Niederlande: Der kurze Sommer der Corona-Lockerungen ist aus
Neuansteckungen innerhalb einer Woche verachtfacht. Auf den Intensivstationen des Landes ist das noch nicht spürbar. Die Regierung hat aber die Maßnahmen wieder verschärft
Nur zwei Wochen dauerte die große Corona-Freiheit in den Niederlanden, jetzt zieht die Regierung die Zügel wieder massiv an. Der Grund: Die Ansteckungszahlen steigen keine drei Wochen nach den weitreichenden Öffnungen im Juni massiv. Am Sonntag zählte das Reichsinstitut für Gesundheit und Umwelt (RIVM) 9.398 neue Ansteckungen - achtmal so viele wie eine Woche zuvor.
Zum Vergleich: In Deutschland wurden zuletzt 324 Neuinfektionen registriert - bei viermal so vielen Einwohnern. Besonders jüngere Menschen bis 40 Jahre sind in den Niederlanden betroffen. Das RIVM hat dort dieselbe Funktion wie das Robert-Koch-Institut (RKI) in Deutschland.
"Die Zunahme der Ansteckungen verläuft schneller als wir eingeschätzt hatten", erklärte Ministerpräsident Mark Rutte am Freitag auf einer Pressekonferenz. Rutte ist momentan wegen laufender Koalitionsverhandlungen nur kommissarisch im Amt, die Regierungsbildung zieht sich hin. Am 18. Juni hatte er umfangreiche Lockerungen verkündet. "Alles deutete auf einen schönen Sommer hin. Darauf hoffen wir noch immer, aber es hat sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Aufgrund der Delta-Variante steigen die Zahlen sehr schnell."
Bislang habe die Explosion der Ansteckungen noch nicht die Intensivstationen erreicht, räumte Gesundheitsminister Hugo de Jonge auf derselben Pressekonferenz ein. Dort liegen im Moment so wenige Patienten wie seit September nicht mehr, aber die Regierung befürchtet, dass sich das trotz fortgeschrittener Impfkampagne in den höheren Altersgruppen schnell ändern könnte. Bei der ersten Welle vor einem Jahr mussten Intensivpatienten in Deutschland behandelt werden.
14 Tage lang war fast alles möglich
Seit Samstag gelten jedenfalls erneut verschärfte Regeln, nachdem 14 Tage lang fast alles möglich war. Die wohl am einschneidendste Maßnahme: Diskotheken und Nachtclubs müssen komplett schließen. Restaurants, Kneipen und Cafés müssen um 24 Uhr die Gäste hinausbitten und dürfen morgens um 6 Uhr wieder öffnen. Gäste müssen einen Sitzplatz haben und anderthalb Meter Abstand zueinander halten. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, bleiben kulturelle Veranstaltungen erlaubt, wie der staatlichen Internetseite Rijksoverheid zu entnehmen ist. Die Maßnahmen gelten vorerst bis einschließlich zum 13. August.
"Das ist fast ein Genickschuss", sagte Pieter de Kroon am Samstag gegenüber der Tageszeitung Het Parool. De Kroon ist Eigentümer des Chicago Social Club am geschäftigen Leidseplein in Amsterdam. "Du musst wieder zusehen, das Personal bei der Stange zu halten", klagt er. Nach den langen Wochen, in denen die Kneipen im Frühjahr schließen mussten, hatten fast alle Nachtclubs Probleme, genügend Angestellte zu finden, weil sich viele Ehemaligen in der Zwischenzeit andere Arbeit gesucht hatten. Die Tanzschuppen hätten alles getan, was die Politik von ihnen verlangt hätte, versicherte De Kroon. Er hätte sich mehr Vertrauen und einen längeren Atem der Politik gewünscht.
"Arbeiten im Horeca - jeden Tag ein kleines Fest", warb der Branchenverband Königliche Horeca Nederland um neue Mitarbeiter als im Juni die Gaststätten wieder öffnen durften, aber kein Personal fanden. Die Abkürzung Horeca steht in den Niederlanden für Hotels Restaurants und Cafés. Von den rund 450.000 Beschäftigten im Horeca haben sich fast ein Viertel nach einem anderen Job umgeschaut - viele fanden ihn in Pflegeeinrichtungen.
