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Niger-Krise: "Dass Afrika russisch wird"

"Russland in Afrika groß machen": Wagner-Chef Progoschin im Kämpfer-Werbe-Clip. Screenshot Video: Grey Zone, Telegram

Geschlossene Meinungsblöcke: Die Retter der Demokratie und die Bejubler der Putschisten. Die Retter verstehen die afrikanische Realität nicht und die anderen werden zu Unterstützern von Prigoschin?

"Hunde, die bellen, beißen nicht", behauptet das Sprichwort. Ginge es danach, könnte man vielleicht darauf bauen, dass die nunmehr seit Wochen angekündigte und auch in deutschen Medien vieldiskutierte militärische Intervention in der mittelafrikanischen Republik Niger nicht stattfindet.

Beim Sondergipfel der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft – französisch Cedeao, englisch Ecowas abgekürzt – zum Thema in Nigerias Bundeshauptstadt Abuja tat man sich jedenfalls alle Mühe, zwar nicht laut zu bellen, doch mit martialischen Gesten den Willen zum militärischen Eingreifen zu unterstreichen, Gruppenphoto in Uniform [1] inbegriffen.

Die Ecowas-Eingreiftruppe hält sich derzeit bereit, den Niger zu attackieren [2], "sobald der Befehl dazu erteilt wird".

Manche Kommentatoren halten eine solche Intervention, die auf einen verheerenden Regionalkrieg in Westafrika hinauslaufen könnte, unterdessen für unwahrscheinlich [3].

Doch wie soll man inhaltlich dazu stehen?

Dazu bestehen in der deutschen, wie auch der französischen, Öffentlichkeit mindestens zwei Meinungsblöcke mit geschlossenen Ansichten und Gedankengebäuden.

Auf der einen Seite wird ein mögliches kriegerisches Eingreifen in die Vorgänge im Niger als notwendig hingestellt oder begrüßt – sinngemäß: im Namen einer Rettung der Demokratie.

Von einem anderen Standpunkt aus wird der jüngste Putsch im Niger und dessen Ergebnisse, sowie der in westlichen Hauptstädten behauptete oder befürchtete Bündniswechsel in Richtung Russland bejubelt.

Das offizielle Narrativ: "Rettung der Demokratie"

Bürgerliche Leitmedien ebenso wie Regierungsstellen in Deutschland [4] oder öffentlich-rechtliche Medien [5] bleiben weitgehend einem Narrativ verbunden, bei dem die Rollen insofern klar und säuberlich verteilt sind, als – im Falle des Niger – der gestürzte Präsident für Freiheit und Demokratie, die Putschregierung für deren Bedrohung stehen:

Der Niger war bislang nicht nur für die Eindämmung der Migration ein wichtiger Partner für den Westen, sondern auch im Kampf gegen den Terrorismus. (…) Seine Regierung sei 2021 in demokratischen Wahlen an die Macht gekommen, schrieb Bazoum.

ZDF [6]

Man erkennt hier unschwer Elemente eines Herrschaftsdiskurses in westlichen Staaten, welcher bestimmt, wo die eigenen Verbündeten liegen. Man ist es bereits gewöhnt, hier misstrauisch zu werden, eingedenk der Erfahrungen mit Interventionen von Panama 1989 bis 2003 im Irak – höchst selten kam etwas Gutes bei ihnen heraus, wenngleich eine nähere Analyse der Ergebnisse in jedem Einzelfall erforderlich ist.

Offenkundig weist die Güte-Böse-Einteilung auch im Falle des Niger manifeste Schönheitsfehler auf. In einem der ärmsten Länder des Planeten – arm, weil durch die reichen Länder als billiges Rohstoffreservoir genutzt – war die Demokratie selbstverständlich eine unvollständige und gelenkte, auch wenn der nun gestürzte Staatspräsident Bazoum tatsächlich 2021 frei gewählt [7] wurde.

Doch die wirkliche Macht lag in Wirklichkeit weiterhin [8] in den Händen seines Amtsvorgängers Mahamadou Issoufou, der aufgrund verfassungsrechtlicher Beschränkungen nicht formal für eine neue Amtszeit kandidieren konnte.

