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Noam Chomsky: Russlands Krieg in Ukraine humaner als US-Invasion in Irak

Noam Chomsky. Bild: Cancillería del Ecuador, CC BY-SA 2.0

Der US-Linguist stellt gegenüber britischer Zeitung einen provokanten Vergleich auf. Kiew sieht er von den USA abhängig. Hier die Hauptthesen des US-Regierungskritikers.

Der US-amerikanische Intellektuelle und Linguist Noam Chomsky [1] hat gegenüber der britischen Wochenzeitung New Statesman das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine als vergleichsweise zurückhaltend bezeichnet [2]. Chomsky stellte die russische Kriegsführung auf Nachfrage der US-Invasion im Irak 2003 entgegen.

Vergleiche man die beiden Invasionen, so hätten die Russen die ukrainische Hauptstadt Kiew ebenso unbewohnbar machen können, wie einst die US-Invasoren Bagdad, sagte er.

Der ukrainischen Regierung spricht Chomsky politisch eigenständige Entscheidungen ab, sie sei abhängig vom Willen der USA – ebenso wie Großbritannien.

Siehe auch: Wie Noam Chomsky Opfer eines Fake-News-Angriffs wurde [3]

Chomsky ist seit Langem für seine Kritik an der US-Außenpolitik bekannt. Bereits 1967 griff er in seinem Essay "Die Verantwortung der Intellektuellen" die geistige Elite der USA an, weil sie seiner Meinung nach der damaligen US-Regierung geholfen hat, die Verbrechen in Vietnam zu rechtfertigen.

Der Konflikt in der Ukraine unterscheidet sich grundlegend vom Krieg der USA in Vietnam vor gut einem halben Jahrhundert. Diesmal führen die USA keinen Krieg auf fremdem Territorium, sondern unterstützen ein souveränes Land, das von Russland angegriffen wird. Chomsky kritisiert aber nicht nur die US-Politik, sondern auch die ukrainische Regierung.

Gegenüber dem New Statesman wiederholte er die These, dass die USA und Großbritannien Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aus Eigeninteresse ablehnten. Dies sei besonders verwerflich, da die Ukraine durch den Krieg bereits jetzt schwer verwüstet sei.

"Die Ukraine ist kein freier Akteur, sie ist abhängig von dem, was die USA entscheiden", so Chomsky. Die USA würden Kiew nur mit Waffen beliefern, um Russland zu schwächen, meinte er.

"Für die USA ist das alles keine finanzielle Belastung. Für einen Bruchteil ihres kolossalen Militärbudgets sind sie nun in der Lage, die militärischen Kräfte ihres einzigen wirklichen militärischen Gegners ernsthaft zu schwächen", erklärte Chomsky.

Russland indes verhalte sich zurückhaltend und moderat. In einem Vergleich mit der US-Invasion im Irak 2003 stellte er fest, dass es in der Ukraine nicht zu einer großflächigen Zerstörung der gesamten Infrastruktur gekommen sei.

"Zweifellos könnte Russland das tun, wahrscheinlich mit konventionellen Waffen. Es könnte Kiew unbewohnbar machen, so wie die USA Bagdad unbewohnbar gemacht hat; auch könne die russische Armee wohl die Versorgungslinien in der Westukraine angreifen", so Chomsky. Auf die Zerstörung der Stromversorgung in den vergangenen Wochen und Monaten ging er nicht ein.

Die kontroverseste Einschätzung, die der New Statesman dann auch in die Überschrift hob, traf Chomsky auf eine Frage des Journalisten Ido Vock hin, von dem auch die Wortwahl stammt. Vock fragte seinen Interviewpartner im Zuge des Gesprächs über den russischen Angriffskrieg und ähnliche Völkerrechtsbrüche, ob er andeuten wolle, dass Russland in der Ukraine "humaner" kämpfe als die USA im Irak. Die genaue Textstelle in Vocks Text lautet:

Als ich ihn bat, zu erläutern, ob er damit andeuten wolle, dass Russland in der Ukraine humaner kämpfe als die USA im Irak, antwortete Chomsky: "Ich deute es nicht an, es ist offensichtlich".

