Niederlande: Bauen unterhalb des Meeresspiegels
In der Provinz Zuid-Holland sollen 8.000 Wohneinheiten entstehen. Trotz Klimwandel 6,76 Meter unter dem Normalen Amsterdamer Pegel
Die Polkappen schmelzen, der Meeresspiegel steigt; und momentan haben es politische Entscheidungsträger größtenteils nicht eilig, den menschengemachten Klimawandel zu stoppen - aber die Niederlande bauen trotzig weiter ihren Keller aus. Ausgerechnet auf dem Zuidplaspolder bei Gouda soll am Reißbrett ein neues Dorf mit 8.000 Wohneinheiten, davon ein Drittel Sozialwohnungen entstehen. Den Beschluss unterzeichneten die Provinz Zuid-Holland und der Stadtrat der Gemeinde Zuidplas am 1. Juli.
Der Plan existierte schon Anfang des Jahrhunderts. Einige Wissenschaftler halten ihn allerdings für großen Käse, denn auf dem Zuidplaspolder liegt der tiefste Punkt in den Niederlanden, ja sogar in der gesamten EU. 6,76 Meter unter dem Normalen Amsterdamer Pegel (NAP). Da stellt sich natürlich die bange Frage, ob so weit unter dem Meeresspiegel nicht irgendwann der Blanke Hans an die Tür klopft? "Das ist hinsichtlich des Klimawandels unverantwortlich, das können wir nicht mehr trocken halten", twitterte Jan Rotmans, Professor für Nachhaltigkeit an der Erasmus Universität in Rotterdam, als der Plan in diesem Frühjahr konkret wurde.
Rotmans Rechnung ist einfach: Der Boden des Polders sinkt jedes Jahr um einen Zentimeter, während die Nordsee in den nächsten hundert Jahren um etwa einen Meter steigen könnte. So zumindest die Vorhersage vieler Klimatologen. "Dann ist man schnell bei neun Metern unter NAP", warnte Rotmans unlängst in einem Interview mit der Tageszeitung AD. "Um den Bereich trocken zu halten, muss man das ganze Wasser abpumpen. Das wird sehr teuer. Und je größer der Höhenunterschied, desto teurer wird es." Die Zukunftsvision auf der Homepage der Gemeinde Zuidplas verspricht hingegen eine schöne, neue Welt mit zufriedenen Menschen. Gummistiefel trägt auf den digital bearbeiteten Collagen niemand.
Milliarden-Schäden durch Klimawandel prognostiziert
"Die Niederlande sind als dicht bevölkertes Delta, anfällig für Überschwemmungen und Wetterextreme", heißt es in einem gemeinsamen Bericht der Provinzen, Gemeinden und der Unie van Waterschappen (Union der Wasserverbände) vom 18. Juni an den Innenausschuss der Zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament in Den Haag. Die Unie van Waterschappen bestehend aus 21 regionalen Wasserverbänden organisiert unter anderem den Hochwasserschutz. "Die Fehler von heute werden Generationen überdauern."
Der Schaden durch die Klimaveränderung könnte sich im Jahr 2050 auf bis zu 124 Milliarden Euro belaufen, rechnet der Bericht die Kosten hoch, die auf die Niederlande zukommen werden. Deshalb sei es absolut nötig, Häuser und Wohnungen nur an Orten zu bauen, die vor den Folgen des Treibhauseffekts langfristig geschützt sind. "Die Wasserverbände legen großen Wert auf eine Bestandsaufnahme der Standorte, an denen im Hinblick auf Klimawandel und Absenkung sicher gebaut werden kann."
Passende Baugrundstücke zu finden, ist gar nicht so einfach in einem Land, das zu einem Viertel unter dem Meeresspiegel liegt und zur Hälfte nicht mehr als einen Meter darüber. Ohne seine 3.000 Kilometer Deich würde das Land in Nullkommanichts volllaufen wie eine riesige Badewanne bei voll aufgedrehtem Wasserhahn. Das betrifft vor allem das Ballungsgebiet zwischen Den Haag, Amsterdam, Utrecht und Rotterdam, die sogenannte "Randstad". Dort liegt auch der Zuidplaspolder.
40 Prozent der etwas mehr als 17 Millionen Niederländer leben in der Randstad, einem der größten Verdichtungsräume in Europa. Die Region ist das wirtschaftliche Herz der Niederlande. Hier gibt es Arbeit, hier wird das Geld verdient. Das Problem: 80 Prozent der Randstad liegen unter dem Meeresspiegel. Zum Beispiel Flevoland, das als jüngste Provinz der Niederlanden seit 1986 zur Randstad zählt. Flevoland wurde fast vollständig aus der Nordsee gewonnen. Im Durchschnitt befindet sich die Provinz, in der 300.000 Menschen leben, fünf Meter unter dem NAP.
Aktuell fehlen 350.000 Wohnungen
Die Niederlande stecken in einer Zwickmühle. Wie in Deutschland herrscht Wohnungsnot. Aktuell fehlen rund 350.000 Wohnungen. Wer sich für eine Sozialwohnung bewirbt, kann von mehreren Jahren Wartezeit ausgehen. Und die Bevölkerung wächst weiter. "Bis 2050 müssen mindestens 1,4 Millionen Wohnungen zusätzlich gebaut werden", hat der Thinktank DenkWerk hochgerechnet. "Alleine mit städtischer Verdichtung ist das unmöglich", schreibt DenkWerk in einem im Januar 2020 veröffentlichten Bericht. 300 Quadratkilometer neues Bauland seien nötig.
"Wir finden, es gibt genug Platz, um in den Dörfern Extra-Wohnungen zu bauen", widerspricht Jan Baas vom Ortsverband der Sozialistischen Partei (SP) in Zuidplas beim öffentlich-rechtlichen Sender NPO. Auch Professor Rotmans favorisiert die Verdichtung. "Warum soll man Natur für den Wohnungsbau opfern? Löst das in den Dörfern selbst", sagte er im Interview mit AD. Die Maßnahme ist in den Dörfern nur sehr unpopulär, denn Verdichtung verändert den ländlichen Charakter.
Vor 30 Jahren kursierte das drastische Gedankenspiel, die Küstenlinie bis tief in den Osten nach Apeldoorn zu verlegen und die Gebiete, die man über Jahrhunderte der Nordsee abgetrotzt hatte, wieder preiszugeben. Davon ist inzwischen keine Rede mehr. "Natürlich werden wir die großen Städte im Westen der Niederlande nicht opfern", beruhigt Rotmans. "Was bereits vorhanden ist, muss man versuchen zu erhalten, aber nicht an einem so tiefen Punkt etwas Neues aufbauen."
Er schlägt vor, einige Gebiete teilweise wieder zu fluten, um den Druck, den die Nordsee auf das Land unter dem Meeresspiegel ausübt, zu verringern. Für Bauprojekte sind sie dann aber nicht verloren, die neuen Wohnviertel werden nur anders sein als heute. "Wir werden auf dem Wasser leben, wohnen, arbeiten und uns erholen", ist Rotmans Vision für die kommenden hundert Jahre.
Innovative niederländische Architekten und Städteplaner machen sich bereits daran, diese Vision mit schwimmende Häusern, die sich dem Wasserspiegel anpassen, umzusetzen. Die Waterbuurt (Wassernachbarschaft) in Amsterdam und das Waterrijk (Wasserreich) in Woerden sind bereits fertiggestellt und geben einen Vorgeschmack, wie es in großen Teilen der Niederlanden in Zukunft aussehen könnte. "Mach aus deinem Nachteil einen Vorteil", rät Rotmans.