Jetzt schon die Notbremse zu ziehen, sei verfrüht, findet auch Rosanne Janmaat vom großen Festivalveranstalter ID&T aus Amsterdam. Die verschärften Maßnahmen verbieten mehrtägige Events und schreiben vor, dass bei eintägigen alle Besucher einen Sitzplatz haben müssen. ID&T will gegen die Maßnahme eine einstweilige Verfügung erwirken, der Antrag wurde schon am Freitag bei Gericht eingereicht, berichtete die Tageszeitung AD am Samstag unter Berufung auf die niederländische Nachrichtenagentur ANP.
Laut einem Bericht der Het Parool hat das Unternehmen in den letzten zwei Wochen an einem Feldversuch teilgenommen, um herauszufinden, wie Veranstaltungen sicher vonstattengehen können - darunter ein Marathonlauf in Enschede, ein Fußballspiel der niederländischen Nationalmannschaft in Amsterdam und ein Konzert in Den Haag. Von insgesamt 129.000 Teilnehmern, die vorab auf eine Infektion getestet worden waren, steckten sich 103 mit Covid-19 an. Janmaat ist deshalb der Meinung, es sei sicherer an einem Open-Air-Konzert teilzunehmen, als drinnen zu sitzen.
Einige Gaststätten in Amsterdam müssen aber auch so schließen, ganz unabhängig von der Rücknahme der Lockerungen, bemerkte Het Parool bei einem Rundgang durch Amsterdam. Die Betriebe können nicht weitermachen, weil sich ein Teil des Personals angesteckt hat und dann alle Kontaktpersonen in Quarantäne mussten. Im Horeca sind überwiegend junge Menschen beschäftigt - und die sind wie in Deutschland noch nicht vollständig geimpft.
In Enschede an der deutschen Grenze gibt es aber auch Verständnis für die aktuellen Maßnahmen der Regierung. Der Inzidenzwert lag dort am Wochenende bei 205,7 - einer der höchsten im Land. Sieben Tage zuvor hatte er noch bei 47,7 gelegen. "Die Regierung hat vor ein paar Wochen viel zu schnell beschlossen, alles wieder zu öffnen. Auf einmal von null auf hundert", sagten Bart und Tim am Samstagabend gegenüber Lokalzeitung Tubantia. "Jetzt müssen sie sehen, wie sie den Geist wieder in die Flasche bekommen." Als die Gaststätten im Amüsierviertel Oude Markt um Mitternacht schlossen, wollten Bart und Tim zu Hause mit ein paar Freunden noch ein wenig weiterfeiern, verrieten sie Tubantia.
"Wenn man die Zügel anzieht, muss man das sofort tun"
Gastwirtin Sanne Lammers hatte schon einige Tage vor dem Beschluss der Regierung die Maßnahmen aus eigener Initiative verschärft und nur noch vier Personen pro Tisch zugelassen. "Wir sahen, dass es bei den landesweiten Zahlen schiefgehen würde. Du willst als Betrieb nicht mit einem Brandherd assoziiert werden. Wir sind mit den Regeln, die jetzt gelten, zufrieden. Niemand hat Lust auf eine dritte Schließung", hofft Lammers einen neuen Lockdown zu vermeiden. Sie versteht allerdings nicht, warum die Regierung in Den Haag die verschärften Corona-Regeln bereits am Freitag bekannt gab, sie aber erst für Samstagabend in Kraft setzte. "Wenn man die Zügel anzieht, muss man das sofort tun. Damit verhindert man viele unnötige Ansteckungen", kritisiert Lammers.
Am Freitagabend war offenbar in den Kneipen in Enschede noch einmal bis tief in die Nacht die Hölle los. Noch ein letztes Mal Party bis in die Morgenstunden. Wer will ihnen ernsthaft einen Vorwurf machen? Monatelang waren die Tanztempel geschlossen, saßen die jungen Leute den Eltern praktisch auf dem Schoß. Andererseits muss sich niemand darüber wundern, dass jetzt die Ansteckungszahlen in die Höhe schießen.
Viele haben die Öffnung vom Juni weidlich ausgekostet und dabei alle Vorsicht fahren lassen. Vor den Eingängen der Nachtclubs und Diskotheken drängelten sich die Feestbeestjes (Feiertiere) schon in Warteschlangen ohne Mundschutz dicht an dicht. Die Terrassen der Kneipen waren rappelvoll. Viele Wirte zeigten zu allem Überfluss auf Leinwänden die Spiele der Fußballeuropameisterschaft, um mehr Kunden zu ködern. Die Regierung hatte mit ihrer rasanten Öffnungsstrategie das ganze Land in falscher Sicherheit gewogen. Nun ist der Katzenjammer groß.