Die Regierungspartei Bazoums und Issoufous, PNDS-Tarayya, kontrollierte die reibungslose Zusammenarbeit mit den dominierenden auswärtigen Mächten – damals eben Frankreich und die USA -; rund 300 ihrer Spitzenfunktionäre und -beamten [9] teilten die öffentlichen Reichtümer weitgehend unter sich auf.

Doch vor allem: Die neuen Machthaber im Niger erklärten kurz nach ihrem Putsch, vier bestehende militärische Kooperations- und Stationierungsabkommen mit Frankreich aufzukündigen, beginnend mit dem ältesten bestehenden bilateralen Abkommen, dem vom 19. Februar 1977. (Dieses löste ein erstes Militärabkommen von 1961, dem Jahr nach der Unabhängigkeit, ab.)

Das offizielle Frankreich reagierte darauf mit wirscher Ablehnung: Die neuen Regierenden seien dazu nicht legitimiert, man werde nur mit einer gewählten Exekutive über eine solche Aufkündigung bestehender Abkommen verhandeln.

Nur: Abgeschlossen worden war dasselbe Abkommen durch Frankreich mit einer Putschregierung. 1977 amtierte nämlich Staatspräsident Seyni Kountché [10], an der Macht von 1974 bis 1987 infolge eines Armeeputschs vom 15. April 1974. Vereinbarungen treffen darf man mit einer Putschregierung, eine solche darf diese jedoch nicht aufkündigen…? Man darf mit Fug und Recht von einem Ausweis politischer Heuchelei sprechen.

Unter dem Strich darf und muss man die Tatsache, dass Frankreich – das der Militärs und der Milliardäre, nicht das der Bevölkerung – derzeit in Niger eine manifeste politische Niederlage einfährt und seine Truppen von dort wohl abziehen muss, als solche explizit begrüßen.

Es handelt sich um eine verdiente historische Quittung. Und zugleich um eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung dafür, dass es besser wird. Wie die Chancen dafür wirklich stehen, hängt dann jedoch auch davon ab, wodurch die französische Dominanz abgelöst wird.

Die Jubelfraktion

Und hier kommt nun die Frage der Bewertung der aktuellen Vorgänge ins Spiel.

An dieser Stelle treffen wir auf eine Fraktion der Begeisterten: Ihnen zufolge befinden sich die Dinge am heutigen Tag auf einem mehr oder minder hervorragenden Weg, dank des Macht- und des außenpolitischen Bündniswechsels im Niger.

Man findet diesen Enthusiasmus etwa bei früher pro-sowjetisch ausgerichteten Linken, unter anderem im DKP-Spektrum [11] und bei der Tageszeitung junge Welt [12] sowie in Teilen der Friedensbewegung [13], darüber natürlich auch im Spektrum der Linkspartei.

Nicht damit gleichzusetzen, und klar davon zu differenzieren ist eine rechte, ja faschistische Jubelposition, die es ebenfalls gibt. Denn so einige offene Nazis und ungeschminkte [14] Geisterverwandte jubilieren ihrerseits. Die extreme Rechte ist bekanntlich in ihrer Position zu Russland und dessen Regime untereinander nicht einig, die AfD musste u.a. deswegen einen Bundesparteitag vorzeitig abbrechen [15].

An dieser Stelle geht es um den Putin-freundlichen Flügel, welcher in der völkischen Rechten derzeit klar in der Mehrheit zu sein scheint.

Er begrüßt den Machtwechsel im Niger überschwänglich [16]; meint damit jedoch nicht, dass ein Land wie dieses wirklich entkolonisiert werden sollte, sondern hauptsächlich, dass "Afrika russisch wird" [17] und damit, aus seiner Sicht, künftig vom Reich des Guten dominiert wird.

Aus davon klar zu unterscheidenden Gründen tritt eine, eher in geopolitischen Dimensionen denkenden, denn die inneren Widersprüche unterstreichende Linke mehr oder minder freudig für den derzeitigen innenpolitischen Prozess im Niger ein.

Dies tut sie nicht gänzlich ohne gute Argumente. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass die öffentliche Meinung im Niger zwar zum Teil skeptisch bleibt, jedoch den vollzogenen Machtwechsel jedenfalls eher begrüßt [18] denn ablehnt.

