aus den Stifterverbands-Mitgliedsunternehmen, Wissenschaftsorganisationen und Vertretern der Zivilgesellschaft formuliert wurden. Dazu wird jedes Jahr der Status quo des Hochschulsystems in sechs Handlungsfeldern anhand von 75 Einzel-Indikatoren analysiert. Der Status quo des Jahres 2010 wird als Ausgangswert jeweils mit 0 Punkten angesetzt, die formulierten Ziele für 2020 mit 100 Punkten. Eine angemessene Halbzeitbilanz entspräche also 50 Punkten. Alles in allem vergibt der Report mit Stand 2015 allerdings nur: für Internationalität 44 Punkte, Chancengerechte Bildung 34 Punkte, Beruflich-akademische Bildung 25 Punkte, Quartäre Bildung 27 Punkte, MINT Bildung 24 Punkte und Lehrer-Bildung 15 Punkte. Über alle Felder hinweg sind das 30 Punkte. Diese Entwicklung zeige, dass sich das Bildungssystem nicht in der gewünschten Geschwindigkeit an die derzeitigen Herausforderungen anpasse.

Ein Fokusthema sind die "ungleichen Chancen von Frauen und Männern". Die Kernthese hierbei ist: Frauen sind bis zum Studienabschluss im Durchschnitt überproportional erfolgreich. Danach sinkt jedoch ihr Anteil in weiteren Bildungs- beziehungsweise Führungsebenen rapide. Der Anteil von Frauen an der Anzahl der Hochschulabsolventen wird auf immerhin fast 50 Prozent, derjenige an Führungskräften auf lediglich an die 30 Prozent beziffert.

Als Karrierehemmnisse identifiziert werden unter anderem die Studienfachwahl, persönliche Karriereplanung und die mangelnde Weiterbildung. So sei insbesondere der geringe Frauenanteil in MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften) auffällig, betonen die Experten. Andere Bereiche wie Gesundheits-, Geisteswissenschaften, Human-Medizin, Agrar-, Forst-, Ernährungswissenschaften/Veterinärmedizin sind nach den vorgelegten Zahlen aber von Frauen dominiert.

Soziale Selektion kritisiert

Beleuchtet werden im Report vor allem die Bildungschancen von Nichtakademikerkindern im Vergleich zu Akademikerkindern, beides in sich durchaus recht heterogene Einheiten. Hierzu weist der Report aus, wie hoch der Anteil dieser Gruppe (als Kohorte) auf verschiedenen Stufen des Bildungssystem ist. Im Ergebnis werden sich unterschiedlich stark verengende "Bildungs-Trichter" erkennbar: Von 100 Nichtakademikerkindern sind 21 Studienanfänger (Stand 2007 - 09), 15 Bachelorabsolventen (2012), 8 Masterabsolventen (2014) und 1 Promotionsabsolvent (2014). Von 100 Akademikerkindern fangen 74 ein Studium an, 63 sind Bachelorabsolventen, 45 Masterabsolventen, 10 schreiben eine Doktorarbeit.

Genannt werden für die "eingeschränkte Chancengerechtigkeit" verschiedene Gründe. Neben Leistungsunterschieden der Gruppen sind dies durch Sozialisationsprozesse geprägte "Selbstbilder und Selbstwahrnehmungen", finanzielle Rahmenbedingungen, ein "Informationsproblem", aber auch verschieden hohe Studien-Abbruchquoten. Als Fazit fordert der Report, "soziale (Selbst-)Selektion" sei zu "vermeiden".

Beispielsweise könne die Verbesserung der Möglichkeiten des Teilzeitstudiums in Masterstudiengängen als eine Form der "Ermöglichung eines Studiums mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten" ein geeigneter Ansatzpunkt sein, um die Neigung insbesondere von Nichtakademikerkindern, sich fortzubilden, zu fördern. Ebenso sei "eine generell stärkere Berücksichtigung der Diversität und der unterschiedlichen (beruflichen) Vorerfahrungen anzustreben". So mache zum Beispiel die Gruppe der über 30-jährigen Studierenden mittlerweile über 10 Prozent aus. Diese Gruppe habe häufiger bereits Kinder und Berufserfahrung vor dem Studium. Darüber hinaus könnte auch ein größeres Angebot berufsbegleitender Masterstudiengänge Studierende aus Nichtakademikerfamilien motivieren, nach dem Bachelor weiter zu studieren, weil sie sich nicht zwischen einem Studium oder einem sicheren Arbeitsplatz entscheiden müssen.

