Noam Chomsky: Illegitime Herrschaft in den USA wird immer extremer

Seite 2: Das Verfassungsgericht in den USA ist eine reaktionäre Institution

Noam, in den letzten paar Jahrzehnten haben wir einen Anstieg illegitimer Machtausübung erlebt. Dabei denke ich nicht so sehr an den zunehmenden Einfluss transnationaler Konzerne auf demokratische Prozesse, sondern an die Entscheidungen einer Handvoll ernannter oder gewählter Personen, die das Leben von Millionen von Menschen beeinflussen. So wurden beispielsweise einige Mitglieder des Obersten Gerichtshofs von Präsidenten, die nicht einmal die Mehrheit der Stimmen bei Wahlen erringen konnten, auf Lebenszeit ernannt, und sie fällen oft Entscheidungen, die den Präferenzen der Mehrheit der Wähler zuwiderlaufen. Ein weiteres Beispiel sind die Mitglieder des US-Kongresses, die Gesetzesentwürfe zur Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlergehens der Bürger und zum Schutz der Umwelt blockieren und stattdessen lieber Gesetze einführen, die den Interessen mächtiger Lobbygruppen dienen. Können Sie uns etwas zu diesem höchst erbarmungswürdigen Zustand der politischen Landschaft in den USA sagen?

Noam Chomsky: Der Oberste Gerichtshof ist traditionell eine reaktionäre Institution. Es gibt manchmal eine Abweichungen davon, aber die ist selten. Die wichtigen Entscheidungen des sogenannten "Warren Court" (historische Phase, in der der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs Earl Warren hieß, Telepolis) haben die Freiheit und die Grundrechte erheblich gestärkt, aber nicht von sich aus. Es gab zivilgesellschaftliche Bewegungen, vor allem afroamerikanische, aber in gewissem Maße auch andere, die es möglich machten, dass die Entscheidungen des Warren Court umgesetzt wurden.

Der heutige reaktionäre "Roberts Court" (nach dem Vorsitzenden Richter John Roberts benannt, Telepolis) kehrt mit seinen nachdrücklichen Bemühungen, diese Abweichung rückgängig zu machen, zur Norm zurück. Das ist vor allem der Hinterhältigkeit und dem betrügerischen Vorgehen der führenden antidemokratischen Person bei den Republikanern zu verdanken, die keine echte politische Partei mehr ist: Mitch McConnell.

All dies ist bekannt oder sollte bekannt sein. Ich werde auf einiges davon zurückkommen.

Weniger bekannt ist, wie weit es zurückreicht. Ein Teil der Geschichte ist bekannt, aber nicht alles. Es ist bekannt, dass die enorme Macht des Obersten Gerichtshofs auf die Entscheidung von Richter John Marshall im Rechtsstreit Marbury gegen Madison zurückgeht, der die Justiz zum Schiedsrichter über die Bedeutung des Gesetzes machte, wobei seine Befugnisse weit über das hinausgingen, was in der Verfassung vorgesehen ist. Seine Ernennung durch John Adams (einer der Gründerväter und Präsidenten der Vereinigten Staaten, Telepolis) und seine eigenen unmittelbaren Ernennungen und Entscheidungen dienten dazu, die neu gewählte Regierung Jefferson zu untergraben.

Ähnlich wie bei McConnell.

Marshalls Stellungnahmen hatten großen Einfluss auf die Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung, wie sie heute ausgelegt wird. Sein Einfluss auf das Gericht ist singulär.

All das ist wiederum hinreichend bekannt.