Auch unterstützen zivile Organisationen den Machtwechsel, wie es in einer gemeinsamen Erklärung mehrerer nigrischer Gewerkschaftsverbände zum Ausdruck kommt.

Dennoch ist Blauäugigkeit nicht angesagt.

"Frankreich raus, die USA bleiben, doch Russland kommt"

Zunächst einmal widerspiegelt die Militärregierung im Niger nicht eine Initiative jüngerer Offiziere in untergeordneten Positionen wie zuvor (zwischen 2020 und 2022) in Mali und in Burkina Faso, wo neben den früheren Staatspräsidenten auch die alte Generalität mit abgesetzt wurde, sondern wurde durch die obere Armeehierarchie durchgeführt.

Im Laufe des ersten Tages, des 26. Juli, schloss sich ihr auch der Generalstabschef Abdou Sidikou Issa [19] an. Insofern dürfte es in Niamey weit weniger zu einem Austausch der Eliten kommen als in Bamako oder Ouagadougou.

Die Armeeregierung kündigte übrigens soeben an, eine Übergangszeit von dreijähriger (Höchst)dauer [20] einzuhalten, bevor die Macht an Zivilisten übergehen soll.

In der Region hat es im Übrigen tatsächlich einen historischen Beispielfall für eine wirklich progressive Entwicklung infolge eines Militärputschs gegeben – unter Thomas Sankara [21] von 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 in Burkina Faso.

Doch ist beileibe nicht jeder putschende Offizier ein zweiter Sankara, weder von der Statur noch vom intellektuellen Profil, noch von den ihn unterstützenden sozialen und politischen Kräften her.

Vor allem dürfte die Strategie, die ehemals prosowjetische Linke auf den aktuellen Prozess im Niger infolge des absehbaren Bündniswechsels des Landes – Frankreich raus, die USA bleiben, doch Russland kommt – projizieren, im Hinblick auf einige Kernelemente einen Anachronismus darstellen.

Kapitalfehler

Aus ihrer Sicht handelt es sich um eine Fortsetzung oder Wiederholung der Allianz, die in früheren Zeiten, vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren, zwischen nationalen Befreiungsbewegungen in kolonisierten Ländern [22] der damals so genannten Dritten Welt und dem sowjetischen Block tatsächlich existierte, und damals zu wichtigen Verschiebungen in der internationalen Ordnung führte.

Doch das damalige Schema lässt sich kaum auf heute übertragen. Denn die UdSSR verfügte tatsächlich über ein anderes Wirtschaftssystem als die dominierenden kapitalistischen Länder. Am sowjetischen System gibt es im Nachhinein nichts zu beschönigen.

Sein Kapitalfehler bestand keineswegs in anderen ökonomischen Strukturen, sondern im totalen Mangel an Demokratie – doch ohne Eigeninitiative, ohne Kreativität "an der Basis" konnte die ökonomische Planung nicht funktionieren, sondern führte zur Ausarbeitung von zentral erstellten "Plänen" an gesellschaftlichen Realitäten und Bedürfnissen vorbei.

Und zur Herausbildung einer mafiösen Schattenökonomie, die über den Schwarzmarkt den unbefriedigten Bedarf abdeckte. Selbst ein später eher sowjetnostalgischer Autor hatte es in den frühen 1990er-Jahren verstanden, dies richtig herauszuarbeiten [23] und zu analysieren, mit dem damals heraufziehenden mafiösen Kapitalismus russischer Prägung habe sich im Prinzip der Schatten gegen den Rest durchgesetzt, die Schattenwirtschaft habe das übrige System abgeschüttelt.

Die Dritte Welt

Die UdSSR verfolgte gegenüber der so genannten Dritten Welt eine Strategie. In deren Zentrum standen der Aufbau einer Schwerindustrie, wofür etwa die noch existierende gigantische Aluminiumfabrik in Fria in Guinea steht, sowie eines bedeutenden Staatssektors.

Ferner sollten starke Staatsgewerkschaften aufgebaut werden – unabhängige Gewerkschaften standen nicht so sehr auf dem Programm -, die wiederum einer Einheits- oder dominierenden Partei ihre soziale Basis liefern sollten.