Zauberwort "Chancengerechtigkeit"

Die eingeklagte größere "Chancengerechtigkeit" wird im Report nicht im Detail konkretisiert. Sie wäre auf der theoretischen Ebene, möchte man meinen, optimal verwirklicht, wenn von jeweils 100 Erstklässlern aus akademischen und nichtakademischen Elternhäusern ein in etwa gleich hoher Anteil ein Studium absolvierte. Ein unverändertes Potenzial an Studienplätzen unterstellt, müsste dann allerdings ein größerer Anteil an Akademikerkindern nicht-akademische Berufslaufbahnen einschlagen, um sozusagen Plätze für die Gegengruppe frei zu machen.

Alternativ schiene es auch "fair", wenn von jeweils 100 Nichtakademikerkindern in den Grundschulen ein gleich hoher Prozentsatz an den Unis landete wie derzeit von 100 Akademikerkindern der ersten Klassen, momentan also 74. Dazu würden aber deutlich mehr Studienplätze benötigt. Nach diesem Modell würden dann drei Viertel aller Jugendlichen eines Jahrgangs ein Studium beginnen, über 60 Prozent einen Bachelorabschluss und 45 Prozent einen Mastertitel erwerben. Unter dem Strich stiege so der Akademisierungsgrad in den Jahrgängen, damit der Gesamtgesellschaft, auf längere Sicht an.

Eine Entwicklung, die Julian Nida-Rümelin, früherer sozialdemokratischer Kulturstaatsminister, 2013 in der F.A.Z. als "Akademisierungswahn" brandmarkte. Für ihn sei wichtig, "dass eine hochwertige Berufsausbildung weiter im dualen System erfolgt. Das kann aber nur funktionieren, wenn die Mehrzahl eines Jahrgangs weiter in die berufliche Lehre geht, nicht eine kleine Minderheit." Nida-Rümelins Denkansatz wurde in der Folge viel diskutiert, unter anderem auf dem 10. Hochschulforum Sylt 2016.

Auch im SciLogs-Wissenschaftsblog , in dem René Krempkow, Stabsstelle Qualitätsmanagement an der Humboldt-Universität Berlin, den Hochschul-Report vorstellt [2], fragt ein Kommentator, ob es nicht sein könne, "dass viel zu viele Leute aus Akademikerfamilien studieren, obwohl sie eigentlich in einer Ausbildung genauso gut oder besser aufgehoben wären?" Auch werden "dringend mehr Auszubildende gesucht. Warum sollte man noch mehr Leute an die Unis bringen wollen?"

Krempkow schließt nicht aus, dass ein Teil der Studenten aus Akademikerfamilien mit einer Ausbildung genauso gut oder besser zurechtkämen. Klar sei aber, dass die Förderung im familiären und schulischen Umfeld sehr viel ausmachen könne. Er stimme nicht zu, dass generell viel zu viele Leute studieren. Erstens sei es "erklärtes bildungspolitisches Ziel, allen, die die Zugangsvoraussetzungen erfüllen, grundsätzlich ein Studium zu ermöglichen". Zweitens "haben die Unternehmen viele Möglichkeiten, berufliche Ausbildungen attraktiver zu machen ... Wenn der Mangel wirklich weh tut und gar noch größer würde, werden berufliche Ausbildungen auch (wieder) deutlich attraktiver werden (müssen)".

So oder so ist der Titel des Hochschul-Bildungs-Reports "Höhere Chancen durch Höhere Bildung?" wohl zu Recht mit einem Fragezeichen versehen. Höhere Bildung, per se fraglos ein wertvolles Gut, setzt sich ja nur dann in höhere (Berufs-)Chancen um, wenn der Arbeitsmarkt entsprechend strukturiert ist, das heißt überhaupt genügend qualifizierte Job-Angebote bereithält. 1


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3940777

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.stifterverband.org/pressemitteilungen/2017_11_20_hochschul-bildungs-report
[2] https://scilogs.spektrum.de/wissenschaftssystem/herausforderung-bildungschancen/