Ido Vock

Zur Begründung dieser These verwies Chomsky unter anderem darauf, dass 2003 sogar die Vertreter der Vereinten Nationen aus dem Irak abgezogen werden mussten, weil der US-Angriff so heftig und verheerend gewesen sei.

Das ist die amerikanische und britische Art, Krieg zu führen. Schauen Sie sich die Opferzahlen an. Ich kenne nur die offiziellen Zahlen, und die offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen besagen, dass es in der Ukraine etwa 8.000 zivile Opfer gegeben hat. Wie viele zivile Opfer gab es, als die USA und Großbritannien in den Irak einmarschierten?

Noam Chomsky

Britischer Journalist kritisiert Chomsky nach Gespräch

Ein weiteres Indiz für Russlands Zurückhaltung sei der Umstand, dass seit dem Angriff der russischen Armee am 24. Februar 2022 wiederholt ausländische Vertreter in Kiew zu Gast gewesen seien.

"Als die USA und Großbritannien Bagdad in Schutt und Asche legten, reisten da irgendwelche ausländischen Führer nach Bagdad? Nein, denn wenn die USA und Großbritannien in den Krieg ziehen, gehen sie ihnen an die Gurgel. Sie zerstören alles: Kommunikation, Transport, Energie, 'shock and awe' – alles, was die Gesellschaft am Laufen hält.", so Chomsky.

Auf die Frage, wie eine mögliche Lösung für den Krieg in der Ukraine aussehen könnte, antwortete Chomsky, dass die Ukraine zunächst auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten müsse:

Das ist eine rote Linie, auf der jeder russische Führer bestanden hat, vom ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin bis zum ehemaligen sowjetischen Führer Michail Gorbatschow. Die Ukraine erhält den Status von Österreich während des Kalten Krieges oder von Mexiko heute. Mexiko kann nicht einem Militärbündnis beitreten, das den USA feindlich gesinnt ist. Das ist zwar nicht vertraglich geregelt, aber es ist ganz klar.

Noam Chomsky

Eine weitere geopolitische Konfliktquelle seien die Spannungen zwischen den USA und China: "So wie Washington Russland mit der Nato-Erweiterung provoziert hat, so provoziert es auch China ganz offen in der Taiwan-Frage".

Obwohl die chinesische Führung "nicht nett" sei und im Südchinesischen Meer gegen internationales Recht verstoße, kämen Eskalationsprognosen für einen Krieg um Taiwan "nur aus dem Westen".

Der britische Journalist Ido Vock, der das Interview mit Chomsky führte, stellte einige seiner Thesen infrage. Die Schätzungen über die zivilen Opfer der Irak-Invasion gingen etwa weit auseinander. Eine Zählung des Irak Body Count Project (IBC), das als eine der umfassendsten Datenbanken über Todesfälle im Irakkrieg gilt, schätzt die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer in den 20 Jahren seit der Invasion 2003 auf 186.000 bis 210.000.

Fast 25.000 dieser Todesfälle sind direkt auf die von den USA geführte Koalition und ihre irakischen Verbündeten zurückzuführen. Zehntausende weitere gehen laut IBC auf das Konto von regierungsfeindlichen Aufständischen, einschließlich des Islamischen Staats. Die Verantwortung für mehr als 100.000 zivile Todesopfer kann nicht eindeutig zugeordnet werden.

Ido Vock

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit Beginn der russischen Invasion vor 14 Monaten 8.490 Tote und 14.244 Verletzte in der Ukraine gezählt. Die UN-Behörde "glaubt jedoch, dass die tatsächlichen Zahlen viel höher sind", da es nur wenige Daten aus Gebieten mit vielen zivilen Opfern wie der Stadt Mariupol im Süden gebe.

Manchmal führe Chomskys ideologische Fixierung dazu, dass er Fakten ignoriere, die seiner Darstellung widersprechen könnten, so Vock – dessen Angaben die Grundthese Chomskys zu den Opferbilanzen allerdings nicht widerlegten.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/thema/Noam-Chomsky
[2] https://archive.ph/2MTQN#selection-1097.0-1101.126
[3] https://www.heise.de/tp/features/Wie-Noam-Chomsky-Opfer-eines-Fake-News-Angriffs-wurde-9154375.html