Ökonomische Interessen waren dabei der politischen Strategie untergeordnet, der sowjetische Block machte dabei im Prinzip keinen finanziellen Gewinn (und musste 1983 erstmals die Aufnahme eines beitrittsbegehrenden, mitgliedschaftswilligen Staats, Moçambique, in den gemeinsamen internationalen Wirtschaftsverbund Comecon ablehnen, da man dessen Überforderung befürchtete).

Die Strategie von Wagner

Doch heutige russische Protagonisten wie die Militärfirma Wagner verfolgen keine solche Strategie, sondern kommen eher, um sich in Afrika kurzfristig zu bereichern [24]. Enttäuschungen dürften vorprogrammiert sein.

Selbstverständlich: Wer in der Sahelzone und darüber hinaus dem Mann mit dem Vorschlaghammer [25] lieber vertrauen möchte, darf dies gerne tun.

Die Anderen werden eher abwarten und analysieren, was wirklich passiert. Und vielleicht sehen, auf welche sozialen und politischen Kräfte sich eine unabhängige Strategie stützten ließe, falls die Russlandbegeisterung abklingt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9278301

Links in diesem Artikel:
[1] https://guardian.ng/news/mali-niger-burkina-faso-guinea-absent-at-ecowas-defence-chiefs-meeting/
[2] https://www.bfmtv.com/international/afrique/coup-d-etat-au-niger-la-force-de-la-cedeao-est-prete-a-intervenir-des-que-l-ordre-en-sera-donne_AD-202308180604.html
[3] https://www.europe1.fr/international/niger-une-intervention-militaire-de-la-part-des-pays-de-la-cedeao-reste-peu-probable-4197428
[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/nach-putsch-in-niger-scholz-versichert-bazoum-solidaritaet-19063403.html
[5] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/niger-putsch-praesident-bazoum-bundeswehr-100.html
[6] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/niger-putsch-praesident-bazoum-bundeswehr-100.html
[7] https://jungle.world/artikel/2021/14/artilleriefeuer-vor-der-premiere
[8] https://www.iveris.eu/list/notes/570-niger__de_la_revolution_de_palais_a_lechiquier_mondial
[9] https://www.lefigaro.fr/international/a-niamey-la-jeunesse-tourne-le-dos-au-systeme-democratique-20230816
[10] https://fr.wikipedia.org/wiki/Gouvernement_Seyni_Kountch%C3%A9
[11] https://www.unsere-zeit.de/das-ende-westlicher-vorherrschaft-4782739/
[12] https://www.jungewelt.de/artikel/455845.kontinent-im-umbruch-neokolonialismus-%C3%BCberwinden.html
[13] https://cooptv.wordpress.com/2023/08/08/keine-von-den-usa-und-frankreich-unterstutzte-invasion-in-niger-workers-world-usa/
[14] https://www.compact-online.de/schlemmen-wie-im-deutschen-reich/
[15] https://www.tagesschau.de/inland/afd-parteitag-285.html
[16] https://www.compact-online.de/bravo-niger-trotzt-westlicher-aggression/
[17] https://www.youtube.com/watch?v=mf_e1f91tAc
[18] https://www.economist.com/middle-east-and-africa/2023/08/07/after-nigers-coup-the-drums-of-war-are-growing-louder
[19] https://www.lemonde.fr/international/article/2023/08/19/niger-la-france-a-ete-sollicitee-pour-liberer-le-president-mohamed-bazoum_6185898_3210.html
[20] https://www.jeuneafrique.com/1474487/politique/au-niger-les-militaires-promettent-une-transition-de-trois-ans-maximum/
[21] https://www.gemeinsam-fuer-afrika.de/thomas-sankara/
[22] https://www.editionsladecouverte.fr/tricontinentale-9782707174079
[23] https://www.goodreads.com/book/show/3510374-die-rache-der-sowjets
[24] https://www.lemonde.fr/afrique/article/2021/12/14/exactions-et-predations-la-methode-de-la-milice-wagner-en-afrique_6105992_3212.html
[25] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173413.russland-umkaempftes-gerechtes-russland.html